Alle Jahre wieder erheben sich um diese Jahreszeit Stimmen, die gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes protestieren, so z.B. Papst Benedikt an Weihnachten 2011 (http://www.welt.de/politik/ausland/article13783893/Papst-kritisiert-Kommerzialisierung-von-Weihnachten.html), oder der orthodoxe Patriarch Kyrill zum orthodoxen Weihnachtsfest 2014 (http://de.ria.ru/society/20140107/267606077.html), oder der Volkskundler Hartmut Heller (http://www.sueddeutsche.de/panorama/weihnachten-der-kommerz-zerstoert-die-vorfreude-1.670559). Diese Kritik, und das allein sollte schon stutzig machen, geht einher mit der Romantisierung der "guten alten Zeit", in der das Weihnachtsfest angeblich vorrangig der Besinnlichkeit oder der Religion diente. Unklar ist aber, wann diese Zeit war: vor einigen Jahrzehnten oder im vorletzten Jahrhundert? Sicher, man kann diese Kritik als bloßen Kulturpessimismus abtun, aber sie ist deswegen interessant, weil sie die Frage nach dem Beginn der modernen Konsumgesellschaft aufwirft. So betont beispielsweise Sophie Jackson in ihrem Buch über das mittelalterliche Weihnachtsfest (The Medieval Christmas, New York: The History Press 2013), dass im Mittelalter das Weihnachtsfest ganz ähnlich gefeiert wurde wie heute: man tauschte Geschenke aus, sang Weihnachtslieder, aß ein besonderes Festessen, dekorierte das Haus etc. Heißt das in der Konsequenz, dass das kommerzialisierte Weihnachtsfest und mit ihm die moderne Konsumgesellschaft bereits im Mittelalter angelegt war?
Die Frage verweist natürlich auf die Rolle der Geschenke zu Weihnachten. Hierauf wird zurückzukommen sein. Aber zunächst lässt sich die Frage stellen, wie kommerziell bedeutsam unser Weihnachtsfest überhaupt ist. Sicher, manche Waren (v.a. Spielwaren) werden hauptsächlich zur Weihnachtszeit gekauft. Aber der Anteil des Weihnachtsgeschäfts (definiert als Anteil des Umsatzes in den Monaten November und Dezember am Jahresumsatz) liegt für den gesamten Einzelhandel bei ca. 18 % (https://www.destatis.de/DE/Startseite.html?nsc=true&https=1). Das ist nur wenig mehr als ein Sechstel (16,7 %), der Anteil, der bei einer Gleichverteilung der Umsätze im Jahresverlauf zu erwarten wäre. Insofern wirken Behauptungen, das Weihnachtsfest sei der Motor der Konsumgesellschaft (oder ähnliches) doch ein wenig übertrieben.
Die historisch interessantere Frage ist aber die nach der Entwicklung des Weihnachtsfestes. Unbestritten ist, dass der Austausch von Geschenken bereits im Mittelalter dazu gehörte, wenn auch eher zum Nikolausfest am 6. Dezember. Allerdings ist die Frage, um was für Geschenke es sich handelte und ob sie einen so zentralen Stellenwert inne hatten wie heute. In der Tat argumentiert z.B. William Waits, Geschenke (in den USA) seien vor 1880 selbst gemacht gewesen und nicht gekauft. Andere Historiker datieren den Wandel etwas eher, beispielsweise auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (Stephen Nissenbaum). Sicher ist dagegen, dass es schon Mitte der 19. Jahrhunderts eine Kritik am angeblich zu kommerziellen Charakter von Weihnachten gab. Häufig wird behauptet, Geschenke vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, oder sogar noch später, hätten sich im Wesentlichen auf Naturalien beschränkt, aber das ist wenig plausibel, da die (vorindustrielle) Spielwarenproduktion im 18. Jahrhundert einen großen Aufschwung nahm. Es wäre verwunderlich, wenn diese Spielwaren nicht auch als Weihnachtsgeschenke verwendet worden wären.
Eine interessante Quelle, die Aufschluss über Weihnachten vor der Geburt der modernen Konsumgesellschaft im 18. Jahrhundert gibt, ist ein Buch von Johannes Praetorius mit dem Titel "Saturnalia" oder "Weihnachts-Fratzen" von 1663 (https://books.google.de/books?id=UOVOAAAAcAAJ&printsec=frontcover&dq=johannes+praetorius+saturnalia&hl=de&sa=X&ei=caGMVM6YE4T7UqLCgZgK&ved=0CDAQ6AEwAA#v=onepage&q&f=false). Dort kritisiert der Autor die 50 populärsten Weihnachts-Irrtümer seiner Zeit, u.a. die Auffassung, die Ruten zu Weihnachten seien Spielwaren und Geschenke für Kinder. Hier wird einerseits deutlich, dass das Schenken von Spielsachen nichts Außergewöhnliches war. Andererseits jedoch beschäftigt sich der größte Teil des Buches mit anderen Fragen, nämlich v.a. mit populärem Aberglauben. Durch viele verschiedene Rituale versuchten die Mitteleuropäer der damaligen Zeit, an Weihnachten etwas über die Zukunft, sei es die nähere oder die fernere, herauszufinden. Dieser Aspekt ist bei uns fast völlig verloren gegangen, mit Ausnahme des Bleigießens zu Silvester.
So gesehen spricht vieles für die Hypothese, dass das moderne Weihnachten ein säkulares Fest ist, in dem der Konsum (durch den Austausch von Geschenken oder durch aufwendiges Festessen) im Vordergrund steht. Aber der Konsum tritt weniger an die Stelle der Religion als an die des Aberglaubens. Weihnachten hatte lange Zeit auch eine "dunkle" Seite, die heute weitgehend vergessen ist. Der Weihnachtsmann (oder Nikolaus oder Christkind oder Haus-Christ) brachte nicht nur Geschenke, sondern auch Ruten und bestrafte die unartigen Kinder. Und in manchen Familien wurden mit Hilfe von Salzhäufchen versucht herauszufinden, welches Familienmitglied im nächsten Jahr sterben würde. Diese Seite wurde seit der Aufklärung bekämpft, und das Ergebnis war eine weit gehende Reduktion des Festes auf den Austausch von Geschenken. Wer das bedauert, sollte sich bewusst sein, dass das traditionelle Weihnachten einer ganz anderen, mit Magie erfüllten Lebenswelt angehörte, die heute kaum zu reproduzieren ist. Eine interessante Untersuchung zur Sicht der Konmsumenten auf Weihnachten findet sich übrigens hier: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cb.40/abstract;jsessionid=06FF18C1563AE6C1C02D3B31F58A53ED.f02t04.
Samstag, 13. Dezember 2014
Mittwoch, 9. Juli 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Umweltschäden und Umweltbewegung
Die Umweltgeschichte ist eine noch junge Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur (genauer: Mensch und außermenschlicher Natur) befasst. In Überblicksdarstellungen zur Geschichte bestimmter Epochen wird sie leider häufig übergangen. Dabei ist das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern bisweilen eine von Leben und Tod. Der Mensch gestaltet zwar in hohem Maße seine eigene Umwelt. Das bringt aber immer wieder unvorhergesehene Folgeprobleme mit sich, die zu ignorieren sich langfristig niemand leisten kann.
Hinzu kommt, dass die 50er und 60er Jahre in Europa eine besondere Epoche der Umweltgeschichte waren. Zwar waren Umweltbelastungen im politischen Diskurs noch kaum ein Thema, und die moderne Umweltbewegung entsteht (in Europa) erst in den 70er Jahren. Aber die Grundlage hierfür schufen die teils massiven Umweltbelastungen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Besonders die 50er Jahre gelten in der Umweltgeschichte als Einschnitt: Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister spricht vom "1950er-Syndrom". Insbesondere der Energieverbrauch, aber auch der Verbrauch von Ressourcen im Allgemeinen, stieg in dieser Zeit massiv an. Nicht zuletzt die durchgreifende Modernisierung der Landwirtschaft sorgte dafür, dass sich die Landschaft in Westeuropa nach Meinung mancher Umwelthistoriker seit 1950 stärker veränderte als in den tausend Jahren zuvor.
Pfister führt diese Zäsur auf das Vorhandensein billiger fossiler Brennstoffe (Kohle und zunehmend Öl) in dieser Zeit vor dem ersten Ölpreisschock zurück. Energie war sicher ein wichtiger Faktor, aber er war nicht allein entscheidend. Vielmehr waren die Umweltprobleme die logische Folge des Wirtschaftswachstums und Massenkonsums in einer Zeit, in der man sich über ökologische Folgeprobleme noch nicht allzu viele Gedanken machte. Das soll im Folgenden an ein paar Beispielen demonstriert werden.
Hinsichtlich der Luftverschmutzung ist es wichtig zu wissen, dass der Wirtschaftsaufschwung der 50er und 60er Jahre energietechnisch auf fossilen Brennstoffen beruhte. Vor allem die 50er Jahre sahen noch einmal eine Renaissance der Kohle, auch wenn die Höchstwerte der Kohlenförderung in Großbritannien nicht mehr erreicht wurden.
Um 1960 wurde die Kohle mehr und mehr vom Öl als Primärenergieträger abgelöst. Der Ruhrbergbau geriet nach rascher Expansion nach dem Krieg ca. 1957/58 in eine schwere Strukturkrise ("Zechensterben"), die im Prinzip bis heute anhält. In der Tat war Öl bis zu den Ölpreisschocks der 70er Jahre ein billiger Rohstoff. Investitionen in verbrauchsparende Innovationen rentierten sich unter diesen Verhältnissen kaum.
Die Kohlenfeuerung führte in Großbritannien zu einer der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, nämlich dem großen Smog von London im Dezember 1952. London war zwar eine Industriestadt, aber die Hauptursache für den Smog war der Hausbrand. Erst das Luftreinhaltegesetz von 1956 (Clean Air Act) sorgte durch das Verbot der Kohlefeuerung in bestimmten Zonen für eine Umstellung auf Öl (oder Elektrizität). Im Dezember 1952 war die Londoner Luft so schlecht, dass man teilweise die Hand kaum vor den Augen sehen konnte. Es wird geschätzt, dass der Smog (aufgrund des hohen SO2-Gehaltes) ca. 4.000 Todesopfer forderte.
Hier eine interessante Website zum Weiterlesen vom britischen Wetteramt:
http://www.metoffice.gov.uk/education/teens/case-studies/great-smog
Die Luftqualität in den Ballungsräumen verbesserte sich seit den 60er Jahren stetig. Das lag nicht nur an der Umstellung von Kohle auf Öl, sondern auch daran, dass die Industrie mehr und mehr von den Stadtzentren in die Randgebiete verlagert wurde. Wirksame Begrenzungen der Emissionen gab es freilich kaum, vielmehr setzte man bis in die 80er Jahre auf eine Politik der hohen Schornsteine. So sollten die Schadstoffe besser verteilt werden. Es dauerte lange, bis sich das Prinzip der Vermeidung (statt Verteilung) von schädlichen Emissionen durchsetzen sollte.
Eine weitere Entwicklung in den 50er und 60er Jahren, die gravierende ökologische Konsequenzen hatte, war die Modernisierung der Landwirtschaft. Die Flächenerträge stiegen sprunghaft an, und selbst ein Industrielnd wie Großbritannien wurde von einem Importeur von Agrarerzeugnissen zu einem Exporteur. Möglich war das durch verschiedene Entwicklungen: die Flurbereinigung, die Mechanisierung der Landwirtschaft v.a. durch den Einsatz von Traktoren, die massenhafte Anwendung von Kunstdünger und Pestiziden. Die positive Wirkung von Kunstdünger war zwar schon im 19. Jahrhundert bekannt. Lange Zeit war es aber kostengünstiger, natürlichen Dünger aus Übersee zu importieren (v.a. Guano aus Peru).Erst die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens (1909) zur Ammoniaksynthese löste das Problem, wie der in der Luft vorhandene Stickstoff dem Kunstdünger beigegeben werden kann.
Wie man in der Grafik erkennen kann, stieg der Düngemitteleinsatz bis in die 70er Jahre hinein an, stagnierte dann auf hohem Niveau und fiel später wieder ab. Ein Grund für die rückläufige Tendenz war die Erkenntnis, dass mehr Düngemittel nicht unbedingt förderlich für den Ertrag sind, sondern ab einer gewissen Grenze sogar kontraproduktiv sein können. Außerdem war der Düngemitteleinsatz in Europa (und besonders in Deutschland) höher als beispielsweise in den USA oder der UdSSR, was damit zusammen hängt, dass in den beiden letztgenannten Ländern die Betriebsflächen größer waren, so dass hier die Mechanisierung eine wichtigere Rolle spielte, während die Agrarpolitik in Europa lange Zeit am Idealbild des bäuerlichen Kleinbetriebes festhielt.
Das Problem an der Verwendung des Kunstdüngers ist, dass nur ca. die Hälfte davon tatsächlich dort verbleibt, wo er wirken soll, nämlich im Boden. Die andere Hälfte wird ausgewaschen und landet in Gewässern, in Flüssen, Seen und Meeren. Dort führt er zur Überdüngung und Eutrophierung. Im Extremfall kann in dem betroffenen Gewässer (v.a.in Seen, in denen kein Wasseraustausch stattfindet) alles Leben durch Sauerstoffmangel aussterben. In der Regel weist eine verstärkte Algenblüte auf Eutrophierung hin. Eine solche Algenblüte trat beispielsweise 1969 (und später immer wieder) in der nördlichen Adria auf.
Eutrophierung war aber nicht das einzige Problem. Die Mechanisierung führte zur Bodenverdichtung, welche tendenziell Bodenerosion begünstigte. Die Flurbereinigung führte zur Vernichtung von Lebensraum vieler Arten. Insektizide wie DDT reicherten sich in der Nahrungskette an und gefährdeten die Tierwelt sowie letztlich auch den Menschen, der am Ende der Nahrungskette steht. Diesen Zusammenhang decke Rachel Carson 1962 in ihrem Buch "The Silent Spring" (Der stumme Frühling) auf und bewirkte damit eine große Debatte über Insektizide. In den USA und den meisten Ländern Westeuropas (nicht aber Osteuropas und der "Dritten Welt") wurde die Verwendung von DDT in den 70er Jahren verboten.
Ein weiteres Umweltproblem, das erst mit dem modernen Massenkonsum entstand, war das des PKW-Verkehrs. Das Auto ist dabei nicht nur Verursacher von Luftverschmutzung, sondern Teil eines komplexen sozio-technischen Systems, das Infrastruktur wie Autobahnen, Straßen und Tankstellen umfasst, aber auch die Stadt- und Regionalplanung stark beeinflusst hat. Die "autogerechte Stadt" wurde seit Ende der 50er Jahre allen Ernstes zum stadtplanerischen Leitbild erhoben. Das Auto hat einen enormen Flächenverbrauch und die Produktion verschlingt große Ressourcen. Für die Luftverschmutzung in Ballungszentren ist mittlerweile das Auto, nicht die Industrie oder der Hausbrand, der bestimmende Faktor geworden. Für den Klimawandel spielt der CO2-Ausstoß durch PKW eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Vergleich verschiedener Verkehrsträger schneidet nur das Flugzeug schlechter ab als der PKW, wie die folgende Grafik illustriert.
Hinzu kommt, dass die 50er und 60er Jahre in Europa eine besondere Epoche der Umweltgeschichte waren. Zwar waren Umweltbelastungen im politischen Diskurs noch kaum ein Thema, und die moderne Umweltbewegung entsteht (in Europa) erst in den 70er Jahren. Aber die Grundlage hierfür schufen die teils massiven Umweltbelastungen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Besonders die 50er Jahre gelten in der Umweltgeschichte als Einschnitt: Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister spricht vom "1950er-Syndrom". Insbesondere der Energieverbrauch, aber auch der Verbrauch von Ressourcen im Allgemeinen, stieg in dieser Zeit massiv an. Nicht zuletzt die durchgreifende Modernisierung der Landwirtschaft sorgte dafür, dass sich die Landschaft in Westeuropa nach Meinung mancher Umwelthistoriker seit 1950 stärker veränderte als in den tausend Jahren zuvor.
Pfister führt diese Zäsur auf das Vorhandensein billiger fossiler Brennstoffe (Kohle und zunehmend Öl) in dieser Zeit vor dem ersten Ölpreisschock zurück. Energie war sicher ein wichtiger Faktor, aber er war nicht allein entscheidend. Vielmehr waren die Umweltprobleme die logische Folge des Wirtschaftswachstums und Massenkonsums in einer Zeit, in der man sich über ökologische Folgeprobleme noch nicht allzu viele Gedanken machte. Das soll im Folgenden an ein paar Beispielen demonstriert werden.
Hinsichtlich der Luftverschmutzung ist es wichtig zu wissen, dass der Wirtschaftsaufschwung der 50er und 60er Jahre energietechnisch auf fossilen Brennstoffen beruhte. Vor allem die 50er Jahre sahen noch einmal eine Renaissance der Kohle, auch wenn die Höchstwerte der Kohlenförderung in Großbritannien nicht mehr erreicht wurden.
Um 1960 wurde die Kohle mehr und mehr vom Öl als Primärenergieträger abgelöst. Der Ruhrbergbau geriet nach rascher Expansion nach dem Krieg ca. 1957/58 in eine schwere Strukturkrise ("Zechensterben"), die im Prinzip bis heute anhält. In der Tat war Öl bis zu den Ölpreisschocks der 70er Jahre ein billiger Rohstoff. Investitionen in verbrauchsparende Innovationen rentierten sich unter diesen Verhältnissen kaum.
Quelle: chartsbin.com
Die Kohlenfeuerung führte in Großbritannien zu einer der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, nämlich dem großen Smog von London im Dezember 1952. London war zwar eine Industriestadt, aber die Hauptursache für den Smog war der Hausbrand. Erst das Luftreinhaltegesetz von 1956 (Clean Air Act) sorgte durch das Verbot der Kohlefeuerung in bestimmten Zonen für eine Umstellung auf Öl (oder Elektrizität). Im Dezember 1952 war die Londoner Luft so schlecht, dass man teilweise die Hand kaum vor den Augen sehen konnte. Es wird geschätzt, dass der Smog (aufgrund des hohen SO2-Gehaltes) ca. 4.000 Todesopfer forderte.
Hier eine interessante Website zum Weiterlesen vom britischen Wetteramt:
http://www.metoffice.gov.uk/education/teens/case-studies/great-smog
Die Luftqualität in den Ballungsräumen verbesserte sich seit den 60er Jahren stetig. Das lag nicht nur an der Umstellung von Kohle auf Öl, sondern auch daran, dass die Industrie mehr und mehr von den Stadtzentren in die Randgebiete verlagert wurde. Wirksame Begrenzungen der Emissionen gab es freilich kaum, vielmehr setzte man bis in die 80er Jahre auf eine Politik der hohen Schornsteine. So sollten die Schadstoffe besser verteilt werden. Es dauerte lange, bis sich das Prinzip der Vermeidung (statt Verteilung) von schädlichen Emissionen durchsetzen sollte.
