Die Demokratisierung in Südeuropa war Teil eines globalen Trends zur Demokratie, der so genannten "Dritten Welle" (Samuel Huntington). Nach den südeuropäischen Ländern gingen in den 70er und 80er Jahren mehrere lateinamerikanische und asiatische Länder zur Demokratie über, und 1989-91 folgten die mittel- und osteuropäischen Staaten.
Quelle: Jørgen Møller, Sved-Erik Skaanen, The Third Wave: Inside the Numbers, in: Journal of Democracy 2013 |
Unterhalb dieser allgemeinen Gemeinsamkeiten gab es aber in der Transformation ganz erhebliche Unterschiede von Land zu Land. In Griechenland regierte das Militär nur eine kurze Zeit, von 1967-73. Die Militärregierung verfügte von vornherein nicht über eine große Legitimationsbasis und musste auf internationalen Druck und im Angesicht der Zypern-Krise den Weg für die Demokratie freimachen. Die anderen beiden Diktaturen in Portugal und Spanien stammten noch aus der Zwischenkriegszeit, stellten aber eher konservativ-autoritäre als genuin faschistische Diktaturen dar. Immerhin hatten sie genug Zeit gehabt, eine eigene Legitimationsbasis aufzubauen. Allerdings wuchs mit der Durchsetzung der Demokratie in Westeuropa nach 1945 und dem Erfolg der EWG der äußere Druck, zur Demokratie überzugehen. In Spanien ging der Anstoß von Teilen des alten Regimes aus. Diktator Franco hatte den spanischen König Juan Carlos zu seinem Nachfolger ausgewählt. Dieser leitete nach dem Tod Francos 1975 aber den Übergang zur Demokratie ein. Der Vorteil dieses verhandelten Übergangs war seine friedliche Natur, der Nachteil bestand im Verzicht auf die Aufarbeitung des unter Franco geschehenen Unrechts. In Portugal dagegen wurde die Diktatur durch eine Revolution, die so genannte "Nelkenrevolution" vom April 1974, abgelöst. Sie ging von unzufriedenen Offizieren der Armee aus, die ihrerseits in den afrikanischen Kolonien (Angola und Mosambik) in einen aussichtslosen und zermürbenden Krieg verwickelt war. Die Revolution ging aber rasch über einen bloßen Militärputsch hinaus und erreichte eine populäre Mobilisierung. Der Beitritt der neuen Demokratien zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte in den 80er Jahren: Griechenland 1981, Spanien und Portugal 1986. Er dürfte die Demokratie in den genannten Ländern weiter stabilisiert haben.
Die Demokratie in Italien konnte dagegen auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken, als sie zu Beginn der 90er Jahre in eine existentielle Krise geriet. Das italienische Parteiensystem nach dem Krieg war gekennzeichnet durch zwei große (Christdemokraten und Kommunisten) und mehrere kleine Parteien. Die Kommunisten waren aus außenpolitischen Gründen von der Regierungsbildung (auf nationaler Ebene) ausgeschlossen, so dass die Christdemokraten de facto eine Hegemonialstellung inne hatten und von 1945 bis 1981 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellten. Auslöser der Transformation zu Beginn der 90er Jahre waren staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zur Korruption in Mailand, die rasch ein großes Netzwerk von Korruption und illegaler Parteienfinanzierung aufdeckten. Besonders betroffen waren die Christdemokraten und die Sozialisten. Hinzu kamen ein durch den Zusammenbruch des Ostblocks angestoßener Wandlungsprozess der Kommunisten sowie eine Wahlrechtsänderung 1993, die die in Italien übliche Zersplitterung des Parteiensystems begrenzen sollte. In der Folge bildeten sich neue Parteien und Parteienbündnisse wie "Forza Italia", die Demokratische Linkspartei oder der "Olivenbaum". Seitdem wird Italien meist von breiten, aber instabilen Parteienbündnissen beherrscht, die unter wechselnden Namen antreten und politisch entweder Mitte-rechts oder Mitte-links einzuordnen sind.
Größere Stabilität haben die Veränderungen allerdings nicht gebracht. Die italienischen Parteien sind stärker als in Deutschland auf einzelne Personen zugeschnitten (z.B. Silvio Berlusconi). Sie lassen sich nur sehr bedingt den bekannten europäischen Parteienfamilien (Konservative, Christdemokraten, Liberale, Sozialdemokraten) zuordnen. Die stärksten Parteien sind im Moment: erstens die Demokratische Partei (u.a. Matteo Renzi), die ungefähr der europäischen Sozialdemokratie entspricht, aber auch ehemalige Christdemokraten aufgenommen hat; zweitens die "Forza Italia" (Silvio Berlusconi), die eher konservativ-christdemokratisch ausgerichtet ist; drittens die "bürgerliche Wahl (scelta civica)" (Mario Monti), die christdemokratisch-liberal orientiert ist; und viertens die euroskeptische Protestpartei "5 Sterne-Bewegung" (Beppe Grillo).
Insgesamt sind die europäischen Parteiensysteme sehr unterschiedlich, bedingt durch die verschiedenen historischen Traditionen und die verschiedenen Wahlsysteme. Es sind auch keine Tendenzen zur Angleichung erkennbar. Formale Kategorien wie die Zahl der Parteien helfen nicht wirklich weiter. In den 50er und 60er Jahren dominierten in allen außer den skandinavischen Ländern die Christdemokraten bzw. Konservativen, auch wenn sie sich wechselnde Koalitionspartner suchen mussten. Seit den 70er Jahren sind die Systeme in Bewegung geraten, auch wenn ein totaler Bruch wie in Italien noch immer die Ausnahme darstellt. Ein genereller Trend ist aber die Abnahme langfristiger Bindungen an eine Partei und damit ein Anwachsen der Wechselwähler. Die Verlierer waren zunächst die großen Parteien (Christdemokraten, Sozialdemokraten, Konservative), in der Grafik am Beispiel Deutschlands dargestellt.
