Dienstag, 3. Dezember 2013

Arbeiterkonsum im 19. Jahrhundert

Ein Nachtrag zur Vorlesung über Arbeiterkonsum. Hier gibt es eine interessante Forschungskontroverse. Klaus Tenfelde unterschied bekanntlich anhand von Haushaltsrechnungen zwischen einem proletarischen Subsistenz- und einem bürgerlichen Dispositionshaushalt. Auch andere Studien, z. B. die von Armin Triebel, gehen von einer relativen Einheitlichkeit des Arbeiterkonsums im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus. Das Problem dabei ist, dass die Quellenlage (in Bezug auf Haushaltsrechnungen) nicht sehr günstig ist und somit Spielraum für Interpretationen lässt. Viele Aussagen basieren auf nur wenigen verfügbaren Haushaltsrechnungen. Umstritten ist zudem, ob Arbeiter, die solche Haushaltsrechnungen aufzeichneten, überhaupt als repräsentativ für die Arbeiterschaft gelten können, da sie ja ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Rechenhaftigkeit aufwiesen. Im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte erschien 2010 ein Aufsatz von Hendrik Fischer („Soziale Ungleichheit im Spiegel des Konsums“), der diese Fragen mit Hilfe eines neu zusammen gestellten Datensatzes wieder aufgriff. Er verwendet knapp 4.000 Haushaltsrechnungen aus dem deutschen Kaiserreich (1871-1914). Allerdings muss auch Fischer einräumen, dass der Datensatz nicht statistisch repräsentativ und z.B. die Landbevölkerung unterrepräsentiert ist. Er unterscheidet anhand seiner Daten neun Konsummuster (Cluster). Ein wichtiges Ergebnis ist, dass der Beruf des Haushaltsvorstandes (Arbeiter, Angestellter etc.) nicht eindeutig das Konsummuster determiniert. Vielmehr bilden bestimmte Gruppe Schwerpunkte (ungelernte Arbeiter in Cluster 1, Facharbeiter in Cluster 2.1, kleine Beamte und niedere Angestellte in Cluster 2.3 etc.). Entscheidend sei jedoch nicht die Stellung in der Arbeitswelt, sondern das Einkommen. So seien in Cluster 2.3 und 2.4 jeweils Arbeiter und Angestellte vertreten, so dass Fischer die Existenz der in der sozialhistorischen Forschung häufig angenommenen „Kragenlinie“ als Trennlinie zwischen Arbeitern und Angestellten bezweifelt. Zudem sei auch der Arbeiterkonsum nicht so einheitlich gewesen wie oft dargestellt. Er stimmt der These des Soziologen Jörg Rössel zu, der die Gesellschaft des Kaiserreichs als hochgradig plural und differenziert bezeichnete.
Muss anhand dieser Ergebnisse tatsächlich die Konsumgeschichte neu geschrieben und die Einteilung in bürgerlichen und Arbeiterkonsum aufgegeben werden? Ich denke nicht, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen ist nochmals auf die schmale Quellenbasis hinzuweisen. Auch wenn 4.000 Haushaltsrechnungen nach viel klingt, so ist das nicht der Fall, da sie nicht unabhängig voneinander sind, d.h. häufig liegen von einer Familie mehrere Rechnungen vor. So beruhen Cluster 7-9 auf zusammen 91 Haushaltsrechnungen, die aus lediglich 11 Haushalten stammen. Hier ist große Vorsicht geboten, vor allem angesichts weit reichender Schlussfolgerungen. Hinzu kommt, dass die Haushaltsrechnungen nur eine von vielen möglichen Quellengruppen darstellen. Erzählende Quellen aus dem 19. Jahrhundert betonen häufig den Unterschied zwischen Arbeitern und Bürgertum und die Tatsache, dass dieser Unterschied den Menschen auf den ersten Blick anzusehen war. Eine ohne Papiere in Leipzig aufgefundene Leiche konnte ohne Probleme sozial eingeordnet werden. Bei der Unterscheidung Arbeiter vs. Bürger handelte es sich nicht nur und wohl nicht einmal in erster Linie um eine sozialstatistische Unterscheidung, sondern um ein Wahrnehmungsschema. Die Ebene der Wahrnehmung bleibt aber bei Untersuchungen, die allein auf Haushaltsrechnungen zurückgreifen, zwangsläufig ausgeblendet.
Daraus folgt, dass Arbeiter im Sinne eines Wahrnehmungsschemas der Menschen des 19. Jahrhunderts und Arbeiter im heutigen sozialstatistischen Sinn nicht dasselbe sein müssen. Anders formuliert: Die proletarische Lebensführung umfasste wohl nicht alle diejenigen, die wir heute anhand objektiver Kategorien als Arbeiter einstufen würden. Die Arbeiterkultur, als deren Teil beispielsweise Arbeiterkonsumgenossenschaften fungierten, erreichte in der Tat längst nicht alle Arbeiter, sondern vor allem die Arbeiter in Großstädten, vor allem in den entsprechenden Stadtvierteln. Landarbeiter oder Arbeiter in Kleinstädten gehörten dieser Arbeiterkultur häufig nicht oder nur teilweise an. In diesem eingeschränkten Sinn ist es jedoch durchaus richtig, von einer weitgehend einheitlichen Arbeiterkultur und proletarischen Lebensweise auszugehen, jedenfalls zeitweise. Im späten 19. Jahrhundert differenzierte sich dann die Arbeiterschaft weiter aus, da einige Gruppen der qualifizierten Facharbeiter ihre Einkommen merklich steigern konnten. Das ist die so genannte „Arbeiteraristokratie“, die Muster des bürgerlichen Konsums imitierte. Solche Arbeiter bildeten in der Tat, das zeigt Fischers Studie einmal mehr, Konsummuster aus, die sich von denjenigen der Angestellten nur noch graduell unterschieden. Eine ähnliche Tendenz habe ich bei der Auswertung von Nachlassinventaren Leipziger Arbeiter und Kleinbürger gefunden (publiziert in Stadtgeschichte 2003, H. 2).

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