Eine weitere Entwicklung in den 50er und 60er Jahren, die gravierende ökologische Konsequenzen hatte, war die Modernisierung der Landwirtschaft. Die Flächenerträge stiegen sprunghaft an, und selbst ein Industrielnd wie Großbritannien wurde von einem Importeur von Agrarerzeugnissen zu einem Exporteur. Möglich war das durch verschiedene Entwicklungen: die Flurbereinigung, die Mechanisierung der Landwirtschaft v.a. durch den Einsatz von Traktoren, die massenhafte Anwendung von Kunstdünger und Pestiziden. Die positive Wirkung von Kunstdünger war zwar schon im 19. Jahrhundert bekannt. Lange Zeit war es aber kostengünstiger, natürlichen Dünger aus Übersee zu importieren (v.a. Guano aus Peru).Erst die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens (1909) zur Ammoniaksynthese löste das Problem, wie der in der Luft vorhandene Stickstoff dem Kunstdünger beigegeben werden kann.
Wie man in der Grafik erkennen kann, stieg der Düngemitteleinsatz bis in die 70er Jahre hinein an, stagnierte dann auf hohem Niveau und fiel später wieder ab. Ein Grund für die rückläufige Tendenz war die Erkenntnis, dass mehr Düngemittel nicht unbedingt förderlich für den Ertrag sind, sondern ab einer gewissen Grenze sogar kontraproduktiv sein können. Außerdem war der Düngemitteleinsatz in Europa (und besonders in Deutschland) höher als beispielsweise in den USA oder der UdSSR, was damit zusammen hängt, dass in den beiden letztgenannten Ländern die Betriebsflächen größer waren, so dass hier die Mechanisierung eine wichtigere Rolle spielte, während die Agrarpolitik in Europa lange Zeit am Idealbild des bäuerlichen Kleinbetriebes festhielt.
Das Problem an der Verwendung des Kunstdüngers ist, dass nur ca. die Hälfte davon tatsächlich dort verbleibt, wo er wirken soll, nämlich im Boden. Die andere Hälfte wird ausgewaschen und landet in Gewässern, in Flüssen, Seen und Meeren. Dort führt er zur Überdüngung und Eutrophierung. Im Extremfall kann in dem betroffenen Gewässer (v.a.in Seen, in denen kein Wasseraustausch stattfindet) alles Leben durch Sauerstoffmangel aussterben. In der Regel weist eine verstärkte Algenblüte auf Eutrophierung hin. Eine solche Algenblüte trat beispielsweise 1969 (und später immer wieder) in der nördlichen Adria auf.
Eutrophierung war aber nicht das einzige Problem. Die Mechanisierung führte zur Bodenverdichtung, welche tendenziell Bodenerosion begünstigte. Die Flurbereinigung führte zur Vernichtung von Lebensraum vieler Arten. Insektizide wie DDT reicherten sich in der Nahrungskette an und gefährdeten die Tierwelt sowie letztlich auch den Menschen, der am Ende der Nahrungskette steht. Diesen Zusammenhang decke Rachel Carson 1962 in ihrem Buch "The Silent Spring" (Der stumme Frühling) auf und bewirkte damit eine große Debatte über Insektizide. In den USA und den meisten Ländern Westeuropas (nicht aber Osteuropas und der "Dritten Welt") wurde die Verwendung von DDT in den 70er Jahren verboten.
Ein weiteres Umweltproblem, das erst mit dem modernen Massenkonsum entstand, war das des PKW-Verkehrs. Das Auto ist dabei nicht nur Verursacher von Luftverschmutzung, sondern Teil eines komplexen sozio-technischen Systems, das Infrastruktur wie Autobahnen, Straßen und Tankstellen umfasst, aber auch die Stadt- und Regionalplanung stark beeinflusst hat. Die "autogerechte Stadt" wurde seit Ende der 50er Jahre allen Ernstes zum stadtplanerischen Leitbild erhoben. Das Auto hat einen enormen Flächenverbrauch und die Produktion verschlingt große Ressourcen. Für die Luftverschmutzung in Ballungszentren ist mittlerweile das Auto, nicht die Industrie oder der Hausbrand, der bestimmende Faktor geworden. Für den Klimawandel spielt der CO2-Ausstoß durch PKW eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Vergleich verschiedener Verkehrsträger schneidet nur das Flugzeug schlechter ab als der PKW, wie die folgende Grafik illustriert.
Quelle: Umweltbundesamt
Man muss zusätzlich in Rechnung stellen, dass die Autos in den 50er und 60er Jahren wesentlich weniger umweltfreundlich waren als heute. So war 1923 in den USA verbleites Benzin auf den Markt gekommen, das half, das Klopfen des Motors zu verhindern. Verbleites Benzin verbreitete sich daraufhin schnell auch außerhalb der USA und vergiftete die Umwelt mit Blei. Erst als in den 70er Jahren erhöhte Bleiwerte im Blut vieler Menschen festgestellt wurden, setzte ein Umdenken ein. In den USA setzte sich bleifreies Benzin seit den späten 70er Jahren durch, in Westeuropa in den 80ern.
Eine moderne Umweltbewegung existierte in Westeuropa in dieser Zeit noch nicht. Allerdings hatte schon um 1900 ein traditioneller Natur- und Landschaftsschutz vor allem in Deutschland Einzug gehalten. Inspiriert war er von der Idee der schützenswerten "Naturdenkmäler" des Botanikers Hugo Conwentz. Hier spielten ästhetische Kriterien nicht selten eine wichtige Rolle. Der moderne Umweltschutz verdankt sich hingegen der Ökologie, einem Teilgebiet der Biologie, das die komplexen Zusammenhänge zwischen biologischen Arten und ihren Lebensräumen in den Blick nimmt. Solche Zusammenhänge wurden beispielsweise von Rachel Carson thematisiert, die zur Gründungsfigur der US-amerikanischen Umweltschutzbewegung wurde.
Mittwoch, 2. Juli 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Wertewandel und Säkularisierung
Die Vorlesung beschäftigte sich mit den kulturellen Folgen des Durchbruchs zum Massenkonsum, genauer mit den Veränderungen der Werte und Einstellungen der Westeuropäer seit den 50er und 60er Jahren. Prinzipiell ist das ein Bereich, der historischer Forschung nur begrenzt zugänglich ist, weil es häufig an aussagekräftigen Quellen mangelt. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zwar viele Umfragedaten. Diese stellen jedoch den Historiker vor besondere Probleme: Häufig sind Umfragen in einem Land nur begrenzt mit ähnlichen Untersuchungen in einem anderen Land zu vergleichen, das Abstraktionsniveau ist oft recht hoch und die Aussagen werden entsprechend allgemein gehalten. Schließlich stellt sich die Frage, ob das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger mit den in den Umfragen angegebenen Werthaltungen übereinstimmt.
Die Vorlesung konzentrierte sich auf drei recht gut erforschte Bereiche: die "stille Revolution" von materialistischen zu postmaterialistischen Werten nach Ronald Inglehart; die so genannte "sexuelle Revolution" der 60er Jahre; und schließlich die Säkularisierung bzw. den Rückgang der Religiosität.
Die Wertewandel-Theorie des amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart ist bekannt geworden mit seinem Buch "The Silent Revolution" (die stille Revolution) von 1977, aber die Grundgedanken formulierte er bereits zu Beginn der 70er Jahre als Antwort auf die Studentenproteste Ende der 60er ("1968"). Wie viele andere Beobachter versuchte er eine Erklärung dafür zu finden, dass gerade nicht die Armen, sondern die materiell relativ gut gestellten Mittelschichtskinder revoltierten, die in der Zeit des Wirtschaftsbooms aufgewachsen waren.Seine Erklärung war, dass es einen Generationskonflikt zwischen der Elterngeneration und der jüngeren Generation gab, der letztlich darauf beruhte, dass die Älteren in einer ganz anderen Gesellschaft aufgewachsen waren als die Jüngeren und noch Not und Entbehrung in Kriegszeiten bzw. Weltwirtschaftskrise kennengelernt hatten. Daher bevorzugten sie Werte wie materiellen Wohlstand und Sicherheit vor inneren und äußeren Bedrohungen, die Inglehart etwas irreführend als "materialistische" Werte bezeichnete. Diese waren der jüngeren Generation dagegen weniger wichtig, nicht weil sie materiellen Wohlstand abgelehnt hätten, sondern eher weil sie ihn als selbstverständlich ansahen und die wirklichen Probleme der Gesellschaft anderswo verorteten (etwa im Vietnam-Krieg). Sie neigten somit zu "postmaterialistischen" Werten wie Autonomie, Selbstbestimmung, aber auch Mitbestimmung, Redefreiheit, internationale Solidarität usw.
Ingleharts Hypothese liegen zwei (nicht unumstrittene) Annahmen zugrunde: erstens geht er davon aus, dass Wertorientierungen im Lauf der Sozialisation erworben werden und dann im weiteren Lebenslauf stabil bleiben, sich also nicht mit zunehmendem Alter oder je nach politischer Großwetterlage ändern. Zweitens geht er im Anschluss an den Psychologen Abraham Maslow von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus (so genannte Maslow´sche Bedürfnispyramide), wonach die grundlegenden Bedürfnisse zuerst befriedigt werden, bevor sich die Menschen den Bedürfnissen der nächst höheren Stufe zuwenden. Das erklärt nach Inglehart, warum gerade die im Zeitalter des Massenkonsums (und des Sozialstaates) aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen materielle Werte und (soziale) Sicherheit weniger schätzten als ihre Eltern: Sie wandten sich schlicht der Befriedigung von anderen, in der Pyramide auf höheren Stufen liegenden Bedürfnissen zu.
Im Laufe der Jahre hat Inglehart seine Theorie immer wieder modifiziert und den Wertewandel zu einem universellem Wandlungsprozess aller modernen Gesellschaften erklärt. Darin muss man ihm nicht unbedingt folgen. Die empirischen Befunde sind ohnehin nicht eindeutig. So meinen manche Forscher eine Stagnation des Wertewandels oder gar eine Trendumkehr in den 90er Jahren beobachtet zu haben. Zudem gibt es, wie bereits angedeutet, eine Fülle methodischer Kritikpunkte an Ingleharts Arbeiten. Bei aller Kritik scheint jedoch die These vom Wertewandel in der Form, in der sie ursprünglich präsentiert wurde, einen wesentlichen Punkt zu erfassen, nämlich einen Generationenkonflikt, der sich Ende der 60er Jahre bemerkbar machte und der auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurück ging, da sich die westeuropäischen Gesellschaften im Zeitalter des Massenkonsums außerordentlich rasch wandelten. Alle Aussagen, die darüber hinaus gehen, sind mit Vorsicht zu betrachten.
Zum Weiterlesen über die Wertewandel-Diskussion: https://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/81790/Krupp_14_BauerKaase.pdf
Ein deutlicher Wandel zeigte sich in den 60er Jahren in den Einstellungen zur Sexualität. Zwar ist es immer schwierig, Angaben über das tatsächliche Sexualverhalten zu machen, aber sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in den damals durchgeführten Umfragen zeigte sich eine deutlich liberalere Einstellung zur Sexualität. Vor allem wurde die bisher dominante Meinung, Sexualität nur in Verbindung mit der Ehe moralisch zu akzeptieren, deutlich abgeschwächt. Nach einer Umfrage in Italien 1969 (eines der Länder mit einer eher konservativen Sexualmoral) stimmten nur 13 % der verheirateten Frauen unter 40 der Aussage zu, Sexualität sei nur innerhalb der Ehe richtig, während ihre Mütter der Aussage zu 67 % zustimmten. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Meinungsumschwung aber erst im Laufe der 60er Jahre erfolgte.
Es ist jedoch weitaus schwieriger, Ursachen für diesen Einstellungswandel zu finden. Die oftmals behauptete Verbindung zur Einführung der so genannten "Antibabypille" ab 1960 (in den USA, in Europa etwas später) ist nicht eindeutig zu belegen. Es war immer nur eine Minderheit, die mit Hilfe der "Pille" verhütete, und Empfängnisverhütung war an sich natürlich nicht neu. Dass es nicht nur darum ging, zeigt auch die liberalere Einstellung zu Homosexualität, die sich durchzusetzen begann: In der Bundesrepublik wurde der § 175 des Strafgesetzbuches, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, 1969 und 1973 dahin gehend reformiert, dass nur noch homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen verboten waren.
Letztlich war die sexuelle Liberalisierung wohl ein Teil des bereits diskutierten Wertewandels. Auch hier ließen sich (in den 60er Jahren) deutliche Unterschiede zwischen den Generationen nachweisen. Diese Liberalisierung wurde von einer teils bereits existierenden, teils neu entstehenden Sex-Industrie (v.a. Anbieter von Pornographie) ausgenutzt, so dass seit Mitte der 60er Jahre von einer regelrechten "Sex-Welle" die Rede war. Schon zeitgenössische Beobachter kritisierten die damit einher gehende Kommerzialisierung der Sexualität. Für die "Neue Linke" war die Enttabuisierung der Sexualität Teil einer umfassenden Emanzipation, aber im Zeitalter des Massenkonsums triumphierte die Pornographie. Sie hatte es natürlich schon lange vorher gegeben, aber pornographische Bilder und Schriften wurden nunmehr öffentlich gezeigt und verkauft, während sie vorher nur im Untergrund erhältlich waren. Dänemark legalisierte den Verkauf von pornographischen Schriften an Erwachsene 1967, von Bilderzeugnissen 1969. Andere Länder folgten nach. Die so genannte "Sexwelle" war ein Phänomen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Der Umsatz von pornographischen Erzeugnissen in der BRD stieg nach Schätzungen von 0,5 Mrd. DM auf 1,1 Mrd. DM 1979.
Besondere Probleme mit dem Wertewandel hatte die Katholische Kirche, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen wichtige Erscheinungen der Moderne wie Liberalismus, Sozialismus oder Religionsfreiheit gewandt hatte (Enzyklika "Syllabus Errorum", 1864). Zwar hatte es auch in der Katholischen Kirche zu Beginn der 60er Jahre einen Reformprozess gegeben, der eine Versöhnung von Kirche und moderner Welt anzukündigen schien (2. Vatikanisches Konzil, 1962-65), doch der Papst Paul VI. machte mit seiner Enzyklika "Humanae Vitae" (1968) alle Hoffnungen zunichte, die Kirche könne sich mit den neuen Methoden der Empfängnisverhütung arrangieren. Vielmehr bekräftigte der Papst, dass aus Sicht der Katholischen Kirche Ehe und Sexualität untrennbar seien. Damit stellte er sich, wie gezeigt, gegen die Auffassung einer deutlichen Mehrheit der jüngeren Gläubigen in Westeuropa, selbst in den mehrheitlich katholischen Staaten.
Diese Haltung verstärkte den Prozess der Säkularisierung in Westeuropa, der allerdings bereits zuvor eingesetzt hatte und auch nicht auf die katholischen Länder beschränkt war. Unter dem Begriff "Säkularisierung" werden heute in der Forschung unterschiedliche Phänomene gefasst: Manche Wissenschaftler verstehen darunter den Rückgang der Religiosität, andere eine funktionale Differenzierung (Trennung von Kirche und Staat), wieder andere eine Individualisierung (Religion wird zur Privatsache). Die beiden letzten Ansätze implizieren, dass die Religiosität nicht unbedingt abnimmt, sondern nur ihre Formen wandelt.
Die empirische Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Religiosität in Europa tatsächlich abgenommen hat, und zwar in einem längeren, relativ gleichmässigen Prozess. Ähnlich wie beim Wertewandel erfolgt hier der soziale Wandel über die Generationenfolge, d.h. jede Generation ist etwas weniger religiös als die vorhergehende. Das Niveau der Religiosität ist dabei durchaus unterschiedlich: Höher als im Durchschnitt ist es beispielsweise in Griechenland, Portugal, Irland oder Italien; niedriger in den skandinavischen Staaten (außer Finnland) und in Frankreich. Die Tendenz zur Abnahme der Religiosität ist aber in allen europäischen Ländern ungefähr gleich, in den stark religiösen sogar etwas stärker als anderswo.
Die Vorlesung konzentrierte sich auf drei recht gut erforschte Bereiche: die "stille Revolution" von materialistischen zu postmaterialistischen Werten nach Ronald Inglehart; die so genannte "sexuelle Revolution" der 60er Jahre; und schließlich die Säkularisierung bzw. den Rückgang der Religiosität.
Die Wertewandel-Theorie des amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart ist bekannt geworden mit seinem Buch "The Silent Revolution" (die stille Revolution) von 1977, aber die Grundgedanken formulierte er bereits zu Beginn der 70er Jahre als Antwort auf die Studentenproteste Ende der 60er ("1968"). Wie viele andere Beobachter versuchte er eine Erklärung dafür zu finden, dass gerade nicht die Armen, sondern die materiell relativ gut gestellten Mittelschichtskinder revoltierten, die in der Zeit des Wirtschaftsbooms aufgewachsen waren.Seine Erklärung war, dass es einen Generationskonflikt zwischen der Elterngeneration und der jüngeren Generation gab, der letztlich darauf beruhte, dass die Älteren in einer ganz anderen Gesellschaft aufgewachsen waren als die Jüngeren und noch Not und Entbehrung in Kriegszeiten bzw. Weltwirtschaftskrise kennengelernt hatten. Daher bevorzugten sie Werte wie materiellen Wohlstand und Sicherheit vor inneren und äußeren Bedrohungen, die Inglehart etwas irreführend als "materialistische" Werte bezeichnete. Diese waren der jüngeren Generation dagegen weniger wichtig, nicht weil sie materiellen Wohlstand abgelehnt hätten, sondern eher weil sie ihn als selbstverständlich ansahen und die wirklichen Probleme der Gesellschaft anderswo verorteten (etwa im Vietnam-Krieg). Sie neigten somit zu "postmaterialistischen" Werten wie Autonomie, Selbstbestimmung, aber auch Mitbestimmung, Redefreiheit, internationale Solidarität usw.
Ingleharts Hypothese liegen zwei (nicht unumstrittene) Annahmen zugrunde: erstens geht er davon aus, dass Wertorientierungen im Lauf der Sozialisation erworben werden und dann im weiteren Lebenslauf stabil bleiben, sich also nicht mit zunehmendem Alter oder je nach politischer Großwetterlage ändern. Zweitens geht er im Anschluss an den Psychologen Abraham Maslow von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus (so genannte Maslow´sche Bedürfnispyramide), wonach die grundlegenden Bedürfnisse zuerst befriedigt werden, bevor sich die Menschen den Bedürfnissen der nächst höheren Stufe zuwenden. Das erklärt nach Inglehart, warum gerade die im Zeitalter des Massenkonsums (und des Sozialstaates) aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen materielle Werte und (soziale) Sicherheit weniger schätzten als ihre Eltern: Sie wandten sich schlicht der Befriedigung von anderen, in der Pyramide auf höheren Stufen liegenden Bedürfnissen zu.
