Ein
Nachtrag zur Vorlesung über Arbeiterkonsum. Hier gibt es eine
interessante Forschungskontroverse. Klaus Tenfelde unterschied
bekanntlich anhand von Haushaltsrechnungen zwischen einem
proletarischen Subsistenz- und einem bürgerlichen
Dispositionshaushalt. Auch andere Studien, z. B. die von Armin
Triebel, gehen von einer relativen Einheitlichkeit des
Arbeiterkonsums im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus. Das Problem
dabei ist, dass die Quellenlage (in Bezug auf Haushaltsrechnungen)
nicht sehr günstig ist und somit Spielraum für Interpretationen
lässt. Viele Aussagen basieren auf nur wenigen verfügbaren
Haushaltsrechnungen. Umstritten ist zudem, ob Arbeiter, die solche
Haushaltsrechnungen aufzeichneten, überhaupt als repräsentativ für
die Arbeiterschaft gelten können, da sie ja ein hohes Maß an
Selbstdisziplin und Rechenhaftigkeit aufwiesen. Im Jahrbuch für
Wirtschaftsgeschichte erschien 2010 ein Aufsatz von Hendrik
Fischer („Soziale Ungleichheit im Spiegel des Konsums“), der
diese Fragen mit Hilfe eines neu zusammen gestellten Datensatzes
wieder aufgriff. Er verwendet knapp 4.000 Haushaltsrechnungen aus dem
deutschen Kaiserreich (1871-1914). Allerdings muss auch Fischer
einräumen, dass der Datensatz nicht statistisch repräsentativ und
z.B. die Landbevölkerung unterrepräsentiert ist. Er unterscheidet
anhand seiner Daten neun Konsummuster (Cluster). Ein wichtiges
Ergebnis ist, dass der Beruf des Haushaltsvorstandes (Arbeiter,
Angestellter etc.) nicht eindeutig das Konsummuster determiniert.
Vielmehr bilden bestimmte Gruppe Schwerpunkte (ungelernte Arbeiter in
Cluster 1, Facharbeiter in Cluster 2.1, kleine Beamte und niedere
Angestellte in Cluster 2.3 etc.). Entscheidend sei jedoch nicht die
Stellung in der Arbeitswelt, sondern das Einkommen. So seien in
Cluster 2.3 und 2.4 jeweils Arbeiter und Angestellte vertreten, so
dass Fischer die Existenz der in der sozialhistorischen Forschung
häufig angenommenen „Kragenlinie“ als Trennlinie zwischen
Arbeitern und Angestellten bezweifelt. Zudem sei auch der
Arbeiterkonsum nicht so einheitlich gewesen wie oft dargestellt. Er
stimmt der These des Soziologen Jörg Rössel zu, der die
Gesellschaft des Kaiserreichs als hochgradig plural und differenziert
bezeichnete.
Muss
anhand dieser Ergebnisse tatsächlich die Konsumgeschichte neu
geschrieben und die Einteilung in bürgerlichen und Arbeiterkonsum
aufgegeben werden? Ich denke nicht, und zwar aus mehreren Gründen.
Zum einen ist nochmals auf die schmale Quellenbasis hinzuweisen. Auch
wenn 4.000 Haushaltsrechnungen nach viel klingt, so ist das nicht der
Fall, da sie nicht unabhängig voneinander sind, d.h. häufig liegen
von einer Familie mehrere Rechnungen vor. So beruhen Cluster 7-9 auf
zusammen 91 Haushaltsrechnungen, die aus lediglich 11 Haushalten
stammen. Hier ist große Vorsicht geboten, vor allem angesichts weit
reichender Schlussfolgerungen. Hinzu kommt, dass die
Haushaltsrechnungen nur eine von vielen möglichen Quellengruppen
darstellen. Erzählende Quellen aus dem 19. Jahrhundert betonen
häufig den Unterschied zwischen Arbeitern und Bürgertum und die
Tatsache, dass dieser Unterschied den Menschen auf den ersten Blick
anzusehen war. Eine ohne Papiere in Leipzig aufgefundene Leiche
konnte ohne Probleme sozial eingeordnet werden. Bei der
Unterscheidung Arbeiter vs. Bürger handelte es sich nicht nur und
wohl nicht einmal in erster Linie um eine sozialstatistische
Unterscheidung, sondern um ein Wahrnehmungsschema. Die Ebene der
Wahrnehmung bleibt aber bei Untersuchungen, die allein auf
Haushaltsrechnungen zurückgreifen, zwangsläufig ausgeblendet.
Daraus
folgt, dass Arbeiter im Sinne eines Wahrnehmungsschemas der Menschen
des 19. Jahrhunderts und Arbeiter im heutigen sozialstatistischen
Sinn nicht dasselbe sein müssen. Anders formuliert: Die
proletarische Lebensführung umfasste wohl nicht alle diejenigen, die
wir heute anhand objektiver Kategorien als Arbeiter einstufen würden.
Die Arbeiterkultur, als deren Teil beispielsweise
Arbeiterkonsumgenossenschaften fungierten, erreichte in der Tat
längst nicht alle Arbeiter, sondern vor allem die Arbeiter in
Großstädten, vor allem in den entsprechenden Stadtvierteln.
Landarbeiter oder Arbeiter in Kleinstädten gehörten dieser
Arbeiterkultur häufig nicht oder nur teilweise an. In diesem
eingeschränkten Sinn ist es jedoch durchaus richtig, von einer
weitgehend einheitlichen Arbeiterkultur und proletarischen
Lebensweise auszugehen, jedenfalls zeitweise. Im späten 19.
Jahrhundert differenzierte sich dann die Arbeiterschaft weiter aus,
da einige Gruppen der qualifizierten Facharbeiter ihre Einkommen
merklich steigern konnten. Das ist die so genannte
„Arbeiteraristokratie“, die Muster des bürgerlichen Konsums
imitierte. Solche Arbeiter bildeten in der Tat, das zeigt Fischers
Studie einmal mehr, Konsummuster aus, die sich von denjenigen der
Angestellten nur noch graduell unterschieden. Eine ähnliche Tendenz
habe ich bei der Auswertung von Nachlassinventaren Leipziger Arbeiter
und Kleinbürger gefunden (publiziert in Stadtgeschichte 2003,
H. 2).
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