Als Ausgangspunkt dient der Ansatz des zeitgenössischen deutschen Politikwissenschaftlers Otto Kirchheimer (1905-65), der 1965 in einem bis heute häufig zitierten Aufsatz den "Wandel des westeuropäischen Parteiensystems" beschrieb. Kirchheimer war Mitglied der SPD und während des Nationalsozialismus erst nach Frankreich und später in die USA emigriert. Es darf angenommen werden, dass vor allem die Erfahrungen in den USA seinen Aufsatz zum Parteiensystem beeinflussten. Im Wesentlichen unterscheidet Kirchheimer hierin drei Arten von Parteien: erstens die traditionellen, im 19. Jahrhundert vorherrschenden Klientel- oder Honoratiorenparteien, die kaum mehr waren als ad hoc gebildete Wahlvereinigungen; zweitens die Massenintegrationsparteien, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkamen. Beispiele waren die sozialistischen und katholischen Parteien. Sie zielten auf eine möglichst hohe Mitgliederzahl und versuchten, ihre Mitglieder und Wähler auf der Grundlage einer gemeinsamen Ideologie oder Weltanschauung zu mobilisieren. Ihre Wählerschaft blieb aber auf bestimmte Gruppen (oder Schichten) beschränkt, die sich mit der Ideologie identifizieren konnten, während andere Wählerschichten nicht angesprochen wurden. Für seine Gegenwart meinte Kirchheimer schließlich die Entstehung von Allerweltsparteien (catch all-party, Volkspartei) beobachten zu können, die sich aus dem Massenintegrationsparteien heraus entwickelten und nunmehr versuchten, alle oder doch fast alle Wähler anzusprechen. Das hatte mehrere wichtige Konsequenzen für die Selbstdarstellung der Parteien, ihre Programme, die Wahlkämpfe wie für den gesamten Stil der politischen Auseinandersetzung. Denn die trennenden Ideologien wurden auch programmatisch abgewertet und rückten in den Hintergrund. Die Politik wurde pragmatischer, die Parteien einander ähnlicher, dadurch aber auch tendenziell beliebig und austauschbar. Gerade deswegen stieg die Bedeutung des politischen Personals. Thematisch bevorzugten die Allerweltsparteien Inhalte, die keine ideologischen Gräben aufwarfen und mit denen sich mehr oder weniger alle Bürger identifizieren konnten, wie z.B. Bildung oder wissenschaftlicher Fortschritt.
Die Bedeutung von Kirchheimers Thesen liegt weniger darin, dass sie wirklich die Realität adäquat beschreiben würden. Vielmehr war er einer der ersten, die erkannt hatten, dass die Parteien sich zunehmend wie Unternehmen an einem Markt orientierten und versuchten, dem Bürger mit Hilfe von zunehmend professioneller Werbung etwas zu verkaufen. Kurz gesagt, das Parteiensystem wurde in dieser Zeit von der Logik des Massenkonsums erfasst, und unterschied sich dadurch wesentlich von den ideologisch geprägten Grabenkämpfen der Zwischenkriegszeit (vor allem, aber nicht nur in Deutschland).
Kirchheimers Thesen gelten heute als widerlegt. Zum einen kam es im Zuge der 68er-Bewegung jedenfalls kurzfristig zu einer Re-Ideologisierung der Politik. Die von ihm diagnostizierte Entideologisierung der Parteien ist somit keine Einbahnstraße. Zum anderen aber verloren die Allerweltsparteien seit den 70ern zunehmend an Bindekraft. Was Kirchheimer nicht vorausgesehen hat, war der Aufstieg von kleineren Parteien, die entlang neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien entstanden: ökologische Parteien wie die Grünen, rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien (Republikaner, Front National etc.) oder regionalistische Parteien.