Im Laufe der Jahre hat Inglehart seine Theorie immer wieder modifiziert und den Wertewandel zu einem universellem Wandlungsprozess aller modernen Gesellschaften erklärt. Darin muss man ihm nicht unbedingt folgen. Die empirischen Befunde sind ohnehin nicht eindeutig. So meinen manche Forscher eine Stagnation des Wertewandels oder gar eine Trendumkehr in den 90er Jahren beobachtet zu haben. Zudem gibt es, wie bereits angedeutet, eine Fülle methodischer Kritikpunkte an Ingleharts Arbeiten. Bei aller Kritik scheint jedoch die These vom Wertewandel in der Form, in der sie ursprünglich präsentiert wurde, einen wesentlichen Punkt zu erfassen, nämlich einen Generationenkonflikt, der sich Ende der 60er Jahre bemerkbar machte und der auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurück ging, da sich die westeuropäischen Gesellschaften im Zeitalter des Massenkonsums außerordentlich rasch wandelten. Alle Aussagen, die darüber hinaus gehen, sind mit Vorsicht zu betrachten.
Zum Weiterlesen über die Wertewandel-Diskussion: https://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/81790/Krupp_14_BauerKaase.pdf
Ein deutlicher Wandel zeigte sich in den 60er Jahren in den Einstellungen zur Sexualität. Zwar ist es immer schwierig, Angaben über das tatsächliche Sexualverhalten zu machen, aber sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in den damals durchgeführten Umfragen zeigte sich eine deutlich liberalere Einstellung zur Sexualität. Vor allem wurde die bisher dominante Meinung, Sexualität nur in Verbindung mit der Ehe moralisch zu akzeptieren, deutlich abgeschwächt. Nach einer Umfrage in Italien 1969 (eines der Länder mit einer eher konservativen Sexualmoral) stimmten nur 13 % der verheirateten Frauen unter 40 der Aussage zu, Sexualität sei nur innerhalb der Ehe richtig, während ihre Mütter der Aussage zu 67 % zustimmten. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Meinungsumschwung aber erst im Laufe der 60er Jahre erfolgte.
Es ist jedoch weitaus schwieriger, Ursachen für diesen Einstellungswandel zu finden. Die oftmals behauptete Verbindung zur Einführung der so genannten "Antibabypille" ab 1960 (in den USA, in Europa etwas später) ist nicht eindeutig zu belegen. Es war immer nur eine Minderheit, die mit Hilfe der "Pille" verhütete, und Empfängnisverhütung war an sich natürlich nicht neu. Dass es nicht nur darum ging, zeigt auch die liberalere Einstellung zu Homosexualität, die sich durchzusetzen begann: In der Bundesrepublik wurde der § 175 des Strafgesetzbuches, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, 1969 und 1973 dahin gehend reformiert, dass nur noch homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen verboten waren.
Letztlich war die sexuelle Liberalisierung wohl ein Teil des bereits diskutierten Wertewandels. Auch hier ließen sich (in den 60er Jahren) deutliche Unterschiede zwischen den Generationen nachweisen. Diese Liberalisierung wurde von einer teils bereits existierenden, teils neu entstehenden Sex-Industrie (v.a. Anbieter von Pornographie) ausgenutzt, so dass seit Mitte der 60er Jahre von einer regelrechten "Sex-Welle" die Rede war. Schon zeitgenössische Beobachter kritisierten die damit einher gehende Kommerzialisierung der Sexualität. Für die "Neue Linke" war die Enttabuisierung der Sexualität Teil einer umfassenden Emanzipation, aber im Zeitalter des Massenkonsums triumphierte die Pornographie. Sie hatte es natürlich schon lange vorher gegeben, aber pornographische Bilder und Schriften wurden nunmehr öffentlich gezeigt und verkauft, während sie vorher nur im Untergrund erhältlich waren. Dänemark legalisierte den Verkauf von pornographischen Schriften an Erwachsene 1967, von Bilderzeugnissen 1969. Andere Länder folgten nach. Die so genannte "Sexwelle" war ein Phänomen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Der Umsatz von pornographischen Erzeugnissen in der BRD stieg nach Schätzungen von 0,5 Mrd. DM auf 1,1 Mrd. DM 1979.
Besondere Probleme mit dem Wertewandel hatte die Katholische Kirche, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen wichtige Erscheinungen der Moderne wie Liberalismus, Sozialismus oder Religionsfreiheit gewandt hatte (Enzyklika "Syllabus Errorum", 1864). Zwar hatte es auch in der Katholischen Kirche zu Beginn der 60er Jahre einen Reformprozess gegeben, der eine Versöhnung von Kirche und moderner Welt anzukündigen schien (2. Vatikanisches Konzil, 1962-65), doch der Papst Paul VI. machte mit seiner Enzyklika "Humanae Vitae" (1968) alle Hoffnungen zunichte, die Kirche könne sich mit den neuen Methoden der Empfängnisverhütung arrangieren. Vielmehr bekräftigte der Papst, dass aus Sicht der Katholischen Kirche Ehe und Sexualität untrennbar seien. Damit stellte er sich, wie gezeigt, gegen die Auffassung einer deutlichen Mehrheit der jüngeren Gläubigen in Westeuropa, selbst in den mehrheitlich katholischen Staaten.
Diese Haltung verstärkte den Prozess der Säkularisierung in Westeuropa, der allerdings bereits zuvor eingesetzt hatte und auch nicht auf die katholischen Länder beschränkt war. Unter dem Begriff "Säkularisierung" werden heute in der Forschung unterschiedliche Phänomene gefasst: Manche Wissenschaftler verstehen darunter den Rückgang der Religiosität, andere eine funktionale Differenzierung (Trennung von Kirche und Staat), wieder andere eine Individualisierung (Religion wird zur Privatsache). Die beiden letzten Ansätze implizieren, dass die Religiosität nicht unbedingt abnimmt, sondern nur ihre Formen wandelt.
Die empirische Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Religiosität in Europa tatsächlich abgenommen hat, und zwar in einem längeren, relativ gleichmässigen Prozess. Ähnlich wie beim Wertewandel erfolgt hier der soziale Wandel über die Generationenfolge, d.h. jede Generation ist etwas weniger religiös als die vorhergehende. Das Niveau der Religiosität ist dabei durchaus unterschiedlich: Höher als im Durchschnitt ist es beispielsweise in Griechenland, Portugal, Irland oder Italien; niedriger in den skandinavischen Staaten (außer Finnland) und in Frankreich. Die Tendenz zur Abnahme der Religiosität ist aber in allen europäischen Ländern ungefähr gleich, in den stark religiösen sogar etwas stärker als anderswo.
aus: David Voas, The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe, in: European Sociological Review 25 (2009), S. 155-168
Allerdings setzt, wie die Grafik erkennen lässt, die Abnahme nicht zu demselben Zeitpunkt ein. In Deutschland und Italien nimmt die Religiosität seit ca. 1945 ab, in Frankreich erst seit ca. 1950 und in Großbritannien sogar erst seit 1960 (rechnet man Geburtsjahr + 20 Jahre für die Sozialisation). Auch wenn der Trend zur Säkularisierung bereits früher einsetzte, waren doch in vielen Ländern die 1950er und 60er Jahre durch einen besonders starken Rückgang der Religiosität gekennzeichnet. Der Durchbruch des Massenkonsums verstärkte also bereits vorhandene säkulare Tendenzen.
Dabei handelt es sich um einen europäischen Sonderweg (Hartmut Lehmann). Einen vergleichbaren Rückgang der Religiosität gibt es in außer-europäischen Gesellschaften kaum, auch nicht in "modernen" Gesellschaften wie den USA oder Japan. Tendenzen zur Säkularisierung lassen sich allerdings in China, Australien oder Kanada beobachten. Die Gründe sind wohl in dem besonderen Verhältnis der Europäer zu ihren Kirchen zu sehen, die im Zuge der Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts rechtlich oder de facto zu Amtskirchen wurden, dadurch besondere Vorteile genossen, sich aber auch durch das enge Bündnis mit konservativen Kräften angreifbar machten.
Das Ergebnis des Säkularisierungsprozesses in Europa ist, jedenfalls bisher, nicht eine atheistische oder auch nur agnostische Bevölkerung, sondern eine diffuse Religiosität. Die meisten Menschen geben in Umfragen immer noch an, sie würden entweder an einen Gott oder an eine andere spirituelle Kraft glauben, aber dieser Glaube wird im Alltag immer weniger handlungsrelevant. Viele Menschen beschränken sich darauf, wichtige Übergangsriten wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung in kirchlichen Formen zu begehen, nehmen jedoch ansonsten kaum Teil am kirchlichen Leben. Nach David Voas handelt es sich bei dieser diffusen Religiosität lediglich um eine Durchgangsstation auf dem Weg zur vollständig säkularen Gesellschaft. Andere Forscher dagegen meinen, in den letzten Jahren eine "Rückkehr des Religiösen" (Detlef Pollack) diagnostizieren zu können.
Die Säkularisierung und der Wertewandel hatten verschiedene Konsequenzen. Eine davon war, dass die Ehe und die traditionelle Kleinfamilie nicht mehr als die einzigen akzeptierten Lebensformen galten. Vielmehr machte sich seit den 60er Jahren eine Pluralisierung bemerkbar, die ihren Ausdruck auch in zunehmenden Scheidungsraten fand. Hier spielte natürlich auch die Liberalisierung des Scheidungsrechts eine wesentliche Rolle. In Italien wurde die Ehescheidung erst 1970 legalisiert, in anderen Ländern wie Deutschland (1975), Frankreich (1976) oder Großbritannien (1973) wurde das Scheidungsrecht in den 70er Jahren liberalisiert.
Das traditionelle Ehemodell, das in den 50er Jahren und auch in der ersten Hälfte der 60er noch dominiert hatte, wurde allmählich ergänzt durch andere Familien- und Lebensformen: die Ehe ohne Trauschein, die Patchwork-Familie, die Ein-Eltern-Familie oder der freiwillige Verzicht auf Ehe und Familie. Auch bei dieser Entwicklung ist der Zusammenhang zum gestiegenen Wohlstand unverkennbar. Die traditionelle Ehe war eben auch eine Versorgungsinstitution, deren Bedeutung mit dem zunehmenden Wohlstand und dem Ausbau des Sozialstaates abnahm.
Dienstag, 24. Juni 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Außenpolitik, Kalter Krieg
Zum Zeitalter des Massenkonsums gehören auch die außenpolitischen Rahmenbedingungen, und die gaben durchaus Anlass zur Sorge. Gewiss, der Kalte Krieg der Supermächte verhinderte einen "heißen" Krieg in Europa, doch bestand bis in die sechziger Jahre hinein die Gefahr einer militärischen Konfrontation der Supermächte mit ungewissem Ausgang, vielleicht sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen.
Es gibt hinsichtlich der Verwendung des Begriffs "Kalter Krieg" keine Einigkeit unter Historikern. Manche grenzen den Kalten Krieg im engeren Sinne von Phasen der Entspannungspolitik zwischen den Supermächten ab, andere sehen in der Entspannungspolitik lediglich eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. Auch der Beginn des Konfliktes ist umstritten. Letztlich existierten schon zu Zeiten der Anti-Hitler-Koalition gravierende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten, die lediglich durch den gemeinsamen Kampf überdeckt wurden. Nach dem Krieg blieben nur zwei globale Supermächte übrig. Großbritannien, die dritte Siegermacht, war hoch verschuldet und damit von den USA abhängig.
Der Dualismus der beiden verbleibenden Supermächte, die sich um Einflusssphären stritten, hätte möglicherweise allein schon ausgereicht, um einen Kalten Krieg zu provozieren. Hinzu kamen die ideologischen Gegensätze zwischen repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und sozialistischer Gesellschaftsordnung bzw. Diktatur Stalins andererseits.
Dennoch war der Kalte Krieg, jedenfalls in der Schärfe der Auseinandersetzung, die an den Rand eines Krieges führte, wohl nicht unvermeidbar. Vgl. hierzu die Darstellung von Wilfried Loth:
http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/kalter_krieg/l_01.htm.
Vielmehr unterstellten beide Seiten der jeweils anderen Seite aggressivere Absichten als tatsächlich existierten. Für die USA formulierte der Diplomat George Kennan bereits am 22. Februar 1946 in seinem berühmten "langen Telegramm" die Grundlinien der Eindämmungspolitik Text hier:
http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/coldwar/documents/episode-1/kennan.htm
. Er ging davon aus, dass die sowjetische Führung ein neurotisches, übersteigertes Sicherheitsbedürfnis habe, das sie letztlich zu einer expansionistischen Außenpolitik verleite. Umgekehrt war Stalin davon überzeugt, dass die kapitalistischen Mächte auf Dauer nicht in Frieden leben könnten und daher früher oder später auch die Sowjetunion angreifen würden.
Diese Grundhaltungen führten zu einer Reihe von Konfrontationen, die mehr oder weniger nah an die Schwelle eines Krieges der Supermächte führten, aber auch immer wieder von Phasen der Entspannung abgelöst wurden. Zweimal stand Berlin im Zentrum des Konfliktes, einmal bei der Berlin-Blockade 1948/49 und zum zweiten Mal in der Berlin-Krise 1958-61. Das lag weniger an einem besonders ausgeprägten Interesse der sowjetischen Führung an Berlin als vielmehr daran, dass hier der Westen besonders verwundbar erschien, da Westberlin eine Enklave in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR darstellte. Beide Male wurde die Berlin-Frage als Druckmittel benutzt, um Konzessionen in anderen Bereichen zu erlangen. 1948/49 ging es Stalin wohl darum, die Gründung eines westdeutschen Teilstaates zu verhindern, die sich mit der Gründung der Trizone und der Währungsreform 1948 bereits andeutete. Die Alliierten gaben bekanntlich in dieser Frage nicht nach und versorgten Berlin mit einer Luftbrücke. Letztlich führte die Berlin-Blockade nur zu einer beschleunigten Integration des westlichen Bündnisses. Die NATO wurde im April 1949, die Bundesrepublik im Mai gegründet. Ende 50er Jahre benutzte Chruschtschow Berlin als Druckmittel, um die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verhindern. Der Bau der Berliner Mauer 1961 wurde vor allem von der DDR-Führung um Walter Ulbricht voran getrieben. Sie hatte letztlich wirtschaftliche Gründe, da durch die offene Grenze zu Westberlin der DDR viele wertvolle Arbeitskräfte verloren gingen. Im Oktober 1961 kam es im Zuge des Mauerbaus zu einer Konfrontation zwischen sowjetischen und amerikanischen Panzern am Checkpoint Charlie, die sich gefechtsbereit gegenüber standen. Eine bewaffnete Auseinandersetzung blieb aber aus.
Der einzige bekannte Fall, in dem tatsächlich sowjetische Einheiten gegen US-amerikanische kämpften, war der Korea-Krieg von 1950-53, an dem allerdings offiziell die Sowjetunion nicht beteiligt war, wohl aber das mit ihr verbündete China. Der Überfall Nordkoreas auf den Süden im Januar 1950 schien die schlimmsten Befürchtungen der Westmächte über den sowjetischen Expansionswillen zu bestätigen. Dennoch weigerte sich Präsident Truman, die Atombombe einzusetzen. Der Krieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, der im Wesentlichen die alten Grenzen bestätigte.
Die letzte große Konfrontation war die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Sowjetunion nach der kubanischen Revolution Kurz- und Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren wollte, die auch die USA hätten erreichen können. Das Ziel war hier zum einen die Verteidigung der kubanischen Revolution und die Förderung ähnlicher Bewegungen in Lateinamerika durch die Demonstration von Stärke. Zum anderen wollte Chruschtschow in diesem Bereich ein Gleichgewicht herstellen, hatten die USA doch schon seit langem Mittelstreckenraketen in Europa stationiert, die die Sowjetunion treffen konnten. Auch hier konnte eine bewaffnete Konfrontation letztlich vermieden werden. Für den Verzicht auf die geplante Stationierung der Raketen auf Kuba sagte die amerikanische Regierung im Gegenzug zu, auf eine Invasion Kubas zu verzichten und die in der Türkei stationierten Raketen abzuziehen.
Diese Konfrontationen wurden aber immer wieder durch mehr oder weniger lange Phasen der Entspannungspolitik unterbrochen. Nach der Kuba-Krise und besonders ab Ende der 60er Jahre zeigte sich das besonders deutlich, als eine Reihe von Abkommen geschlossen wurden: das Atomteststoppabkommen 1963, der Atomwaffensperrvertrag 1968, das Rüstungsbegrenzungsabkommen SALT I (SALT=Strategic Arms Limitation Talks) 1972. Die von der sozial-liberalen Bundesregierung ausgehandelten "Ostverträge" mit den Staaten des Warschauer Paktes (Sowjetunion, Polen, DDR, CSSR, 1970-73) entschärften zusätzlich das Krisenpotential in der Mitte Europas. Die Bedeutung der Entspannungspolitik für das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion bleibt umstritten. Sicher hat sie aber dazu beigetragen, unbeabsichtigte Eskalationen zu einem großen Krieg zu vermeiden.
Entspannungspolitik gab es jedoch nicht erst seit den 60er Jahren. Selbst in den 50ern kam es zu ersten Ansätzen, beispielsweise nach dem Tod Stalins 1953. Im Grunde versuchte schon Nikita Chruschtschow, den Wettstreit der Systeme auf den wirtschaftlichen Bereich, und dabei insbesondere auf das Feld des Konsums, zu verlagern. Das 1958 formulierte Ziel war in der Tat, den Westen in puncto Lebensstandard zu überholen. Bis heute diskutieren Historiker darüber, ob dies ernst gemeint war, aber wahrscheinlich schon. Allerdings erwartete Chruschtschow (ganz im Sinne der marxistischen Ideologie) eine baldige Wirtschaftskrise im Westen. Sein ungebrochener Optimismus zeigte sich unter anderem in der "Küchendebatte" 1959, die am Rande einer amerikanischen Ausstellung in Moskau mit Vizepräsident Richard Nixon stattfand. Es handelte sich aber nicht um eine vorbereitete Debatte, sondern eher um einen ad hoc geführten Schlagabtausch:
Chruschtschow argumentierte, die Sowjetunion sei viel jünger als die USA und werde das amerikanische Niveau in 7 Jahren erreicht haben. Wenn die Amerikaner weiter den Kapitalismus behalten wollte, so sei das ihre Sache, aber die Sowjets würden den Amerikanern zuwinken, wenn sie sie überholten. Die Unterhaltung zwischen zwischen Nixon und Chruschtschow wurde auf einem frühen Videorekorder festgehalten. Hier ist übrigens ein Bild der amerikanischen Modellküche (aus dem "typisch amerikanischen Haus" auf der Ausstellung):
Letztlich verlor die Sowjetunion den Kalten Krieg auf genau dem Feld, auf das sie ihn selbst verlagert hatte. Schon der Mauerbau 1961 war ein Eingeständnis des Scheiterns.