Quelle: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung |
In der Bundesrepublik Deutschland konnten die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD in den 70er Jahren noch ca. 80 % der Wähler für sich mobilisieren, mittlerweile ist ihr Anteil unter 50 % gesunken. Zugenommen hat nicht nur der Anteil der Wähler kleinerer Parteien (Grüne, Linkspartei), sondern auch der Nichtwähler. Die Wahlbeteiligung ist allerdings in den einzelnen europäischen Ländern sehr verschieden, und ein niedriger Wert bedeutet nicht unbedingt eine Gefahr für die Demokratie.
In den meisten europäischen Ländern ist nicht nur der Stimmanteil der großen Volksparteien rückläufig, sondern auch deren Mitgliederzahl. Wichtiger erscheint aber der Aufstieg neuer Parteien, die offensichtlich aus einem Wählerreservoir schöpfen, das von den großen Volksparteien nicht mehr erreicht wird. Insbesondere betrifft das zwei neue Parteifamilien, die erst seit den 70er und 80er Jahren eine wichtige Rolle spielten und die Parteiensysteme mehrerer Länder zunehmend veränderten. Gemeint sind zum einen die grün-alternativen und zum anderen die rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien.
Spektakuläre Erfolge erzielten in den vergangenen Jahren immer wieder rechtspopulistische Parteien, zuletzt vor wenigen Tagen (18. Juni 2015) in Dänemark, wo die Dänische Volkspartei mit 21,1 % der Stimmen zweitstärkste Partei wurde. Solche Erfolge sind nicht auf Dänemark beschränkt. 2014 wurde der "Front National" in Frankreich mit 26 % stärkste Partei bei den Europawahlen, und bei denselben Wahlen erreicht die euroskeptische UKIP ("United Kingdom Independence Party") in Großbritannien 28 % und wurde stärkste britische Partei.
In Deutschland waren in den 80er Jahren die Republikaner erfolgreich, später die rechtsextreme NPD und neuerdings die "Alternative für Deutschland" (AfD). In Deutschland hat sich bisher keine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei dauerhaft auf Bundesebene etablieren können, aber das Wählerpotential ist zweifellos vorhanden. In Österreich wurde die an sich klassisch liberale FPÖ bereits in den 80er Jahren von Jörg Haider in eine rechtspopulistische Partei überführt. Die Folge waren dramatische Stimmengewinne: von ungefähr 5 % stieg der Anteil auf zeitweise 27 %, bevor sich die FPÖ spaltete.
Quelle: Wikimedia Commons |
Auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums, nämlich überwiegend links, finden sich seit den 80er Jahren zunehmend grün-alternative Parteien. Direkt oder indirekt sind sie Ergebnis der neuen sozialen Bewegungender 70er Jahre. Ihr Hauptthema dürfte bei allen Unterschieden die Umweltproblematik sein. Die erste in Europa erfolgreiche Partei waren die deutschen Grünen, die daher eine gewisse Vorbildfunktion für andere grüne Parteien hatten. Seit den 90er Jahren waren mehrere grüne Parteien als Juniorpartner in Regierungen vertreten, u.a. in Deutschland, Frankreich, Italien oder Irland
Quelle: www.ngo.bham.ac.uk |
Die grünen Parteien sind allerdings in Nordeuropa (vor allem in Mitteleuropa und Skandinavien) eindeutig stärker als in Südeuropa. Die Wähler der grünen Parteien haben meist ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, wohnen in großen Städten und sind im Dienstleistungsbereich (besonders im öffentlichen Dienst) beschäftigt. Es sind mithin keine Globalisierungsverlierer, sondern Angehörige meist relativ gut geschützter Berufe, die sich weniger um die ökonomische Globalisierung an sich als vielmehr um deren ökologische Auswirkungen Sorgen machen. Ihr Erfolg hängt von verschiedenen Faktoren ab, so z.B. vom Wahlsystem oder der Aufmerksamkeit, die die etablierten Parteien der Umweltproblematik widmen. Ob sich allerdings die grünen Parteien zu großen Volksparteien wandeln können, ist doch eher fraglich.
Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass unter dem Eindruck der Eurokrise der letzten Jahre populistische Parteien von rechts und links Auftrieb bekommen haben. Das ist an sich nichts Überraschendes. In wirtschaftlichen Krisenzeiten besteht immer eine Neigung zur Wahl populistischer Parteien, die einfache Lösungen für die gegenwärtige Krise anbieten. Im europäischen Kontext ist besonders interessant, dass es hier offenbar eine Polarisierung zwischen (vorwiegend nordeuropäischen) Geberländern und (vorwiegend südeuropäischen) Nehmerländern gibt: in der ersten Gruppe haben die erwähnten rechtspopulistischen Parteien Erfolg, in der zweiten die linkspopulistischen wie "Syriza" in Griechenland, "Podemos" in Spanien oder die 5-Sterne-Bewegung in Italien. Der Aufsteig dieser Parteien bildet eine direkte Reaktion auf die Eurokrise und die von europäischen Institutionen (und dem IWF) verordneten Sparprogramme. Zu hoffen bleibt, dass das nur ein kurzzeitiger Effekt ist, der mit dem Abflauen der Krise verschwindet.
Ergebnisse der Europawahl 2014; Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung |
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