Betrachtet man, unabhängig von Kirchheimers Thesen, die Parteienlandschaften Westeuropas in den 50er und 60er Jahren, so fällt ein Aspekt sofort ins Auge: die Stärke der bürgerlichen (christdemokratischen oder konservativen) und die relative Schwäche der linken Parteien. Außerhalb von Skandinavien traf man kaum auf sozialistische oder sozialdemokratische Regierungschefs. In Deutschland war die SPD zwar seit 1966 an der Regierung beteiligt, jedoch zunächst als Juniorpartner in einer großen Koalition. Erst 1969 stellte sie den Bundeskanzler. In Großbritannien wurde die Labour Party 1951 aus der Regierung abgewählt und konnte erst 1964 zurückkehren (bis 1970). In Frankreich regierte mit Vincent Auriol zwischen 1947 und 1954 ein sozialistischer Ministerpräsident, danach aber regierten die Gaullisten und anderen Bürgerlichen bis zum Wahlsieg Mitterands 1981. In Italien gab es die erste von einem Sozialisten geführte Regierung (unter Bettino Craxi) der Nachkriegszeit erst 1983. Offenbar war das "Zeitalter des Massenkonsums" für die Linke nicht eben günstig. Die wirtschaftlichen Erfolge wurden eher den Konservativen und Christdemokraten zugeschrieben. Die Sozialisten hatten ihre Probleme mit der modernen Welt des Massenkonsums und wirkten z.T. altbacken, etwa in ihrer Abneigung gegen die moderne Werbung.
Die große Ausnahme bildete, wie erwähnt, Skandinavien. In Schweden regierten die Sozialdemokraten ununterbrochen von 1946 bis 1976, bis 1968 unter Ministerpräsident Tage Erlander. Den Schlüssel zu diesem Erfolg bildete die schon vor dem Krieg erfolgte Öffnung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für andere Bevölkerungsschichten, vor allem Bauern, und der Ausbau des Sozialstaates.
Stimmenanteile der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Schweden seit 1921 |
In Großbritannien existierten aufgrund des Mehrheitswahlrechts lange Zeit nur zwei Parteien von Bedeutung, die Konservativen (Tories) und die Labour Party (Arbeiterpartei). Die Labour Party machte zwar ähnlich wie die deutsche SPD bereits in den 50er und 60er Jahren z.B. unter Hugh Gaitskell (Parteichef 1955-63) eine Reformdiskussion durch. Eine dem 1959 von der SPD verabschiedeten "Godesberger Programm" vergleichbare Öffnung der Labour Party kam jedoch erst wesentlich später, letztlich erst mit "New Labour" unter Tony Blair in den 90ern.
Kennzeichnend für Italien schließlich war, neben der weit verbreiteten Korruption, der häufige Wechsel der Regierungen. Zwischen 1950 und 1970 gab es nicht weniger als 23 verschiedene Regierungen in Italien, alle übrigens geführt von den Christdemokraten. Um die Verwirrung nicht allzu groß zu machen, wurden die Regierungen jedoch meist von immer denselben Parteien und Personen gebildet, so dass in Wahrheit die parlamentarische Demokratie nicht so instabil war, wie es den Anschein hatte. Das italienische Parteiensystem brach erst Anfang der 90er Jahre im Zuge der Korruptionsermittlungen der italienischen Justiz zusammen.
Diese kleine Übersicht soll zeigen, dass in dieser Zeit und auch bis heute in den Parteiensystemen wesentliche nationale Besonderheiten existieren, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Dennoch hatte Kirchheimer in gewissem Sinne recht. Der Massenkonsum veränderte die Parteien genauso sehr wie sie ihn. Die wirtschaftlichen Erfolge und die Steigerung des Lebensstandards wurden stärker den bürgerlichen Parteien als den Sozialdemokraten zugeschrieben, von denen man eher eine gerechte Verteilung auf niedrigem Niveau, im Sinne der Rationierung der unmittelbaren Nachkriegszeit, erwartete, als den Aufbruch in die neue Welt des Massenkonsums. Die Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, mussten sich wandeln, um neue Schichten ansprechen zu können, und begannen, Methoden aus dem wirtschaftlichen Bereich, wie etwa professionelle Wahlwerbung, einzusetzen. Dass gerade die Entwicklung zu Allerweltsparteien zu einer nachlassenden Bindekraft der großen Parteien führte, darin liegt die Ironie der Geschichte.
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