Es gibt hinsichtlich der Verwendung des Begriffs "Kalter Krieg" keine Einigkeit unter Historikern. Manche grenzen den Kalten Krieg im engeren Sinne von Phasen der Entspannungspolitik zwischen den Supermächten ab, andere sehen in der Entspannungspolitik lediglich eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. Auch der Beginn des Konfliktes ist umstritten. Letztlich existierten schon zu Zeiten der Anti-Hitler-Koalition gravierende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten, die lediglich durch den gemeinsamen Kampf überdeckt wurden. Nach dem Krieg blieben nur zwei globale Supermächte übrig. Großbritannien, die dritte Siegermacht, war hoch verschuldet und damit von den USA abhängig.
Der Dualismus der beiden verbleibenden Supermächte, die sich um Einflusssphären stritten, hätte möglicherweise allein schon ausgereicht, um einen Kalten Krieg zu provozieren. Hinzu kamen die ideologischen Gegensätze zwischen repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und sozialistischer Gesellschaftsordnung bzw. Diktatur Stalins andererseits.
Dennoch war der Kalte Krieg, jedenfalls in der Schärfe der Auseinandersetzung, die an den Rand eines Krieges führte, wohl nicht unvermeidbar. Vgl. hierzu die Darstellung von Wilfried Loth:
http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/kalter_krieg/l_01.htm.
Vielmehr unterstellten beide Seiten der jeweils anderen Seite aggressivere Absichten als tatsächlich existierten. Für die USA formulierte der Diplomat George Kennan bereits am 22. Februar 1946 in seinem berühmten "langen Telegramm" die Grundlinien der Eindämmungspolitik Text hier:
http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/coldwar/documents/episode-1/kennan.htm
. Er ging davon aus, dass die sowjetische Führung ein neurotisches, übersteigertes Sicherheitsbedürfnis habe, das sie letztlich zu einer expansionistischen Außenpolitik verleite. Umgekehrt war Stalin davon überzeugt, dass die kapitalistischen Mächte auf Dauer nicht in Frieden leben könnten und daher früher oder später auch die Sowjetunion angreifen würden.
Diese Grundhaltungen führten zu einer Reihe von Konfrontationen, die mehr oder weniger nah an die Schwelle eines Krieges der Supermächte führten, aber auch immer wieder von Phasen der Entspannung abgelöst wurden. Zweimal stand Berlin im Zentrum des Konfliktes, einmal bei der Berlin-Blockade 1948/49 und zum zweiten Mal in der Berlin-Krise 1958-61. Das lag weniger an einem besonders ausgeprägten Interesse der sowjetischen Führung an Berlin als vielmehr daran, dass hier der Westen besonders verwundbar erschien, da Westberlin eine Enklave in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR darstellte. Beide Male wurde die Berlin-Frage als Druckmittel benutzt, um Konzessionen in anderen Bereichen zu erlangen. 1948/49 ging es Stalin wohl darum, die Gründung eines westdeutschen Teilstaates zu verhindern, die sich mit der Gründung der Trizone und der Währungsreform 1948 bereits andeutete. Die Alliierten gaben bekanntlich in dieser Frage nicht nach und versorgten Berlin mit einer Luftbrücke. Letztlich führte die Berlin-Blockade nur zu einer beschleunigten Integration des westlichen Bündnisses. Die NATO wurde im April 1949, die Bundesrepublik im Mai gegründet. Ende 50er Jahre benutzte Chruschtschow Berlin als Druckmittel, um die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verhindern. Der Bau der Berliner Mauer 1961 wurde vor allem von der DDR-Führung um Walter Ulbricht voran getrieben. Sie hatte letztlich wirtschaftliche Gründe, da durch die offene Grenze zu Westberlin der DDR viele wertvolle Arbeitskräfte verloren gingen. Im Oktober 1961 kam es im Zuge des Mauerbaus zu einer Konfrontation zwischen sowjetischen und amerikanischen Panzern am Checkpoint Charlie, die sich gefechtsbereit gegenüber standen. Eine bewaffnete Auseinandersetzung blieb aber aus.
Der einzige bekannte Fall, in dem tatsächlich sowjetische Einheiten gegen US-amerikanische kämpften, war der Korea-Krieg von 1950-53, an dem allerdings offiziell die Sowjetunion nicht beteiligt war, wohl aber das mit ihr verbündete China. Der Überfall Nordkoreas auf den Süden im Januar 1950 schien die schlimmsten Befürchtungen der Westmächte über den sowjetischen Expansionswillen zu bestätigen. Dennoch weigerte sich Präsident Truman, die Atombombe einzusetzen. Der Krieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, der im Wesentlichen die alten Grenzen bestätigte.
Die letzte große Konfrontation war die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Sowjetunion nach der kubanischen Revolution Kurz- und Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren wollte, die auch die USA hätten erreichen können. Das Ziel war hier zum einen die Verteidigung der kubanischen Revolution und die Förderung ähnlicher Bewegungen in Lateinamerika durch die Demonstration von Stärke. Zum anderen wollte Chruschtschow in diesem Bereich ein Gleichgewicht herstellen, hatten die USA doch schon seit langem Mittelstreckenraketen in Europa stationiert, die die Sowjetunion treffen konnten. Auch hier konnte eine bewaffnete Konfrontation letztlich vermieden werden. Für den Verzicht auf die geplante Stationierung der Raketen auf Kuba sagte die amerikanische Regierung im Gegenzug zu, auf eine Invasion Kubas zu verzichten und die in der Türkei stationierten Raketen abzuziehen.
Diese Konfrontationen wurden aber immer wieder durch mehr oder weniger lange Phasen der Entspannungspolitik unterbrochen. Nach der Kuba-Krise und besonders ab Ende der 60er Jahre zeigte sich das besonders deutlich, als eine Reihe von Abkommen geschlossen wurden: das Atomteststoppabkommen 1963, der Atomwaffensperrvertrag 1968, das Rüstungsbegrenzungsabkommen SALT I (SALT=Strategic Arms Limitation Talks) 1972. Die von der sozial-liberalen Bundesregierung ausgehandelten "Ostverträge" mit den Staaten des Warschauer Paktes (Sowjetunion, Polen, DDR, CSSR, 1970-73) entschärften zusätzlich das Krisenpotential in der Mitte Europas. Die Bedeutung der Entspannungspolitik für das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion bleibt umstritten. Sicher hat sie aber dazu beigetragen, unbeabsichtigte Eskalationen zu einem großen Krieg zu vermeiden.
Entspannungspolitik gab es jedoch nicht erst seit den 60er Jahren. Selbst in den 50ern kam es zu ersten Ansätzen, beispielsweise nach dem Tod Stalins 1953. Im Grunde versuchte schon Nikita Chruschtschow, den Wettstreit der Systeme auf den wirtschaftlichen Bereich, und dabei insbesondere auf das Feld des Konsums, zu verlagern. Das 1958 formulierte Ziel war in der Tat, den Westen in puncto Lebensstandard zu überholen. Bis heute diskutieren Historiker darüber, ob dies ernst gemeint war, aber wahrscheinlich schon. Allerdings erwartete Chruschtschow (ganz im Sinne der marxistischen Ideologie) eine baldige Wirtschaftskrise im Westen. Sein ungebrochener Optimismus zeigte sich unter anderem in der "Küchendebatte" 1959, die am Rande einer amerikanischen Ausstellung in Moskau mit Vizepräsident Richard Nixon stattfand. Es handelte sich aber nicht um eine vorbereitete Debatte, sondern eher um einen ad hoc geführten Schlagabtausch:
Chruschtschow argumentierte, die Sowjetunion sei viel jünger als die USA und werde das amerikanische Niveau in 7 Jahren erreicht haben. Wenn die Amerikaner weiter den Kapitalismus behalten wollte, so sei das ihre Sache, aber die Sowjets würden den Amerikanern zuwinken, wenn sie sie überholten. Die Unterhaltung zwischen zwischen Nixon und Chruschtschow wurde auf einem frühen Videorekorder festgehalten. Hier ist übrigens ein Bild der amerikanischen Modellküche (aus dem "typisch amerikanischen Haus" auf der Ausstellung):
Letztlich verlor die Sowjetunion den Kalten Krieg auf genau dem Feld, auf das sie ihn selbst verlagert hatte. Schon der Mauerbau 1961 war ein Eingeständnis des Scheiterns.
Dienstag, 17. Juni 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Politik und Parteien
Die Vorlesung beschäftigte sich mit der Entwicklung der westeuropäischen Parteiensysteme in den 50er und 60er Jahren. Wie veränderten sich die politischen Parteien (und mit ihnen die Politik) im Zeitalter des Massenkonsums? Welche länderübergreifenden Trends lassen sich identifizieren? Zwei Vorbemerkungen müssen voraus geschickt werden. Zum einen ist es hier (schon aus Platzgründen) nicht möglich, auf jedes Land gesondert einzugehen. Es ist aber dennoch wichtig zu wissen, dass prinzipiell jedes Land sein eigenes Wahl- und Parteiensystem hatte, das historisch gewachsen war und bestimmte Eigenheiten aufwies. Wie im Folgenden ausgeführt wird, lassen sich zwar durchaus allgemeine Entwicklungen diagnostizieren, aber diese fanden immer vor dem je verschiedenen institutionellen Hintergrund des jeweiligen Landes ihre spezifische Ausprägung. Am Ende soll daher kurz auf die Parteiensysteme einzelner Länder eingegangen werden. Die zweite Vorbemerkung betrifft die an sich banale, aber wichtige Tatsache, dass längst nicht alle Westeuropäer in den 50er und 60er Jahren das Glück hatten, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben. Vielmehr fanden sich an der südeuropäischen Peripherie auch noch Diktaturen, die aus der Zwischenkriegszeit stammten: Spanien unter Franco (bis 1975) und Portugal unter Salazar (und seinem Nachfolger Caetano bis zur Nelkenrevolution 1974). Hinzu kam in Griechenland ein Militärputsch (Putsch der "Obristen") im Jahr 1967, der ebenfalls eine wenn auch kurze Phase der Militärdiktatur (bis 1974) einleitete. In diesen autoritären Staaten stellte sich die Frage nach Parteiensystemen zunächst nicht, da keine legalen Oppositionsparteien existierten. Insofern war der wichtigste Unterschied zwischen den politischen Systemen Westeuropas der zwischen Demokratie und Diktatur - und nicht der zwischen verschiedenen Parteiensystemen.
Als Ausgangspunkt dient der Ansatz des zeitgenössischen deutschen Politikwissenschaftlers Otto Kirchheimer (1905-65), der 1965 in einem bis heute häufig zitierten Aufsatz den "Wandel des westeuropäischen Parteiensystems" beschrieb. Kirchheimer war Mitglied der SPD und während des Nationalsozialismus erst nach Frankreich und später in die USA emigriert. Es darf angenommen werden, dass vor allem die Erfahrungen in den USA seinen Aufsatz zum Parteiensystem beeinflussten. Im Wesentlichen unterscheidet Kirchheimer hierin drei Arten von Parteien: erstens die traditionellen, im 19. Jahrhundert vorherrschenden Klientel- oder Honoratiorenparteien, die kaum mehr waren als ad hoc gebildete Wahlvereinigungen; zweitens die Massenintegrationsparteien, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkamen. Beispiele waren die sozialistischen und katholischen Parteien. Sie zielten auf eine möglichst hohe Mitgliederzahl und versuchten, ihre Mitglieder und Wähler auf der Grundlage einer gemeinsamen Ideologie oder Weltanschauung zu mobilisieren. Ihre Wählerschaft blieb aber auf bestimmte Gruppen (oder Schichten) beschränkt, die sich mit der Ideologie identifizieren konnten, während andere Wählerschichten nicht angesprochen wurden. Für seine Gegenwart meinte Kirchheimer schließlich die Entstehung von Allerweltsparteien (catch all-party, Volkspartei) beobachten zu können, die sich aus dem Massenintegrationsparteien heraus entwickelten und nunmehr versuchten, alle oder doch fast alle Wähler anzusprechen. Das hatte mehrere wichtige Konsequenzen für die Selbstdarstellung der Parteien, ihre Programme, die Wahlkämpfe wie für den gesamten Stil der politischen Auseinandersetzung. Denn die trennenden Ideologien wurden auch programmatisch abgewertet und rückten in den Hintergrund. Die Politik wurde pragmatischer, die Parteien einander ähnlicher, dadurch aber auch tendenziell beliebig und austauschbar. Gerade deswegen stieg die Bedeutung des politischen Personals. Thematisch bevorzugten die Allerweltsparteien Inhalte, die keine ideologischen Gräben aufwarfen und mit denen sich mehr oder weniger alle Bürger identifizieren konnten, wie z.B. Bildung oder wissenschaftlicher Fortschritt.
Die Bedeutung von Kirchheimers Thesen liegt weniger darin, dass sie wirklich die Realität adäquat beschreiben würden. Vielmehr war er einer der ersten, die erkannt hatten, dass die Parteien sich zunehmend wie Unternehmen an einem Markt orientierten und versuchten, dem Bürger mit Hilfe von zunehmend professioneller Werbung etwas zu verkaufen. Kurz gesagt, das Parteiensystem wurde in dieser Zeit von der Logik des Massenkonsums erfasst, und unterschied sich dadurch wesentlich von den ideologisch geprägten Grabenkämpfen der Zwischenkriegszeit (vor allem, aber nicht nur in Deutschland).
Kirchheimers Thesen gelten heute als widerlegt. Zum einen kam es im Zuge der 68er-Bewegung jedenfalls kurzfristig zu einer Re-Ideologisierung der Politik. Die von ihm diagnostizierte Entideologisierung der Parteien ist somit keine Einbahnstraße. Zum anderen aber verloren die Allerweltsparteien seit den 70ern zunehmend an Bindekraft. Was Kirchheimer nicht vorausgesehen hat, war der Aufstieg von kleineren Parteien, die entlang neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien entstanden: ökologische Parteien wie die Grünen, rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien (Republikaner, Front National etc.) oder regionalistische Parteien.
Betrachtet man, unabhängig von Kirchheimers Thesen, die Parteienlandschaften Westeuropas in den 50er und 60er Jahren, so fällt ein Aspekt sofort ins Auge: die Stärke der bürgerlichen (christdemokratischen oder konservativen) und die relative Schwäche der linken Parteien. Außerhalb von Skandinavien traf man kaum auf sozialistische oder sozialdemokratische Regierungschefs. In Deutschland war die SPD zwar seit 1966 an der Regierung beteiligt, jedoch zunächst als Juniorpartner in einer großen Koalition. Erst 1969 stellte sie den Bundeskanzler. In Großbritannien wurde die Labour Party 1951 aus der Regierung abgewählt und konnte erst 1964 zurückkehren (bis 1970). In Frankreich regierte mit Vincent Auriol zwischen 1947 und 1954 ein sozialistischer Ministerpräsident, danach aber regierten die Gaullisten und anderen Bürgerlichen bis zum Wahlsieg Mitterands 1981. In Italien gab es die erste von einem Sozialisten geführte Regierung (unter Bettino Craxi) der Nachkriegszeit erst 1983. Offenbar war das "Zeitalter des Massenkonsums" für die Linke nicht eben günstig. Die wirtschaftlichen Erfolge wurden eher den Konservativen und Christdemokraten zugeschrieben. Die Sozialisten hatten ihre Probleme mit der modernen Welt des Massenkonsums und wirkten z.T. altbacken, etwa in ihrer Abneigung gegen die moderne Werbung.
Die große Ausnahme bildete, wie erwähnt, Skandinavien. In Schweden regierten die Sozialdemokraten ununterbrochen von 1946 bis 1976, bis 1968 unter Ministerpräsident Tage Erlander. Den Schlüssel zu diesem Erfolg bildete die schon vor dem Krieg erfolgte Öffnung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für andere Bevölkerungsschichten, vor allem Bauern, und der Ausbau des Sozialstaates.
In Frankreich wurde die 4. Republik 1958 per Referendum abgeschafft und durch die 5. Republik ersetzt. Der französische Staatspräsident wird seitdem direkt vom Volk gewählt und setzt die Regierung ein. Eine französische Besonderheit waren die (unter verschiedenen Namen existierenden) gaullistischen Parteien, die vom Charisma des Generals Charles de Gaulle lebten. De Gaulle setzte auf eine autoritäre Innenpolitik und eine nationalistische Außenpolitik und betonte besonders gegenüber den USA, aber auch gegenüber den anderen europäischen Staaten, die französische Souveränität.
In Großbritannien existierten aufgrund des Mehrheitswahlrechts lange Zeit nur zwei Parteien von Bedeutung, die Konservativen (Tories) und die Labour Party (Arbeiterpartei). Die Labour Party machte zwar ähnlich wie die deutsche SPD bereits in den 50er und 60er Jahren z.B. unter Hugh Gaitskell (Parteichef 1955-63) eine Reformdiskussion durch. Eine dem 1959 von der SPD verabschiedeten "Godesberger Programm" vergleichbare Öffnung der Labour Party kam jedoch erst wesentlich später, letztlich erst mit "New Labour" unter Tony Blair in den 90ern.
Kennzeichnend für Italien schließlich war, neben der weit verbreiteten Korruption, der häufige Wechsel der Regierungen. Zwischen 1950 und 1970 gab es nicht weniger als 23 verschiedene Regierungen in Italien, alle übrigens geführt von den Christdemokraten. Um die Verwirrung nicht allzu groß zu machen, wurden die Regierungen jedoch meist von immer denselben Parteien und Personen gebildet, so dass in Wahrheit die parlamentarische Demokratie nicht so instabil war, wie es den Anschein hatte. Das italienische Parteiensystem brach erst Anfang der 90er Jahre im Zuge der Korruptionsermittlungen der italienischen Justiz zusammen.
Diese kleine Übersicht soll zeigen, dass in dieser Zeit und auch bis heute in den Parteiensystemen wesentliche nationale Besonderheiten existieren, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Dennoch hatte Kirchheimer in gewissem Sinne recht. Der Massenkonsum veränderte die Parteien genauso sehr wie sie ihn. Die wirtschaftlichen Erfolge und die Steigerung des Lebensstandards wurden stärker den bürgerlichen Parteien als den Sozialdemokraten zugeschrieben, von denen man eher eine gerechte Verteilung auf niedrigem Niveau, im Sinne der Rationierung der unmittelbaren Nachkriegszeit, erwartete, als den Aufbruch in die neue Welt des Massenkonsums. Die Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, mussten sich wandeln, um neue Schichten ansprechen zu können, und begannen, Methoden aus dem wirtschaftlichen Bereich, wie etwa professionelle Wahlwerbung, einzusetzen. Dass gerade die Entwicklung zu Allerweltsparteien zu einer nachlassenden Bindekraft der großen Parteien führte, darin liegt die Ironie der Geschichte.
