Der europäische Sozialstaat hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Viele Einrichtungen und Regelungen zur Daseinsvorsorge gehen auf das späte 19. Jahrhundert zurück, wie z.B. die deutschen Sozialversicherungen. Generell sollen die Sozialversicherungen oder Sozialleistungen mehrere wesentliche Armutsrisiken beseitigen oder doch lindern: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfälle. In den westeuropäischen Ländern existierten bis 1945 eine Vielzahl heterogener Leistungen und Anbieter, sowohl staatlich als auch privat. Der generelle Trend ging dahin, das Sozialsystem zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dementsprechend stiegen die Sozialausgaben in ganz Europa, wie das folgende Schaubild zeigt, stärker als die ohnehin stark wachsende Wirtschaft. Als Problem gesehen wurde dies aber erst in den 70er Jahren, als die Wirtschaft nicht mehr so rasch wuchs oder gar stagnierte.
Gleichzeitig nahm der Erfassungsgrad der Sozialversicherungen in Ländern wie Deutschland oder Schweden zu (http://www.uni-muenster.de/Geschichte/SWG-Online/sozialstaat/quellen/erfassung.htm).
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Expansion des Sozialstaats bis in die 70er Jahre von einer breiten politischen Koalition getragen wurde, die von Kommunisten (PCF in Frankreich) bis zu Christdemokraten in Deutschland oder Italien reichte. In Großbritannien wurden die wichtigsten Sozialreformen zwar von der Labour Party in den ersten Jahren nach 1945 durchgesetzt. Aber auch die ab 1951 regierenden Konservativen wagten nicht, sie rückgängig zu machen.
Strukturell gesehen existierten im Wesentlichen zwei Modelle. Das eine war das der deutschen Sozialversicherungen, die seit dem Kaiserreich existiert hatten (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung, die erst in der Weimarer Republik eingeführt wurde). Es konzentrierte sich vor allem auf Arbeitnehmer (ursprünglich sogar nur auf Arbeiter). Die Finanzierung erfolgte in Abhängigkeit vom Einkommen paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das andere Modell war das britische, das auf den Beveridge-Report von 1942 zurück ging. Hierbei handelte es sich eher um eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger im arbeitsfähigen Alter einen festgesetzten Betrag einzahlten. Die Leistungen waren eher gering bemessen und sollten private Initiative nicht verdrängen. Auch das deutsche Modell sah allerdings zunächst nur eine Grundsicherung vor. Die ausgezahlte Rente war auf einen bestimmten Betrag fixiert und wurde nicht der allgemeinen Einkommens- und Preisentwicklung angepasst. Das änderte sich erst mit der Rentenreform von 1957, die spürbare Rentenerhöhungen in der Folgezeit mit sich brachte (s. Schaubild) und das Problem der Altersarmut weitgehend beseitigte.
Die Bildungsexpansion in Europa war ein mehrdimensionaler Prozess, der Bildung letztlich zum Massenkonsumgut machte, während sie vorher nur einer kleinen Elite zuteil wurde (abgesehen von der Elementarbildung). Die Bildungsexpansion lässt sich nicht auf die Hochschulexpansion reduzieren, sondern erfolgte auf allen Ebenen. Im Primarschulbereich konnten die letzten Inseln des Analphabetismus (v.a. in Südeuropa) beseitigt werden. Die Zahl der Menschen mit Sekundarschulbildung begann schon in der Zwischenkriegszeit zu expandieren. Diese Expansion des sekundären Bildungssektors war eine wichtige Voraussetzung für die später einsetzende Hochschulexpansion.Sie war besonders markant in den Niederlanden, Belgien und Italien, schwächer dagegen in Deutschland und Großbritannien.
Die Dynamik hinter der Expansion verdankt sich mehreren Faktoren. Zum einen nahm die Nachfrage nach höherer Bildung deutlich zu. Das beruhte ganz einfach auf den gestiegenen Einkommen, die ein Studium jetzt für viele finanzierbar erscheinen ließ, und natürlich auf der gestiegenen Sekundarschulbildung. Zum anderen gab es, ähnlich wie bei den Sozialausgaben, einen breiten politischen wie gesellschaftlichen Konsens, der Bildung zum einen als Investition in die (wirtschaftliche) Zukunft im globalen Wettbewerb, zum anderen als unveräußerliches Bürgerrecht sah. Dementsprechend sorgte in Europa meist der Staat für die erheblichen Investitionen, die der Ausbau des Bildungssystems erforderte.
Im Ergebnis wurden die europäischen Gesellschaften ein Stück weit egalitärer. Um 1900, und auch noch 1950, stand eine kleine hochgebildete Elite einer großen Masse gegenüber, die nur elementare Bildung genossen hatte. Heutzutage ist der Anteil der Menschen mit Hochschul- und Sekundarschulabschluss sehr viel höher, was einem generellen Trend zu "wissensintensiven" Industrien und Dienstleitungen entspricht. Verlierer in diesem Prozess waren die Ungelernten, die nunmehr eine Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt bilden. Gewinner waren die Frauen, die schon 1970 um die 40 % der Studierenden stellen, während traditionell die Universität eine reine Männerdomäne gewesen war.
Gleichzeitig blieben jedoch z.T. bis heute die nationalen Unterschiede zwischen den einzelnen Bildungssystemen bestehen. In Frankreich wurde die Hochschullandschaft von den "grandes ecoles" dominiert, in England von den renommierten Universitäten Oxford und Cambridge, während in Deutschland die Universitäten sich von den Fachhochschulen (oder Ingenieurschulen) abgrenzten, untereinander aber als gleichwertig galten. Die Expansion veränderte diese Strukturen nicht oder nur wenig, und die Eliteuniversitäten blieben elitär. Probleme taten sich in der Lehre auf, die häufig nicht oder nur unzureichend an die Bedingungen der neuen Massenuniversität angepasst wurde. Gleichzeitig verschlechterten sich die anfangs sehr guten Berufsaussichten der Hochschulabsolventen ("Überfüllungskrise"), allerdings von Land zu Land und Fach zu Fach in sehr unterschiedlichem Maß.
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