Als Ausgangspunkt dient der Ansatz des zeitgenössischen deutschen Politikwissenschaftlers Otto Kirchheimer (1905-65), der 1965 in einem bis heute häufig zitierten Aufsatz den "Wandel des westeuropäischen Parteiensystems" beschrieb. Kirchheimer war Mitglied der SPD und während des Nationalsozialismus erst nach Frankreich und später in die USA emigriert. Es darf angenommen werden, dass vor allem die Erfahrungen in den USA seinen Aufsatz zum Parteiensystem beeinflussten. Im Wesentlichen unterscheidet Kirchheimer hierin drei Arten von Parteien: erstens die traditionellen, im 19. Jahrhundert vorherrschenden Klientel- oder Honoratiorenparteien, die kaum mehr waren als ad hoc gebildete Wahlvereinigungen; zweitens die Massenintegrationsparteien, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkamen. Beispiele waren die sozialistischen und katholischen Parteien. Sie zielten auf eine möglichst hohe Mitgliederzahl und versuchten, ihre Mitglieder und Wähler auf der Grundlage einer gemeinsamen Ideologie oder Weltanschauung zu mobilisieren. Ihre Wählerschaft blieb aber auf bestimmte Gruppen (oder Schichten) beschränkt, die sich mit der Ideologie identifizieren konnten, während andere Wählerschichten nicht angesprochen wurden. Für seine Gegenwart meinte Kirchheimer schließlich die Entstehung von Allerweltsparteien (catch all-party, Volkspartei) beobachten zu können, die sich aus dem Massenintegrationsparteien heraus entwickelten und nunmehr versuchten, alle oder doch fast alle Wähler anzusprechen. Das hatte mehrere wichtige Konsequenzen für die Selbstdarstellung der Parteien, ihre Programme, die Wahlkämpfe wie für den gesamten Stil der politischen Auseinandersetzung. Denn die trennenden Ideologien wurden auch programmatisch abgewertet und rückten in den Hintergrund. Die Politik wurde pragmatischer, die Parteien einander ähnlicher, dadurch aber auch tendenziell beliebig und austauschbar. Gerade deswegen stieg die Bedeutung des politischen Personals. Thematisch bevorzugten die Allerweltsparteien Inhalte, die keine ideologischen Gräben aufwarfen und mit denen sich mehr oder weniger alle Bürger identifizieren konnten, wie z.B. Bildung oder wissenschaftlicher Fortschritt.
Die Bedeutung von Kirchheimers Thesen liegt weniger darin, dass sie wirklich die Realität adäquat beschreiben würden. Vielmehr war er einer der ersten, die erkannt hatten, dass die Parteien sich zunehmend wie Unternehmen an einem Markt orientierten und versuchten, dem Bürger mit Hilfe von zunehmend professioneller Werbung etwas zu verkaufen. Kurz gesagt, das Parteiensystem wurde in dieser Zeit von der Logik des Massenkonsums erfasst, und unterschied sich dadurch wesentlich von den ideologisch geprägten Grabenkämpfen der Zwischenkriegszeit (vor allem, aber nicht nur in Deutschland).
Kirchheimers Thesen gelten heute als widerlegt. Zum einen kam es im Zuge der 68er-Bewegung jedenfalls kurzfristig zu einer Re-Ideologisierung der Politik. Die von ihm diagnostizierte Entideologisierung der Parteien ist somit keine Einbahnstraße. Zum anderen aber verloren die Allerweltsparteien seit den 70ern zunehmend an Bindekraft. Was Kirchheimer nicht vorausgesehen hat, war der Aufstieg von kleineren Parteien, die entlang neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien entstanden: ökologische Parteien wie die Grünen, rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien (Republikaner, Front National etc.) oder regionalistische Parteien.
Betrachtet man, unabhängig von Kirchheimers Thesen, die Parteienlandschaften Westeuropas in den 50er und 60er Jahren, so fällt ein Aspekt sofort ins Auge: die Stärke der bürgerlichen (christdemokratischen oder konservativen) und die relative Schwäche der linken Parteien. Außerhalb von Skandinavien traf man kaum auf sozialistische oder sozialdemokratische Regierungschefs. In Deutschland war die SPD zwar seit 1966 an der Regierung beteiligt, jedoch zunächst als Juniorpartner in einer großen Koalition. Erst 1969 stellte sie den Bundeskanzler. In Großbritannien wurde die Labour Party 1951 aus der Regierung abgewählt und konnte erst 1964 zurückkehren (bis 1970). In Frankreich regierte mit Vincent Auriol zwischen 1947 und 1954 ein sozialistischer Ministerpräsident, danach aber regierten die Gaullisten und anderen Bürgerlichen bis zum Wahlsieg Mitterands 1981. In Italien gab es die erste von einem Sozialisten geführte Regierung (unter Bettino Craxi) der Nachkriegszeit erst 1983. Offenbar war das "Zeitalter des Massenkonsums" für die Linke nicht eben günstig. Die wirtschaftlichen Erfolge wurden eher den Konservativen und Christdemokraten zugeschrieben. Die Sozialisten hatten ihre Probleme mit der modernen Welt des Massenkonsums und wirkten z.T. altbacken, etwa in ihrer Abneigung gegen die moderne Werbung.
Die große Ausnahme bildete, wie erwähnt, Skandinavien. In Schweden regierten die Sozialdemokraten ununterbrochen von 1946 bis 1976, bis 1968 unter Ministerpräsident Tage Erlander. Den Schlüssel zu diesem Erfolg bildete die schon vor dem Krieg erfolgte Öffnung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für andere Bevölkerungsschichten, vor allem Bauern, und der Ausbau des Sozialstaates.
Stimmenanteile der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Schweden seit 1921 |
In Großbritannien existierten aufgrund des Mehrheitswahlrechts lange Zeit nur zwei Parteien von Bedeutung, die Konservativen (Tories) und die Labour Party (Arbeiterpartei). Die Labour Party machte zwar ähnlich wie die deutsche SPD bereits in den 50er und 60er Jahren z.B. unter Hugh Gaitskell (Parteichef 1955-63) eine Reformdiskussion durch. Eine dem 1959 von der SPD verabschiedeten "Godesberger Programm" vergleichbare Öffnung der Labour Party kam jedoch erst wesentlich später, letztlich erst mit "New Labour" unter Tony Blair in den 90ern.
Kennzeichnend für Italien schließlich war, neben der weit verbreiteten Korruption, der häufige Wechsel der Regierungen. Zwischen 1950 und 1970 gab es nicht weniger als 23 verschiedene Regierungen in Italien, alle übrigens geführt von den Christdemokraten. Um die Verwirrung nicht allzu groß zu machen, wurden die Regierungen jedoch meist von immer denselben Parteien und Personen gebildet, so dass in Wahrheit die parlamentarische Demokratie nicht so instabil war, wie es den Anschein hatte. Das italienische Parteiensystem brach erst Anfang der 90er Jahre im Zuge der Korruptionsermittlungen der italienischen Justiz zusammen.
Diese kleine Übersicht soll zeigen, dass in dieser Zeit und auch bis heute in den Parteiensystemen wesentliche nationale Besonderheiten existieren, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Dennoch hatte Kirchheimer in gewissem Sinne recht. Der Massenkonsum veränderte die Parteien genauso sehr wie sie ihn. Die wirtschaftlichen Erfolge und die Steigerung des Lebensstandards wurden stärker den bürgerlichen Parteien als den Sozialdemokraten zugeschrieben, von denen man eher eine gerechte Verteilung auf niedrigem Niveau, im Sinne der Rationierung der unmittelbaren Nachkriegszeit, erwartete, als den Aufbruch in die neue Welt des Massenkonsums. Die Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, mussten sich wandeln, um neue Schichten ansprechen zu können, und begannen, Methoden aus dem wirtschaftlichen Bereich, wie etwa professionelle Wahlwerbung, einzusetzen. Dass gerade die Entwicklung zu Allerweltsparteien zu einer nachlassenden Bindekraft der großen Parteien führte, darin liegt die Ironie der Geschichte.
Dienstag, 3. Juni 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Jugend und Jugendkulturen
Die Vorlesung behandelte die Entstehung von (kommerziellen) Jugendkulturen in den 1950er und 60er Jahren. Jugend ist keine überhistorische Kategorie, sondern hat eine eigene Geschichte. Insbesondere ist die Anerkennung von Jugend als eigene Lebensphase ein historisch gesehen relativ neues Phänomen, das erst mit der Jugendbewegung um 1900 einsetzte. Frühere Gesellschaften kannten zumeist nur Kinder und Erwachsene, aber nicht Jugendliche oder Heranwachsende als eigene Stufe der Entwicklung. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen vollzog sich früher und schneller. Schuld an der Entstehung einer oft als problematisch wahrgenommenen, bisweilen aber auch glorifizierten, Jugendphase war die Verlängerung der Ausbildungszeiten und der spätere Eintritt ins Erwachsenenalter in den modernen westeuropäischen Gesellschaften.
Der Anfang der deutschen Jugendbewegung wird meist auf die Gründung des "Wandervogels" an einem Berliner Gymnasium 1901 datiert. Die an sich recht einfache Idee war, den Schulunterricht durch Exkursionen und Ausflüge zu bereichern. Gleichzeitig sollte das Gemeinschaftsgefühl der Schüler gestärkt werden. Der "Wandervogel" war ursprünglich eine bürgerliche Jugendbewegung, doch die 1905 (in Österreich bereits 1895) gegründete, der SPD nahe stehende Organisation "Naturfreunde" verfolgte ähnliche Ziele für die Arbeiterjugend. Ähnliche Gedanken, allerdings mit einer charakteristischen Betonung der militärischen Komponente, lagen den 1908 in Großbritannien gegründeten "Boy Scouts" (Pfadfindern) zugrunde. Ihr Gründer war der britische Kavallerie-Offizier Robert Baden-Powell (1857-1941).
Weitergeführt wurden diese Ideen von der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik, die sich politisch zunehmend nach rechts wendete, und von der 1926 gegründeten Hitler-Jugend. Kennzeichnend für die Bündische Jugend war das Ideal eines klassenübergreifenden Jugendbundes mit einem eigenen Ehrenkodex. Auch in der Pfadfinderbewegung und der Hitler-Jugend sollte die gemeinsame Kleidung soziale Unterschiede verdecken.
Somit war die Jugend als eigene Lebensphase bereits fest etabliert, als in den 50er Jahren der "Teenager" entdeckt wurde. Anders als der Hitler-Junge oder der bündische Jugendliche war er nicht Teil einer festen Gemeinschaft (allenfalls einer Clique), sondern wurde schon Ende der 50er Jahre als Konsument entdeckt. Marktforscher stellten fest, dass Teenager bei bestimmten Produkten (Schallplatten und Radios, Kosmetik und Kleidung) einen großen Teil der Nachfrage stellten. In der Tat begannen sich Jugendliche in Kleidung und kulturellen Präferenzen (Musikgeschmack, Freizeitbeschäftigung, Kleidung) deutlich von ihren Eltern zu unterscheiden. Tendenziell war der "Teenager" zudem ein klassenübergreifendes Phänomen.
Bevor der jugendliche Konsument entdeckt wurde, dominierten Abwehrreaktionen auf die neue jugendliche Subkultur. Insbesondere das Problem des "Halbstarken" (nach dem gleichnamigen Film von 1956) beherrschte die öffentliche Diskussion. Der Jugendliche wurde hierin als Delinquent oder Rowdy wahrgenommen. Der typische Halbstarke trug Jeans, rauchte, fuhr Motorrad und war gewaltbereit. Halbstarkenkrawalle gab es in mehreren deutschen, amerikanischen und europäischen Großstädten, häufig im Anschluss an Rockkonzerte oder Kinovorführungen. Nach heutigen Maßstäben allerdings war der Sachschaden meist gering, die Gewalt eskalierte oft erst nach dem übermäßig harten Eingreifen der Polizei, wie bei den Schwabinger Krawallen 1962, an denen unter anderen der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader beteiligt war.
Ähnliche Phänomene gab es, wie erwähnt, in anderen Ländern. "Halbstarke" wurden in Frankreich "blousons noirs" genannt, in England gab es die "Teddy Boys". Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen dieser Zeit dürfte zu diesen Gruppen gehört haben, aber in der öffentlichen Diskussion waren sie v.a. Mitte bis Ende der 50er Jahre sehr präsent
Die Halbstarkenkrawalle waren unpolitisch, was sich von der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre ("68er") nicht behaupten lässt. Ideologisch waren sie inspiriert von den heterogenen Strömungen einer sich um 1960 herausbildenden "neuen Linken", aber kulturell standen die meisten von ihnen der sich im Lauf der 60er Jahre entstehenden Alternativkultur nahe. Diese hatte Mitte der 60er Jahre ihren Hauptsitz in London, wo neue Modetrends gemacht wurden (der Minirock) oder neueste Musiktrends ihren Ursprung hatten (auch wenn die Beatles ursprünglich aus Liverpool waren). Diese Alternativkultur war eigentlich keine reine Jugendkultur, sondern sie umfasste auch viele junge Erwachsene, aber sie hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung.
Die Ursachen der Proteste von "1968", die nicht auf dieses eine Jahr beschränkt blieben, sind komplex. War es nicht letztlich ein "Aufstand im Schlaraffenland" (Matthias Horx) nach 20 Jahren Wirtschaftswachstum? Einige Faktoren waren national spezifisch, andere überschritten nationale Grenzen, wieder andere waren situativer Natur. So sind an sich friedliche Proteste, die sich in ihren Formen an der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung orientierten, durch Polizeigewalt häufig erst radikalisiert worden, wie in Deutschland durch die Erschießung eines unbewaffneten Studenten bei einer Demonstration 1967.
Letztlich drückte sich in den Protesten ein Wandel von "materialistischen" zu "postmaterialistischen" Werten (Ronald Inglehart) aus. Der schnelle soziale Wandel der zwei Nachkriegsjahrzehnte führte dazu, dass der Erfahrungshorizont der Heranwachsenden ein ganz anderer war als derjenige der Elterngeneration (auch wenn es sich bei den Protestierenden eher um eine Minderheit gehandelt haben dürfte). Die sozialen und materiellen Errungenschaften dieser Zeit wurden nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber doch relativiert, z.B. unter Verweis auf Missstände in Ländern der so genannten "Dritten Welt". Die Konsumgesellschaft wurde dagegen als "Warenfetisch" (Karl Marx) z.T. heftig kritisiert, da sie die Menschen zu sinnlosem Konsumieren animiere, anstatt sich um die wirklichen Probleme der Welt und zuhause zu kümmern. Die Argumente waren nicht unbedingt neu, sondern schon in den 50er Jahren von kritischen Intellektuellen wie Vance Packard in die Debatte gebracht worden.
Auch die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit spielte eine Rolle. Die Hochschulen waren auf den Ansturm der Studenten schlecht vorbereitet, und die Studenten forderten mehr Mitspracherechte in häufig sehr traditionellen, autoritären Strukturen.
Was die Studentenbewegungen in den einzelnen Ländern neben dem Kampf gegen autoritäre Strukturen inner- wie außerhalb der Universitäten verband, war der Protest gegen den Vietnam-Krieg. Er verlieh den Protesten eine transnationale Dimension, während die Bildungsssysteme (trotz der international zu beobachtenden Bildungsexpansion) große nationale Unterschiede aufwiesen. In Deutschland kam noch der Protest gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze hinzu. Auch spielte hier die Thematisierung der NS-Vergangenheit eine größere Rolle als anderswo.
Obwohl die Proteste durchaus allgemeinpolitische Themen ansprachen und einige Gruppen das Bündnis mit anderen Kräften wie Gewerkschaften suchten, sprang der Funke auf die Arbeiter nur in Frankreich und in Italien über. In Paris besetzten die Studenten im Mai 1968 die ehrwürdige Sorbonne und Arbeiter traten in "wilde" Streiks mit dem etwas diffusen Ziel der Selbstverwaltung. In Italien fanden Arbeitskämpfe erst im Herbst 1968 statt, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. In Großbritannien blieben die Proteste, die ihren Höhepunkt im Oktober 1968 erreichten, weitgehend friedlich. Die Proteste und Aktionen in Deutschland erreichten ihre Höhepunkte nach der Erschießung Benno Ohnesorgs im Juni 1967, mit dem internationalen Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968.
Die Bewertung von "68" ist bis heute umstritten. In ihren unmittelbaren Zielen ist die Protestbewegung weitgehend gescheitert, aber sie trug doch zu den bereits früher einsetzenden Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in Westeuropa bei. Für die Geschichte der Jugend ist zu konstatieren, dass der Versuch einiger Theoretiker der "neuen Linken" scheiterte, die Studenten zur neuen Avantgarde der sozialistischen Revolution zu machen, . Was dagegen blieb, war eine kommerzialisierte Jugendkultur, die sich sowohl nach außen gegenüber der dominanten Kultur als auch nach innen durch Differenzierung in verschiedene Subkulturen abgrenzte. Dass sich verschiedene Jugendkulturen vor allem über das Hören bestimmter Musik und das Tragen bestimmter Kleidung definieren (Punks, Gruftis, Hippies, Skinheads u.a.), ist für uns heute selbstverständlich, aber doch historisch gesehen eine recht junge, an den Durchbruch des Massenkonsums gebundene Erscheinung. Die meisten dieser Jugendkulturen sind unpolitisch, aber eine Politisierung sowohl von links wie auch von rechts ist keineswegs ausgeschlossen.
Der Anfang der deutschen Jugendbewegung wird meist auf die Gründung des "Wandervogels" an einem Berliner Gymnasium 1901 datiert. Die an sich recht einfache Idee war, den Schulunterricht durch Exkursionen und Ausflüge zu bereichern. Gleichzeitig sollte das Gemeinschaftsgefühl der Schüler gestärkt werden. Der "Wandervogel" war ursprünglich eine bürgerliche Jugendbewegung, doch die 1905 (in Österreich bereits 1895) gegründete, der SPD nahe stehende Organisation "Naturfreunde" verfolgte ähnliche Ziele für die Arbeiterjugend. Ähnliche Gedanken, allerdings mit einer charakteristischen Betonung der militärischen Komponente, lagen den 1908 in Großbritannien gegründeten "Boy Scouts" (Pfadfindern) zugrunde. Ihr Gründer war der britische Kavallerie-Offizier Robert Baden-Powell (1857-1941).
Weitergeführt wurden diese Ideen von der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik, die sich politisch zunehmend nach rechts wendete, und von der 1926 gegründeten Hitler-Jugend. Kennzeichnend für die Bündische Jugend war das Ideal eines klassenübergreifenden Jugendbundes mit einem eigenen Ehrenkodex. Auch in der Pfadfinderbewegung und der Hitler-Jugend sollte die gemeinsame Kleidung soziale Unterschiede verdecken.
Somit war die Jugend als eigene Lebensphase bereits fest etabliert, als in den 50er Jahren der "Teenager" entdeckt wurde. Anders als der Hitler-Junge oder der bündische Jugendliche war er nicht Teil einer festen Gemeinschaft (allenfalls einer Clique), sondern wurde schon Ende der 50er Jahre als Konsument entdeckt. Marktforscher stellten fest, dass Teenager bei bestimmten Produkten (Schallplatten und Radios, Kosmetik und Kleidung) einen großen Teil der Nachfrage stellten. In der Tat begannen sich Jugendliche in Kleidung und kulturellen Präferenzen (Musikgeschmack, Freizeitbeschäftigung, Kleidung) deutlich von ihren Eltern zu unterscheiden. Tendenziell war der "Teenager" zudem ein klassenübergreifendes Phänomen.
Bevor der jugendliche Konsument entdeckt wurde, dominierten Abwehrreaktionen auf die neue jugendliche Subkultur. Insbesondere das Problem des "Halbstarken" (nach dem gleichnamigen Film von 1956) beherrschte die öffentliche Diskussion. Der Jugendliche wurde hierin als Delinquent oder Rowdy wahrgenommen. Der typische Halbstarke trug Jeans, rauchte, fuhr Motorrad und war gewaltbereit. Halbstarkenkrawalle gab es in mehreren deutschen, amerikanischen und europäischen Großstädten, häufig im Anschluss an Rockkonzerte oder Kinovorführungen. Nach heutigen Maßstäben allerdings war der Sachschaden meist gering, die Gewalt eskalierte oft erst nach dem übermäßig harten Eingreifen der Polizei, wie bei den Schwabinger Krawallen 1962, an denen unter anderen der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader beteiligt war.
Ähnliche Phänomene gab es, wie erwähnt, in anderen Ländern. "Halbstarke" wurden in Frankreich "blousons noirs" genannt, in England gab es die "Teddy Boys". Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen dieser Zeit dürfte zu diesen Gruppen gehört haben, aber in der öffentlichen Diskussion waren sie v.a. Mitte bis Ende der 50er Jahre sehr präsent
Die Halbstarkenkrawalle waren unpolitisch, was sich von der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre ("68er") nicht behaupten lässt. Ideologisch waren sie inspiriert von den heterogenen Strömungen einer sich um 1960 herausbildenden "neuen Linken", aber kulturell standen die meisten von ihnen der sich im Lauf der 60er Jahre entstehenden Alternativkultur nahe. Diese hatte Mitte der 60er Jahre ihren Hauptsitz in London, wo neue Modetrends gemacht wurden (der Minirock) oder neueste Musiktrends ihren Ursprung hatten (auch wenn die Beatles ursprünglich aus Liverpool waren). Diese Alternativkultur war eigentlich keine reine Jugendkultur, sondern sie umfasste auch viele junge Erwachsene, aber sie hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung.
Die Ursachen der Proteste von "1968", die nicht auf dieses eine Jahr beschränkt blieben, sind komplex. War es nicht letztlich ein "Aufstand im Schlaraffenland" (Matthias Horx) nach 20 Jahren Wirtschaftswachstum? Einige Faktoren waren national spezifisch, andere überschritten nationale Grenzen, wieder andere waren situativer Natur. So sind an sich friedliche Proteste, die sich in ihren Formen an der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung orientierten, durch Polizeigewalt häufig erst radikalisiert worden, wie in Deutschland durch die Erschießung eines unbewaffneten Studenten bei einer Demonstration 1967.
Letztlich drückte sich in den Protesten ein Wandel von "materialistischen" zu "postmaterialistischen" Werten (Ronald Inglehart) aus. Der schnelle soziale Wandel der zwei Nachkriegsjahrzehnte führte dazu, dass der Erfahrungshorizont der Heranwachsenden ein ganz anderer war als derjenige der Elterngeneration (auch wenn es sich bei den Protestierenden eher um eine Minderheit gehandelt haben dürfte). Die sozialen und materiellen Errungenschaften dieser Zeit wurden nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber doch relativiert, z.B. unter Verweis auf Missstände in Ländern der so genannten "Dritten Welt". Die Konsumgesellschaft wurde dagegen als "Warenfetisch" (Karl Marx) z.T. heftig kritisiert, da sie die Menschen zu sinnlosem Konsumieren animiere, anstatt sich um die wirklichen Probleme der Welt und zuhause zu kümmern. Die Argumente waren nicht unbedingt neu, sondern schon in den 50er Jahren von kritischen Intellektuellen wie Vance Packard in die Debatte gebracht worden.
Auch die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit spielte eine Rolle. Die Hochschulen waren auf den Ansturm der Studenten schlecht vorbereitet, und die Studenten forderten mehr Mitspracherechte in häufig sehr traditionellen, autoritären Strukturen.
Was die Studentenbewegungen in den einzelnen Ländern neben dem Kampf gegen autoritäre Strukturen inner- wie außerhalb der Universitäten verband, war der Protest gegen den Vietnam-Krieg. Er verlieh den Protesten eine transnationale Dimension, während die Bildungsssysteme (trotz der international zu beobachtenden Bildungsexpansion) große nationale Unterschiede aufwiesen. In Deutschland kam noch der Protest gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze hinzu. Auch spielte hier die Thematisierung der NS-Vergangenheit eine größere Rolle als anderswo.
Obwohl die Proteste durchaus allgemeinpolitische Themen ansprachen und einige Gruppen das Bündnis mit anderen Kräften wie Gewerkschaften suchten, sprang der Funke auf die Arbeiter nur in Frankreich und in Italien über. In Paris besetzten die Studenten im Mai 1968 die ehrwürdige Sorbonne und Arbeiter traten in "wilde" Streiks mit dem etwas diffusen Ziel der Selbstverwaltung. In Italien fanden Arbeitskämpfe erst im Herbst 1968 statt, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. In Großbritannien blieben die Proteste, die ihren Höhepunkt im Oktober 1968 erreichten, weitgehend friedlich. Die Proteste und Aktionen in Deutschland erreichten ihre Höhepunkte nach der Erschießung Benno Ohnesorgs im Juni 1967, mit dem internationalen Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968.
Die Bewertung von "68" ist bis heute umstritten. In ihren unmittelbaren Zielen ist die Protestbewegung weitgehend gescheitert, aber sie trug doch zu den bereits früher einsetzenden Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in Westeuropa bei. Für die Geschichte der Jugend ist zu konstatieren, dass der Versuch einiger Theoretiker der "neuen Linken" scheiterte, die Studenten zur neuen Avantgarde der sozialistischen Revolution zu machen, . Was dagegen blieb, war eine kommerzialisierte Jugendkultur, die sich sowohl nach außen gegenüber der dominanten Kultur als auch nach innen durch Differenzierung in verschiedene Subkulturen abgrenzte. Dass sich verschiedene Jugendkulturen vor allem über das Hören bestimmter Musik und das Tragen bestimmter Kleidung definieren (Punks, Gruftis, Hippies, Skinheads u.a.), ist für uns heute selbstverständlich, aber doch historisch gesehen eine recht junge, an den Durchbruch des Massenkonsums gebundene Erscheinung. Die meisten dieser Jugendkulturen sind unpolitisch, aber eine Politisierung sowohl von links wie auch von rechts ist keineswegs ausgeschlossen.
Montag, 2. Juni 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Die "neue Frau"
Die Vorlesung fragt am Beispiel der "neuen Frau" nach dem Wandel der Geschlechterstereotypen und Geschlechterverhältnisse im Westeuropa der 1950er und 60er Jahre. Im 19. Jahrhundert war die Trennung der Geschlechter und die stereotype Zuordnung von Frauen auf die häusliche Sphäre verschärft worden. In der Konsumgesellschaft des 19. Jahrhunderts kam der Frau, jedenfalls in den oberen und z.T. in den mittleren Schichten, die Funktion zu, den Wohlstand des Mannes zu demonstrieren (Thorstein Veblen). Die Damenmode war daher fortwährend im Wandel begriffen, während die (bürgerlichen) Herren sich scheinbar daraus zurückzogen und einen schlichten dunklen Anzug trugen.
Die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts kämpfte für das Recht auf Bildung, auf Erwerbsarbeit und das Wahlrecht. Diese Forderungen wurden erst im 20. Jahrhundert verwirklicht: das Wahlrecht in Deutschland 1918, in Großbritannien 1928, in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien oder Belgien erst in den 1940er Jahren. Bis 1977 konnte in der Bundesrepublik Deutschland der Ehemann gegen die Erwerbsarbeit seiner Frau Einspruch einlegen, wenn dies seiner Meinung nach zu einer Beeinträchtigung ihrer häuslichen Pflichten führte.
Zwar war der Begriff "new woman" auch schon in den USA der Jahrhundertwende gebräuchlich, aber die eigentlichen Vorläufer waren die "flappers" der 20er Jahre, die eine neue Mode (kurze Haare, schlanke Figur, Verzicht auf Mieder) einführten und einen unabhängigen Lebensstil pflegten. Diese Bewegung dürfte sozial beschränkt gewesen sein.
Das wichtigste Medium zur Popularisierung des neuen Frauenbildes waren die Frauenzeitschriften. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg begannen sie, arbeitende Frauen darzustellen, und Feministinnen wie Eleanor Roosevelt schrieben Artikel für Zeitschriften wie "Woman´s Home Companion". In Westeuropa waren es Zeitschriften wie "Elle" in Frankreich (ab 1947) oder die "Brigitte" (nach einer Neugestaltung 1957), die das neue Frauenbild propagierten. Die "neue Frau" wurde darin durchweg als modern, selbstbewusst (aber dennoch in einer festen Partnerschaft lebend) und konsumorientiert porträtiert. Die "neue Frau" konsumierte, so die Botschaft, nun mehr für sich selber anstatt immer nur die Wünsche des Mannes zu erfüllen. Ein solcher Konsumfeminismus ("commodity feminism", Robert Goldman) war lukrativ. Viele Frauenzeitschriften bestanden im Wesentlichen nämlich aus Werbung: ungefähr zur Hälfte aus gekennzeichneter Werbung und zu einem weiteren Viertel aus redaktionellen Kaufempfehlungen, bei denen es sich um verdeckte Werbung gehandelt haben dürfte.
Die "neue Frau" war aber nicht nur ein Medienphänomen. Obwohl in den 50er Jahren in einigen Ländern wie Italien oder Irland die katholische Kirche einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatte und das Ideal der Mütterlichkeit stark betont wurde (Marina D´Amelia), nahm die Erwerbsarbeit von Frauen seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu. Zunehmend gingen vor allem auch verheiratete Frauen arbeiten, während nach den traditionellen Vorstellungen Frauen nur bis zur Heirat einer außer-häuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen durften.
Die ob-Werbung aus der "Brigitte" von 1957 demonstriert das neue Frauenbild. Die moderne Frau ist unabhängig (als Hausfrau, Mutter oder im Beruf) und genießt das Leben, während die Großmutter auf vieles verzichten musste:
Der Frauenbewegung der 70er Jahre war das Ideal der "neuen Frau" jedoch nicht mehr emanzipiert genug. Die Frauenzeitschriften gerieten zunehmend in die Kritik einer neuen Generation von Feministinnen, haben aber dennoch eine große Leserschaft. Die "neue Frau" ist heute aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden, könnte aber in der Praxis durchaus weiterleben. Dieses Frauenbild stellt eine in gewisser Weise durchaus angemessene Reaktion auf den Durchbruch des Massenkonsums dar: Frauen wurden zwar schon traditionell mit Konsum (und Männer mit Produktion) identifiziert, aber dennoch konnte die Frau als Konsumentin um ihrer selbst Willen neu entdeckt werden. Damit vereinigte sich eine Auflockerung, wenn auch nicht unbedingt Ablösung, der traditionellen Geschlechterrollen mit der Ausweitung des Konsums.
Die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts kämpfte für das Recht auf Bildung, auf Erwerbsarbeit und das Wahlrecht. Diese Forderungen wurden erst im 20. Jahrhundert verwirklicht: das Wahlrecht in Deutschland 1918, in Großbritannien 1928, in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien oder Belgien erst in den 1940er Jahren. Bis 1977 konnte in der Bundesrepublik Deutschland der Ehemann gegen die Erwerbsarbeit seiner Frau Einspruch einlegen, wenn dies seiner Meinung nach zu einer Beeinträchtigung ihrer häuslichen Pflichten führte.
Zwar war der Begriff "new woman" auch schon in den USA der Jahrhundertwende gebräuchlich, aber die eigentlichen Vorläufer waren die "flappers" der 20er Jahre, die eine neue Mode (kurze Haare, schlanke Figur, Verzicht auf Mieder) einführten und einen unabhängigen Lebensstil pflegten. Diese Bewegung dürfte sozial beschränkt gewesen sein.
Das wichtigste Medium zur Popularisierung des neuen Frauenbildes waren die Frauenzeitschriften. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg begannen sie, arbeitende Frauen darzustellen, und Feministinnen wie Eleanor Roosevelt schrieben Artikel für Zeitschriften wie "Woman´s Home Companion". In Westeuropa waren es Zeitschriften wie "Elle" in Frankreich (ab 1947) oder die "Brigitte" (nach einer Neugestaltung 1957), die das neue Frauenbild propagierten. Die "neue Frau" wurde darin durchweg als modern, selbstbewusst (aber dennoch in einer festen Partnerschaft lebend) und konsumorientiert porträtiert. Die "neue Frau" konsumierte, so die Botschaft, nun mehr für sich selber anstatt immer nur die Wünsche des Mannes zu erfüllen. Ein solcher Konsumfeminismus ("commodity feminism", Robert Goldman) war lukrativ. Viele Frauenzeitschriften bestanden im Wesentlichen nämlich aus Werbung: ungefähr zur Hälfte aus gekennzeichneter Werbung und zu einem weiteren Viertel aus redaktionellen Kaufempfehlungen, bei denen es sich um verdeckte Werbung gehandelt haben dürfte.
Die "neue Frau" war aber nicht nur ein Medienphänomen. Obwohl in den 50er Jahren in einigen Ländern wie Italien oder Irland die katholische Kirche einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatte und das Ideal der Mütterlichkeit stark betont wurde (Marina D´Amelia), nahm die Erwerbsarbeit von Frauen seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu. Zunehmend gingen vor allem auch verheiratete Frauen arbeiten, während nach den traditionellen Vorstellungen Frauen nur bis zur Heirat einer außer-häuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen durften.
Die ob-Werbung aus der "Brigitte" von 1957 demonstriert das neue Frauenbild. Die moderne Frau ist unabhängig (als Hausfrau, Mutter oder im Beruf) und genießt das Leben, während die Großmutter auf vieles verzichten musste:
Der Frauenbewegung der 70er Jahre war das Ideal der "neuen Frau" jedoch nicht mehr emanzipiert genug. Die Frauenzeitschriften gerieten zunehmend in die Kritik einer neuen Generation von Feministinnen, haben aber dennoch eine große Leserschaft. Die "neue Frau" ist heute aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden, könnte aber in der Praxis durchaus weiterleben. Dieses Frauenbild stellt eine in gewisser Weise durchaus angemessene Reaktion auf den Durchbruch des Massenkonsums dar: Frauen wurden zwar schon traditionell mit Konsum (und Männer mit Produktion) identifiziert, aber dennoch konnte die Frau als Konsumentin um ihrer selbst Willen neu entdeckt werden. Damit vereinigte sich eine Auflockerung, wenn auch nicht unbedingt Ablösung, der traditionellen Geschlechterrollen mit der Ausweitung des Konsums.
Dienstag, 20. Mai 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Soziale Schichtung, Klassen
Die Vorlesung befasste sich mit der Frage, wie sich die soziale Schichtung oder Klassenstruktur der westeuropäischen Gesellschaften in den 1950er und 60er Jahren veränderte. Hierzu wurden zunächst verschiedene Schichtungsmodelle vorgestellt. Die (marxistische) Einteilung Bürgertum - Arbeiterklasse (bzw. ursprünglich Bourgeoisie - Proletariat) definiert Klassen über deren Stellung im Produktionsprozess. Sie geht von einer zunehmenden Polarisierung zwischen einer immer kleineren Bourgeoisie und dem großen Proletariat aus, die letztlich in einer sozialen Revolution endet. Diese Voraussage hat sich so nicht bewahrheitet. Der Mittelstand oder die Mittelklassen haben sich besser behaupten können als Marx dachte. Nicht-marxistische Soziologen teilen die Sozialstruktur häufig in Ober-, Mittel- und Unterschicht ein, wobei traditionell die Arbeiterklasse in etwa der Unterschicht entspricht, während das Bürgertum in der oberen Mittelschicht und Oberschicht (Großbürgertum) anzusiedeln ist. Im Gegensatz zur marxistischen Polarisierungstheorie wird häufig das Bild der Zwiebel verwendet, in der es eine schmale Oberschicht, eine breite Mittelschicht und eine kleine Schicht von Armen gibt. Hier ein Bild aus den 60er Jahren für die BRD.
In der zeitgenössischen Diskussion und auch noch heute war häufig die Rede von einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky), die angeblich an Stelle der alten Klassengesellschaft getreten sei. Es gab zwar eine gewisse Tendenz der Angleichung der Einkommen, aber von einer Auflösung der Klassen oder Schichten zu sprechen geht doch zu weit. Die nächste Grafik zeigt den Anteil der oberen 10 % am gesamten Einkommen, der in der Tat in allen westeuropäischen Ländern und in den USA rückläufig war (aber nicht dramatisch zurück ging).
Ob sich in dieser Zeit die alten Klassen und Schichten auflösten, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Gegenthese zur "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" hat Ulrich Beck formuliert, der von einem "Fahrstuhleffekt" spricht. Wie in einem Fahrstuhl würden alle Schichten durch das Wirtschaftswachstum und den zunehmenden Wohlstand angehoben, ohne dass sich an der sozialen Ungleichheit an sich etwas ändern würde. Die soziale Ungleichheit wird, so Beck, also nur auf einer höheren Ebene reproduziert.
Richtig daran ist, dass soziale Ungleichheit nicht einfach verschwindet und auch nicht irrelevant wird. Selbst im Wahlverhalten lässt sich, wenn auch mit abnehmender Tendenz, bis heute der Einfluss der sozialen Schicht nachweisen. Dennoch ließen die Wandlungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialstruktur keineswegs unbeeinflusst. Im Ergebnis führten sie allerdings eher zu einer Pluralisierung als zu einer Nivellierung. Am stärksten davon betroffen war die (traditionelle) Arbeiterklasse. Sie war bis 1945 vergleichsweise homogen gewesen und wurde u.a. durch das Wohnen in Arbeitervierteln und eine enge Vereinskultur zusammen gehalten. Mit dem zunehmenden Wohlstand und der Sanierung der Städte verschwanden die alten Arbeiterquartiere. Zudem entstand schon Ende der 50er Jahre die Figur des "wohlhabenden Arbeiters" (affluent worker), die von britischen Soziologen untersucht wurde. Sie argumentierten, dass der wohlhabende Arbeiter nicht "verbürgerlichte", sich also nicht einfach den Werten, Sozialisations- und Konsummustern der Mittelklasse anglich, sondern einen eigenen Typ darstellte. Tendenziell spaltete sich damit die Arbeiterklasse in eine (abnehmende) traditionelle Schicht, die alten Mustern verhaftet blieb, und der neuen, wohlhabenden Arbeiterschicht, die stärker am Massenkonsum partizipierte. Am unteren Ende der Arbeiterklasse schließlich wurde die ethnische Segregation durch die zunehmende Einwanderung verschärft. Die wirtschaftlich stärksten Länder Westeuropas wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und die Schweiz zogen zunehmend Arbeitskräfte aus anderen Ländern an, zum Teil aus der europäischen Peripherie, zum Teil aus den ehemaligen Kolonien bzw. Nordafrika.
Ursprünglich gingen beide Seiten von der Annahme aus, diese Zuwanderung sei nur befristet. De facto aber blieben viele der Migranten in ihrer neuen Heimat, und der Ausländeranteil nahm zu. Traditionelle Auswanderungsländer wie Schweden oder Deutschland wurden nun zu Einwanderungsländern. Italien dagegen blieb bis in die 80er Jahre primär ein Auswanderungsland.
Der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung stieg stetig an. Er war zwar z.B. in Großbritannien mit ca. 6 % (1971) nicht sehr hoch, aber die Zuwanderung konzentrierte sich doch stark im Bereich der Arbeiterklasse, zumal der ungelernten Arbeitskräfte. Bereits in den späten 50er Jahren kam es zu fremdenfeindlichen Aussschreitungen in England. Allerdings dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich fremdenfeindliche und rechtspopulistische Parteien in den westeuropäischen Ländern etablieren konnten.
Somit differenzierte sich die Arbeiterklasse zunehmend aus. Trotz des einsetzenden Strukturwandels ging der Anteil der Arbeiter zunächst kaum zurück. Dafür stieg der Anteil der Angestellten auf Kosten der Selbständigen. Damit ist die wohl wichtigste Veränderung im Bereich des Mittelklasse benannt: die Verschiebung vom "alten Mittelstand" (kleine Selbständige, Handwerker, Ladenbesitzer) zum "neuen Mittelstand" (Angestellte).
Die Mittelklasse war immer recht heterogen, so dass es wohl wenig sinnvoll ist, von einer Auflösung der Mittelklasse zu sprechen. Allerings ist behauptet worden, das traditionelle Bürgertum wäre durch die zunehmende Verbreitung bürgerlicher Werte in allen Schichten weitgehend in einer großen Mittelklasse (oder Mittelschicht) aufgegangen und habe seine Eigentümlichkeit verloren. Dagegen argumentierte der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dass die alten Eliten sich gegen die Aufsteiger mit der Erfindung immer neuer Distinktionen sehr erfolgreich abzugrenzen verstanden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Sozialstruktur ausdifferenzierte, die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten geringer wurden, aber keineswegs einfach verschwanden. Im internationalen Vergleich, der hier allerdings auf zahlreiche methodische Probleme stößt, da die Kategorien von Land zu Land etwas unterschiedlich aufgefasst werden, hält sich die alte Unterscheidung zwischen den Erwerbsklassen (Arbeiter, Mittelstand, Bürgertum) in Frankreich und Großbritannien wohl länger als in der BR Deutschland.
In der zeitgenössischen Diskussion und auch noch heute war häufig die Rede von einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky), die angeblich an Stelle der alten Klassengesellschaft getreten sei. Es gab zwar eine gewisse Tendenz der Angleichung der Einkommen, aber von einer Auflösung der Klassen oder Schichten zu sprechen geht doch zu weit. Die nächste Grafik zeigt den Anteil der oberen 10 % am gesamten Einkommen, der in der Tat in allen westeuropäischen Ländern und in den USA rückläufig war (aber nicht dramatisch zurück ging).
Ob sich in dieser Zeit die alten Klassen und Schichten auflösten, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Gegenthese zur "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" hat Ulrich Beck formuliert, der von einem "Fahrstuhleffekt" spricht. Wie in einem Fahrstuhl würden alle Schichten durch das Wirtschaftswachstum und den zunehmenden Wohlstand angehoben, ohne dass sich an der sozialen Ungleichheit an sich etwas ändern würde. Die soziale Ungleichheit wird, so Beck, also nur auf einer höheren Ebene reproduziert.
Richtig daran ist, dass soziale Ungleichheit nicht einfach verschwindet und auch nicht irrelevant wird. Selbst im Wahlverhalten lässt sich, wenn auch mit abnehmender Tendenz, bis heute der Einfluss der sozialen Schicht nachweisen. Dennoch ließen die Wandlungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialstruktur keineswegs unbeeinflusst. Im Ergebnis führten sie allerdings eher zu einer Pluralisierung als zu einer Nivellierung. Am stärksten davon betroffen war die (traditionelle) Arbeiterklasse. Sie war bis 1945 vergleichsweise homogen gewesen und wurde u.a. durch das Wohnen in Arbeitervierteln und eine enge Vereinskultur zusammen gehalten. Mit dem zunehmenden Wohlstand und der Sanierung der Städte verschwanden die alten Arbeiterquartiere. Zudem entstand schon Ende der 50er Jahre die Figur des "wohlhabenden Arbeiters" (affluent worker), die von britischen Soziologen untersucht wurde. Sie argumentierten, dass der wohlhabende Arbeiter nicht "verbürgerlichte", sich also nicht einfach den Werten, Sozialisations- und Konsummustern der Mittelklasse anglich, sondern einen eigenen Typ darstellte. Tendenziell spaltete sich damit die Arbeiterklasse in eine (abnehmende) traditionelle Schicht, die alten Mustern verhaftet blieb, und der neuen, wohlhabenden Arbeiterschicht, die stärker am Massenkonsum partizipierte. Am unteren Ende der Arbeiterklasse schließlich wurde die ethnische Segregation durch die zunehmende Einwanderung verschärft. Die wirtschaftlich stärksten Länder Westeuropas wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und die Schweiz zogen zunehmend Arbeitskräfte aus anderen Ländern an, zum Teil aus der europäischen Peripherie, zum Teil aus den ehemaligen Kolonien bzw. Nordafrika.
Ursprünglich gingen beide Seiten von der Annahme aus, diese Zuwanderung sei nur befristet. De facto aber blieben viele der Migranten in ihrer neuen Heimat, und der Ausländeranteil nahm zu. Traditionelle Auswanderungsländer wie Schweden oder Deutschland wurden nun zu Einwanderungsländern. Italien dagegen blieb bis in die 80er Jahre primär ein Auswanderungsland.
Der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung stieg stetig an. Er war zwar z.B. in Großbritannien mit ca. 6 % (1971) nicht sehr hoch, aber die Zuwanderung konzentrierte sich doch stark im Bereich der Arbeiterklasse, zumal der ungelernten Arbeitskräfte. Bereits in den späten 50er Jahren kam es zu fremdenfeindlichen Aussschreitungen in England. Allerdings dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich fremdenfeindliche und rechtspopulistische Parteien in den westeuropäischen Ländern etablieren konnten.
Somit differenzierte sich die Arbeiterklasse zunehmend aus. Trotz des einsetzenden Strukturwandels ging der Anteil der Arbeiter zunächst kaum zurück. Dafür stieg der Anteil der Angestellten auf Kosten der Selbständigen. Damit ist die wohl wichtigste Veränderung im Bereich des Mittelklasse benannt: die Verschiebung vom "alten Mittelstand" (kleine Selbständige, Handwerker, Ladenbesitzer) zum "neuen Mittelstand" (Angestellte).
Die Mittelklasse war immer recht heterogen, so dass es wohl wenig sinnvoll ist, von einer Auflösung der Mittelklasse zu sprechen. Allerings ist behauptet worden, das traditionelle Bürgertum wäre durch die zunehmende Verbreitung bürgerlicher Werte in allen Schichten weitgehend in einer großen Mittelklasse (oder Mittelschicht) aufgegangen und habe seine Eigentümlichkeit verloren. Dagegen argumentierte der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dass die alten Eliten sich gegen die Aufsteiger mit der Erfindung immer neuer Distinktionen sehr erfolgreich abzugrenzen verstanden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Sozialstruktur ausdifferenzierte, die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten geringer wurden, aber keineswegs einfach verschwanden. Im internationalen Vergleich, der hier allerdings auf zahlreiche methodische Probleme stößt, da die Kategorien von Land zu Land etwas unterschiedlich aufgefasst werden, hält sich die alte Unterscheidung zwischen den Erwerbsklassen (Arbeiter, Mittelstand, Bürgertum) in Frankreich und Großbritannien wohl länger als in der BR Deutschland.
Dienstag, 13. Mai 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Bildungsexpansion und Sozialstaat
Die Vorlesung sollte darauf hinweisen, dass nicht nur der private Konsum von materiellen Gütern (Autos, Waschmaschinen etc.) in den 50er und 60er Jahren stark zunahm, sondern auch der Konsum von Dienstleistungen (Bildung, Gesundheitswesen) sowie die Sozialausgaben. In der Tat gilt der europäische Sozialstaat als ein Kennzeichen, das die (west-)europäischen Gesellschaften von ähnlichen Gesellschaften (z.B. USA) unterscheidet. Die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit war hingegen kein europäisches Charakteristikum, sondern eine globale Erscheinung.
Der europäische Sozialstaat hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Viele Einrichtungen und Regelungen zur Daseinsvorsorge gehen auf das späte 19. Jahrhundert zurück, wie z.B. die deutschen Sozialversicherungen. Generell sollen die Sozialversicherungen oder Sozialleistungen mehrere wesentliche Armutsrisiken beseitigen oder doch lindern: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfälle. In den westeuropäischen Ländern existierten bis 1945 eine Vielzahl heterogener Leistungen und Anbieter, sowohl staatlich als auch privat. Der generelle Trend ging dahin, das Sozialsystem zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dementsprechend stiegen die Sozialausgaben in ganz Europa, wie das folgende Schaubild zeigt, stärker als die ohnehin stark wachsende Wirtschaft. Als Problem gesehen wurde dies aber erst in den 70er Jahren, als die Wirtschaft nicht mehr so rasch wuchs oder gar stagnierte.
Gleichzeitig nahm der Erfassungsgrad der Sozialversicherungen in Ländern wie Deutschland oder Schweden zu (http://www.uni-muenster.de/Geschichte/SWG-Online/sozialstaat/quellen/erfassung.htm).
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Expansion des Sozialstaats bis in die 70er Jahre von einer breiten politischen Koalition getragen wurde, die von Kommunisten (PCF in Frankreich) bis zu Christdemokraten in Deutschland oder Italien reichte. In Großbritannien wurden die wichtigsten Sozialreformen zwar von der Labour Party in den ersten Jahren nach 1945 durchgesetzt. Aber auch die ab 1951 regierenden Konservativen wagten nicht, sie rückgängig zu machen.
Strukturell gesehen existierten im Wesentlichen zwei Modelle. Das eine war das der deutschen Sozialversicherungen, die seit dem Kaiserreich existiert hatten (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung, die erst in der Weimarer Republik eingeführt wurde). Es konzentrierte sich vor allem auf Arbeitnehmer (ursprünglich sogar nur auf Arbeiter). Die Finanzierung erfolgte in Abhängigkeit vom Einkommen paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das andere Modell war das britische, das auf den Beveridge-Report von 1942 zurück ging. Hierbei handelte es sich eher um eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger im arbeitsfähigen Alter einen festgesetzten Betrag einzahlten. Die Leistungen waren eher gering bemessen und sollten private Initiative nicht verdrängen. Auch das deutsche Modell sah allerdings zunächst nur eine Grundsicherung vor. Die ausgezahlte Rente war auf einen bestimmten Betrag fixiert und wurde nicht der allgemeinen Einkommens- und Preisentwicklung angepasst. Das änderte sich erst mit der Rentenreform von 1957, die spürbare Rentenerhöhungen in der Folgezeit mit sich brachte (s. Schaubild) und das Problem der Altersarmut weitgehend beseitigte.
Die Bildungsexpansion in Europa war ein mehrdimensionaler Prozess, der Bildung letztlich zum Massenkonsumgut machte, während sie vorher nur einer kleinen Elite zuteil wurde (abgesehen von der Elementarbildung). Die Bildungsexpansion lässt sich nicht auf die Hochschulexpansion reduzieren, sondern erfolgte auf allen Ebenen. Im Primarschulbereich konnten die letzten Inseln des Analphabetismus (v.a. in Südeuropa) beseitigt werden. Die Zahl der Menschen mit Sekundarschulbildung begann schon in der Zwischenkriegszeit zu expandieren. Diese Expansion des sekundären Bildungssektors war eine wichtige Voraussetzung für die später einsetzende Hochschulexpansion.Sie war besonders markant in den Niederlanden, Belgien und Italien, schwächer dagegen in Deutschland und Großbritannien.
Der Hochschulbesuch war noch 1910 das Vorrecht einer kleinen Elite von ca. 1 % der entsprechenden Altersgruppe. Auch 1950 bewegten sich die Zahlen noch im einstelligen Prozentbereich (in Westeuropa 3-4 %). Die Expansion setzte dann in den 50er Jahren ein und setzte sich, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in den folgenden Jahrzehnten fort. Mitte der 90er stellten Studenten in europäischen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien bereits eine Mehrheit der 20-24jährigen, in anderen nur noch eine knappe Minderheit.
Die Dynamik hinter der Expansion verdankt sich mehreren Faktoren. Zum einen nahm die Nachfrage nach höherer Bildung deutlich zu. Das beruhte ganz einfach auf den gestiegenen Einkommen, die ein Studium jetzt für viele finanzierbar erscheinen ließ, und natürlich auf der gestiegenen Sekundarschulbildung. Zum anderen gab es, ähnlich wie bei den Sozialausgaben, einen breiten politischen wie gesellschaftlichen Konsens, der Bildung zum einen als Investition in die (wirtschaftliche) Zukunft im globalen Wettbewerb, zum anderen als unveräußerliches Bürgerrecht sah. Dementsprechend sorgte in Europa meist der Staat für die erheblichen Investitionen, die der Ausbau des Bildungssystems erforderte.
Im Ergebnis wurden die europäischen Gesellschaften ein Stück weit egalitärer. Um 1900, und auch noch 1950, stand eine kleine hochgebildete Elite einer großen Masse gegenüber, die nur elementare Bildung genossen hatte. Heutzutage ist der Anteil der Menschen mit Hochschul- und Sekundarschulabschluss sehr viel höher, was einem generellen Trend zu "wissensintensiven" Industrien und Dienstleitungen entspricht. Verlierer in diesem Prozess waren die Ungelernten, die nunmehr eine Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt bilden. Gewinner waren die Frauen, die schon 1970 um die 40 % der Studierenden stellen, während traditionell die Universität eine reine Männerdomäne gewesen war.
Gleichzeitig blieben jedoch z.T. bis heute die nationalen Unterschiede zwischen den einzelnen Bildungssystemen bestehen. In Frankreich wurde die Hochschullandschaft von den "grandes ecoles" dominiert, in England von den renommierten Universitäten Oxford und Cambridge, während in Deutschland die Universitäten sich von den Fachhochschulen (oder Ingenieurschulen) abgrenzten, untereinander aber als gleichwertig galten. Die Expansion veränderte diese Strukturen nicht oder nur wenig, und die Eliteuniversitäten blieben elitär. Probleme taten sich in der Lehre auf, die häufig nicht oder nur unzureichend an die Bedingungen der neuen Massenuniversität angepasst wurde. Gleichzeitig verschlechterten sich die anfangs sehr guten Berufsaussichten der Hochschulabsolventen ("Überfüllungskrise"), allerdings von Land zu Land und Fach zu Fach in sehr unterschiedlichem Maß.
Der europäische Sozialstaat hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Viele Einrichtungen und Regelungen zur Daseinsvorsorge gehen auf das späte 19. Jahrhundert zurück, wie z.B. die deutschen Sozialversicherungen. Generell sollen die Sozialversicherungen oder Sozialleistungen mehrere wesentliche Armutsrisiken beseitigen oder doch lindern: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfälle. In den westeuropäischen Ländern existierten bis 1945 eine Vielzahl heterogener Leistungen und Anbieter, sowohl staatlich als auch privat. Der generelle Trend ging dahin, das Sozialsystem zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dementsprechend stiegen die Sozialausgaben in ganz Europa, wie das folgende Schaubild zeigt, stärker als die ohnehin stark wachsende Wirtschaft. Als Problem gesehen wurde dies aber erst in den 70er Jahren, als die Wirtschaft nicht mehr so rasch wuchs oder gar stagnierte.
Gleichzeitig nahm der Erfassungsgrad der Sozialversicherungen in Ländern wie Deutschland oder Schweden zu (http://www.uni-muenster.de/Geschichte/SWG-Online/sozialstaat/quellen/erfassung.htm).
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Expansion des Sozialstaats bis in die 70er Jahre von einer breiten politischen Koalition getragen wurde, die von Kommunisten (PCF in Frankreich) bis zu Christdemokraten in Deutschland oder Italien reichte. In Großbritannien wurden die wichtigsten Sozialreformen zwar von der Labour Party in den ersten Jahren nach 1945 durchgesetzt. Aber auch die ab 1951 regierenden Konservativen wagten nicht, sie rückgängig zu machen.
Strukturell gesehen existierten im Wesentlichen zwei Modelle. Das eine war das der deutschen Sozialversicherungen, die seit dem Kaiserreich existiert hatten (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung, die erst in der Weimarer Republik eingeführt wurde). Es konzentrierte sich vor allem auf Arbeitnehmer (ursprünglich sogar nur auf Arbeiter). Die Finanzierung erfolgte in Abhängigkeit vom Einkommen paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das andere Modell war das britische, das auf den Beveridge-Report von 1942 zurück ging. Hierbei handelte es sich eher um eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger im arbeitsfähigen Alter einen festgesetzten Betrag einzahlten. Die Leistungen waren eher gering bemessen und sollten private Initiative nicht verdrängen. Auch das deutsche Modell sah allerdings zunächst nur eine Grundsicherung vor. Die ausgezahlte Rente war auf einen bestimmten Betrag fixiert und wurde nicht der allgemeinen Einkommens- und Preisentwicklung angepasst. Das änderte sich erst mit der Rentenreform von 1957, die spürbare Rentenerhöhungen in der Folgezeit mit sich brachte (s. Schaubild) und das Problem der Altersarmut weitgehend beseitigte.
Die Bildungsexpansion in Europa war ein mehrdimensionaler Prozess, der Bildung letztlich zum Massenkonsumgut machte, während sie vorher nur einer kleinen Elite zuteil wurde (abgesehen von der Elementarbildung). Die Bildungsexpansion lässt sich nicht auf die Hochschulexpansion reduzieren, sondern erfolgte auf allen Ebenen. Im Primarschulbereich konnten die letzten Inseln des Analphabetismus (v.a. in Südeuropa) beseitigt werden. Die Zahl der Menschen mit Sekundarschulbildung begann schon in der Zwischenkriegszeit zu expandieren. Diese Expansion des sekundären Bildungssektors war eine wichtige Voraussetzung für die später einsetzende Hochschulexpansion.Sie war besonders markant in den Niederlanden, Belgien und Italien, schwächer dagegen in Deutschland und Großbritannien.
Die Dynamik hinter der Expansion verdankt sich mehreren Faktoren. Zum einen nahm die Nachfrage nach höherer Bildung deutlich zu. Das beruhte ganz einfach auf den gestiegenen Einkommen, die ein Studium jetzt für viele finanzierbar erscheinen ließ, und natürlich auf der gestiegenen Sekundarschulbildung. Zum anderen gab es, ähnlich wie bei den Sozialausgaben, einen breiten politischen wie gesellschaftlichen Konsens, der Bildung zum einen als Investition in die (wirtschaftliche) Zukunft im globalen Wettbewerb, zum anderen als unveräußerliches Bürgerrecht sah. Dementsprechend sorgte in Europa meist der Staat für die erheblichen Investitionen, die der Ausbau des Bildungssystems erforderte.
Im Ergebnis wurden die europäischen Gesellschaften ein Stück weit egalitärer. Um 1900, und auch noch 1950, stand eine kleine hochgebildete Elite einer großen Masse gegenüber, die nur elementare Bildung genossen hatte. Heutzutage ist der Anteil der Menschen mit Hochschul- und Sekundarschulabschluss sehr viel höher, was einem generellen Trend zu "wissensintensiven" Industrien und Dienstleitungen entspricht. Verlierer in diesem Prozess waren die Ungelernten, die nunmehr eine Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt bilden. Gewinner waren die Frauen, die schon 1970 um die 40 % der Studierenden stellen, während traditionell die Universität eine reine Männerdomäne gewesen war.
Gleichzeitig blieben jedoch z.T. bis heute die nationalen Unterschiede zwischen den einzelnen Bildungssystemen bestehen. In Frankreich wurde die Hochschullandschaft von den "grandes ecoles" dominiert, in England von den renommierten Universitäten Oxford und Cambridge, während in Deutschland die Universitäten sich von den Fachhochschulen (oder Ingenieurschulen) abgrenzten, untereinander aber als gleichwertig galten. Die Expansion veränderte diese Strukturen nicht oder nur wenig, und die Eliteuniversitäten blieben elitär. Probleme taten sich in der Lehre auf, die häufig nicht oder nur unzureichend an die Bedingungen der neuen Massenuniversität angepasst wurde. Gleichzeitig verschlechterten sich die anfangs sehr guten Berufsaussichten der Hochschulabsolventen ("Überfüllungskrise"), allerdings von Land zu Land und Fach zu Fach in sehr unterschiedlichem Maß.
Dienstag, 6. Mai 2014
Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Ernährung, Einzelhandel, Werbung
Die Geschichte der Ernährung ist ein etwas unterschätztes, aber sehr komplexes Thema. Prinzipiell gehören zur Ernährung die Themen Lebensmittel, Speisen, Mahlzeiten und Mahlzeitenordnungen, Konservierungsmethoden, Tischsitten und vieles andere mehr. Kennzeichnend für die 1950er und 60er Jahre in Westeuropa waren allerdings nicht unbedingt radikale Innovationen in allen diesen Bereichen. Die wichtigste Entwicklung war vor dem Hintergrund der entbehrungsreichen Nachkriegszeit vielmehr, dass die Menschen im Allgemeinen wieder genug zu essen hatten. Bei den verzehrten Nahrungsmitteln gab es durch den gestiegenen Wohlstand eine Verschiebung von vegetabilen Nahrungsmitteln (Getreide, Kartoffeln) zu Fleisch (in der Abbildung für die BR Deutschland dargestellt).
Die Präferenzen hinsichtlich der Speisen änderten sich weniger stark. Es gab einige Modegerichte, wie in den 50er Jahren der "Toast Hawaii", die neu waren. In den 60er Jahren verbreiteten sich kalte Platten bei gesellschaftlichen Anlässen. Insgesamt änderten sich jedoch die Lieblingsspeisen kaum. Ausländische Küche wurde eher zögerlich rezipiert, vor allem seit Mitte der 60er Jahre. Italienische Eisdielen waren zwar schon verbreitet, der Boom der ausländischen Gastronomie setze im Großen und Ganzen jedoch erst später ein. Insgesamt blieben die traditionellen Unterschiede in der Ernährung zwischen Nord- und Südeuropa weitgehend erhalten, wie die Abbildung zeigt. Eine Angleichung gab es beim Fleischkonsum aufgrund des gestiegenen Wohlstands in den südeuropäischen Ländern, nicht jedoch bei den Kartoffeln.
Eine wichtige Veränderung betraf die Verbreitung neuer Konservierungsmethoden wie z.B. Konserven oder Tiefkühlkost. Letztere verbreitete sich in Westeuropa langsamer als in den USA und in Südeuropa langsamer als im Norden. Nichtsdestotrotz veränderte sie partiell die Ernährungsgewohnheiten: Orangensaft und Geflügel (in Deutschland) wurden populär. Auffällig ist jedoch, dass in den einzelnen Ländern noch in den 60er Jahren ganz unterschiedliche Lebensmittel als Tiefkühlkost verkauft wurden: in Deutschland v.a. Geflügel, in Frankreich fast nur Fisch, in Großbritannien Gemüse, Fisch und Fleisch.
Die Ernährungsgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte des Einzelhandels, da der größte Teil des Umsatzes immer noch mit Lebensmitteln gemacht wird. Die traditionellen Läden ("Tante-Emma-Läden") wurden seit Mitte der 50er Jahre mehr und mehr durch moderne Supermärkte ersetzt, in denen das Prinzip der Selbstbedienung vorherrschte. Vorher waren Verkäufer und Ware auf der einen Seite vom Käufer auf der anderen Seite durch die Theke getrennt. Nunmehr konnte der Käufer in direkten Kontakt mit der Ware treten. Die Waren kommunizierten direkt mit dem Konsumenten, mussten also entsprechend verpackt, präsentiert und beworben werden. Vorher hatte der Verkäufer häufig noch eine beratende Funktion gehabt, die nunmehr weitgehend wegfiel.
Die neuen Supermärkte verbreiteten sich in fast ganz Westeuropa mit Ausnahme der südeuropäischen Länder Italien und Spanien, wo sich die traditionellen Ladengeschäfte weitaus länger und z.T. bis heute hielten. Die Gründe sind zum einen in einer bewussten Mittelstandspolitik zu suchen, die kleine Ladeninhaber vor der Konkurrenz der großen Ketten schützen sollte, aber auch in anderen Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten als in Nord- und Mitteleuropa. Das tägliche Einkaufen und frische Zubereiten der Speisen hielt sich im Süden länger. Somit ist es auch keine Überraschung, dass es einen Zusammenhang zwischen ausbleibender Modernisierung des Einzelhandels und geringem Konsum von Tiefkühlkost gab. Die Anschaffung von Tiefkühltruhen lohnte sich aufgrund des geringen Umsatzes der kleinen Läden schlicht nicht.
Wie schon erwähnt, wurde Werbung durch die Einführung der Selbstbedienung immer wichtiger. Prinzipiell war Werbung natürlich nichts Neues. Die Veränderungen in den 1950er und 60er Jahren waren dennoch beachtlich, sowohl was die Organisation der Werbung als auch was ihre Medien und Inhalte anging. Zum einen verbreitete sich die Werbeagentur nach US-amerikanischem Vorbild, die Werbedienstleistungen aus einer Hand anbot. Hinsichtlich der Medien ist besonders das Werbefernsehen zu nennen, das in unterschiedlichem Maße zugelassen, aber häufig stark reguliert wurde. In Frankreich blieb Werbefernsehen bis 1968 generell verboten, in Italien war es nur in speziellen Sendungen erlaubt. Die Aufwendungen für Werbung dürften stark zugenommen haben, obwohl zuverlässige Statistiken fehlen. Eine Übersicht von 1971 zeigt, dass es auch zu dieser Zeit noch große Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern gab. Besonders hoch war der Werbeaufwand in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland.
Die Inhalte der Werbekampagnen sind naturgemäß schwer auf einen Nenner zu bringen. Dass nationale Unterschiede selbst in den 60er Jahren noch eine Rolle spielten, zeigt die Tatsache, dass es vor 1970 nur wenige internationale Werbekampagnen gab. Selbst multinationale Konzerne wie Philip Morris warben für ihre Marlboro-Zigaretten in den 60er Jahren noch nicht einheitlich. Die bekannten Cowboy-Motive gab es zwar in der US-Werbung schon. In Deutschland hingegen dominierte der gut gekleidete (männliche) Angestellte die Marlboro-Werbung.
Die wichtigste inhaltliche Veränderung betraf das Aufkommen zunehmend subtilerer Werbung, die auf psychologische Methoden und Erkenntnisse zurückgriff. Einer der bekanntesten Protagonisten dieser neuen "Motivforschung" war der österreichisch-amerikanische Werbefachmann Ernest Dichter (1907-91). Er versuchte, mit Hilfe psychoanalytischer Methoden die teils unbewussten Kaufmotive der Konsumenten zu entschlüsseln. Letztlich führte das zu einer Abkehr von der noch in der Zwischenkriegszeit verbreiteten Werbung mit direkten Appellen an den Konsumenten ("Esst mehr Obst") und statt dessen zur Inszenierung von Traumwelten und Lebensgefühlen. Das beunruhigte bereits die Zeitgenossen, und die Kritik an der Werbung ist bei heute nicht abgeebbt. 1957 veröffentlichte Vance Packard (1914-96) seinen Bestseller über die "geheimen Verführer", der die damals neuen Werbemethoden scharf kritisierte. Befürchtet wurde eine zunehmend perfekte Manipulationsmaschine, die dem Konsumenten quasi jedes Produkt aufzwingen könne. Damit rückten Begleiterscheinungen des Überflusses zunehmend in den Fokus der Sozialkritik, die sich vorher überwiegend auf den Mangel (z. B. das Elend der Arbeiter) gerichtet hatte. Insofern ist Packards Buch auch als Verarbeitung der neuen Phänomene des Massenkonsums zu sehen.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Modernisierung des Einzelhandels und der Werbung entscheidend zur Ausbildung einer Massenkonsumgesellschaft beitrugen. Sie verstärkte die ohnehin starke Nachfrage zusätzlich und rückte zunehmend den immateriellen "Zusatznutzen" der Produkte in den Vordergrund. Von den Zeitgenossen wurde dies häufig als "Amerikanisierung" erfahren und bisweilen kritisiert. Aber letztlich lässt sich nicht nur am Beispiel der Ernährung zeigen, dass nationale Unterschiede kaum verschwanden. Auch die Werbung musste sich zunächst nationalen Besonderheiten anpassen. Die schärfsten Kritiker der neuen Massenkonsumgesellschaft waren, jedenfalls zunächst, ebenfalls Amerikaner, wie Vance Packard oder David Riesman.
Die Präferenzen hinsichtlich der Speisen änderten sich weniger stark. Es gab einige Modegerichte, wie in den 50er Jahren der "Toast Hawaii", die neu waren. In den 60er Jahren verbreiteten sich kalte Platten bei gesellschaftlichen Anlässen. Insgesamt änderten sich jedoch die Lieblingsspeisen kaum. Ausländische Küche wurde eher zögerlich rezipiert, vor allem seit Mitte der 60er Jahre. Italienische Eisdielen waren zwar schon verbreitet, der Boom der ausländischen Gastronomie setze im Großen und Ganzen jedoch erst später ein. Insgesamt blieben die traditionellen Unterschiede in der Ernährung zwischen Nord- und Südeuropa weitgehend erhalten, wie die Abbildung zeigt. Eine Angleichung gab es beim Fleischkonsum aufgrund des gestiegenen Wohlstands in den südeuropäischen Ländern, nicht jedoch bei den Kartoffeln.
Eine wichtige Veränderung betraf die Verbreitung neuer Konservierungsmethoden wie z.B. Konserven oder Tiefkühlkost. Letztere verbreitete sich in Westeuropa langsamer als in den USA und in Südeuropa langsamer als im Norden. Nichtsdestotrotz veränderte sie partiell die Ernährungsgewohnheiten: Orangensaft und Geflügel (in Deutschland) wurden populär. Auffällig ist jedoch, dass in den einzelnen Ländern noch in den 60er Jahren ganz unterschiedliche Lebensmittel als Tiefkühlkost verkauft wurden: in Deutschland v.a. Geflügel, in Frankreich fast nur Fisch, in Großbritannien Gemüse, Fisch und Fleisch.
Die Ernährungsgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte des Einzelhandels, da der größte Teil des Umsatzes immer noch mit Lebensmitteln gemacht wird. Die traditionellen Läden ("Tante-Emma-Läden") wurden seit Mitte der 50er Jahre mehr und mehr durch moderne Supermärkte ersetzt, in denen das Prinzip der Selbstbedienung vorherrschte. Vorher waren Verkäufer und Ware auf der einen Seite vom Käufer auf der anderen Seite durch die Theke getrennt. Nunmehr konnte der Käufer in direkten Kontakt mit der Ware treten. Die Waren kommunizierten direkt mit dem Konsumenten, mussten also entsprechend verpackt, präsentiert und beworben werden. Vorher hatte der Verkäufer häufig noch eine beratende Funktion gehabt, die nunmehr weitgehend wegfiel.
Die neuen Supermärkte verbreiteten sich in fast ganz Westeuropa mit Ausnahme der südeuropäischen Länder Italien und Spanien, wo sich die traditionellen Ladengeschäfte weitaus länger und z.T. bis heute hielten. Die Gründe sind zum einen in einer bewussten Mittelstandspolitik zu suchen, die kleine Ladeninhaber vor der Konkurrenz der großen Ketten schützen sollte, aber auch in anderen Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten als in Nord- und Mitteleuropa. Das tägliche Einkaufen und frische Zubereiten der Speisen hielt sich im Süden länger. Somit ist es auch keine Überraschung, dass es einen Zusammenhang zwischen ausbleibender Modernisierung des Einzelhandels und geringem Konsum von Tiefkühlkost gab. Die Anschaffung von Tiefkühltruhen lohnte sich aufgrund des geringen Umsatzes der kleinen Läden schlicht nicht.
Wie schon erwähnt, wurde Werbung durch die Einführung der Selbstbedienung immer wichtiger. Prinzipiell war Werbung natürlich nichts Neues. Die Veränderungen in den 1950er und 60er Jahren waren dennoch beachtlich, sowohl was die Organisation der Werbung als auch was ihre Medien und Inhalte anging. Zum einen verbreitete sich die Werbeagentur nach US-amerikanischem Vorbild, die Werbedienstleistungen aus einer Hand anbot. Hinsichtlich der Medien ist besonders das Werbefernsehen zu nennen, das in unterschiedlichem Maße zugelassen, aber häufig stark reguliert wurde. In Frankreich blieb Werbefernsehen bis 1968 generell verboten, in Italien war es nur in speziellen Sendungen erlaubt. Die Aufwendungen für Werbung dürften stark zugenommen haben, obwohl zuverlässige Statistiken fehlen. Eine Übersicht von 1971 zeigt, dass es auch zu dieser Zeit noch große Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern gab. Besonders hoch war der Werbeaufwand in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland.
Die Inhalte der Werbekampagnen sind naturgemäß schwer auf einen Nenner zu bringen. Dass nationale Unterschiede selbst in den 60er Jahren noch eine Rolle spielten, zeigt die Tatsache, dass es vor 1970 nur wenige internationale Werbekampagnen gab. Selbst multinationale Konzerne wie Philip Morris warben für ihre Marlboro-Zigaretten in den 60er Jahren noch nicht einheitlich. Die bekannten Cowboy-Motive gab es zwar in der US-Werbung schon. In Deutschland hingegen dominierte der gut gekleidete (männliche) Angestellte die Marlboro-Werbung.
Die wichtigste inhaltliche Veränderung betraf das Aufkommen zunehmend subtilerer Werbung, die auf psychologische Methoden und Erkenntnisse zurückgriff. Einer der bekanntesten Protagonisten dieser neuen "Motivforschung" war der österreichisch-amerikanische Werbefachmann Ernest Dichter (1907-91). Er versuchte, mit Hilfe psychoanalytischer Methoden die teils unbewussten Kaufmotive der Konsumenten zu entschlüsseln. Letztlich führte das zu einer Abkehr von der noch in der Zwischenkriegszeit verbreiteten Werbung mit direkten Appellen an den Konsumenten ("Esst mehr Obst") und statt dessen zur Inszenierung von Traumwelten und Lebensgefühlen. Das beunruhigte bereits die Zeitgenossen, und die Kritik an der Werbung ist bei heute nicht abgeebbt. 1957 veröffentlichte Vance Packard (1914-96) seinen Bestseller über die "geheimen Verführer", der die damals neuen Werbemethoden scharf kritisierte. Befürchtet wurde eine zunehmend perfekte Manipulationsmaschine, die dem Konsumenten quasi jedes Produkt aufzwingen könne. Damit rückten Begleiterscheinungen des Überflusses zunehmend in den Fokus der Sozialkritik, die sich vorher überwiegend auf den Mangel (z. B. das Elend der Arbeiter) gerichtet hatte. Insofern ist Packards Buch auch als Verarbeitung der neuen Phänomene des Massenkonsums zu sehen.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Modernisierung des Einzelhandels und der Werbung entscheidend zur Ausbildung einer Massenkonsumgesellschaft beitrugen. Sie verstärkte die ohnehin starke Nachfrage zusätzlich und rückte zunehmend den immateriellen "Zusatznutzen" der Produkte in den Vordergrund. Von den Zeitgenossen wurde dies häufig als "Amerikanisierung" erfahren und bisweilen kritisiert. Aber letztlich lässt sich nicht nur am Beispiel der Ernährung zeigen, dass nationale Unterschiede kaum verschwanden. Auch die Werbung musste sich zunächst nationalen Besonderheiten anpassen. Die schärfsten Kritiker der neuen Massenkonsumgesellschaft waren, jedenfalls zunächst, ebenfalls Amerikaner, wie Vance Packard oder David Riesman.
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