"Wissensgesellschaft" ist seit einiger Zeit eines der beliebtesten Schlagwörter der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion. Es trat an die Stelle des enger gefassten Begriffs der "Informationsgesellschaft", der sich lediglich auf den Aufstieg der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und dessen gesellschaftliche Folgen bezog. Demgegenüber ist der Begriff der "Wissensgesellschaft" breiter angelegt. Manche Soziologen wie Nico Stehr sehen in der "Wissensgesellschaft" analog zur "Dienstleistungsgesellschaft" oder zur "post-industriellen Gesellschaft" (Daniel Bell) eine Gesellschaftsformation, die an die Stelle der älteren Industriegesellschaft tritt. Nach Stehr ist die Wissensgesellschaft durch vier Merkmale gekennzeichnet: erstens wird Wissen zur wichtigsten ökonomischen Ressource (wichtiger als die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden); zweitens findet darüber hinaus eine Verwissenschaftlichung aller Bereiche der Gesellschaft statt: wissenschaftliches Wissen wird "Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns in allen Bereichen"; drittens schlägt sich das in der Zunahme wissensintensiver Dienstleistungen nieder; viertens schließlich verändert sich auch die Form der Wissensproduktion: wissenschaftliches Wissen wird nicht mehr nur an Universitäten und anderen Forschungsinstituten betrieben, sondern die Grenzen zur Gesellschaft wie zwischen den Disziplinen werden durchlässiger: wissenschaftliches Wissen wird plural, interdisziplinär und offen.
Soweit die Theorie. Wie sehen die empirischen Befunde aus? Was zunächst den Theoretikern der Wissensgesellschaft recht zu geben scheint, ist die Bildungsexpansion, und insbesondere die wachsende Bildungsbeteiligung im tertiären Sektor (Hochschulen). Hierbei handelt es sich um einen säkularen Prozess, dessen Anfang schwer zu bestimmen ist. 1910 und auch noch 1950 lag der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen im einstelligen Prozentbereich. Seit den 50er Jahren stieg er in allen Ländern Westeuropas an, in einige Ländern schneller, in anderen langsamer. Der Ansteig war auch nicht auf die 60er und 70er Jahre beschränkt, sondern ging danach weiter, zum Teil bis heute. Bereits 1995 war der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen in Europa auf 42 % gewachsen.
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Anteil der Studierenden an den 20-24jährigen; Quelle: Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007 |
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Quelle: Eurydice, Der Europäische Hochschulraum im Jahr 2012 |
Gegenüber dieser allgemeinen Tendenz zur Expansion treten die länderspezifischen Unterschiede tendenziell zurück. 2009 war der Hochschulbesuch, wie das Diagramm verdeutlicht, in Deutschland unterdurchschnittlich. Zu beachten ist dabei jedoch, dass hier der Zugang zu vielen Berufen über die duale Ausbildung erfolgt, wofür in manchen anderen Ländern ein Hochschulstudium vorausgesetzt wird (z.B. Hebammen, Krankenpfleger). Insofern senkt das an sich empfehlenswerte, weil praxisorientierte, duale System die Zahlen der tertiären Bildungsbeteiligung. Dennoch war die Bildungsbeteiligung in Deutschland nicht geringer als in Italien oder Großbritannien und nur etwas geringer als in Frankreich. In allen Ländern profitierten übrigens die Frauen mehr als die Männer, da gleichzeitig mit der Hochschulexpansion der Anteil der weiblichen Studierenden wuchs. In den 90er Jahren war die numerische Gleichheit mit den Männern erreicht. Allerdings studieren Frauen bis heute häufig andere, meist weniger lukrative Fächer als Männer.
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Frauenanteil der Studierenden in %, 1950-95 |
Die Hochschulexpansion ist an und für sich zunächst positiv zu bewerten, denn höhere Bildung für viele (wenn nicht alle) heißt zumindest tendenziell, dass traditionelle Gegensätze zwischen einer kleinen Elite mit höherer Bildung und der Masse der Bevölkerung mit bloßer Elementarschulbildung verschwinden oder zumindest verringert werden. Der Anteil der Bevölkerung, der nur über Elementarschulbildung verfügt, ist deutlich zurückgegangen und liegt in den meisten europäischen Ländern unter 10 %. Ausnahmen bilden hier nur die südeuropäischen Länder Spanien (17 % 2012), Griechenland (21 %) und vor allem Portugal (42 %). Auch sollte höhere Bildung die Menschen dazu befähigen, ihre demokratischen Rechte besser und bewusster wahrzunehmen.
Dennoch schuf diese historisch beispiellose Expansion auch Probleme. Nicht zuletzt waren das Finanzierungsprobleme. Hochschulen kosten eine Menge Geld, und in den meisten europäischen Staaten werden diese Kosten ganz überwiegend vom Staat getragen. Der Übergang zu einer primär auf Studiengebühren beruhenden Finanzierung ist in den letzten Jahren in Großbritannien vollzogen worden, mit dem Ergebnis, dass das Studium dort für die Studierenden am teuersten ist. Im Zuge der Finanz- und Eurokrise sahen sich mehrere Staaten zu Kürzungen im Hochschulbereich gezwungen, z.B. Griechenland, Italien, Irland, Großbritannien oder Island. Generell sind die europäischen Universitäten im Vergleich zu den USA unterfinanziert: Dort wird pro Student mehr als das Doppelte ausgegeben, an den prestigeträchtigen Elite-Universitäten sogar noch deutlich mehr. Deutschland liegt in Europa im Mittelfeld, während die Ausgaben in Italien und Portugal noch einmal deutlich niedriger sind. In Deutschland sind die Grundmittel für die Hochschulen inflationsbereinigt seit 1995 in etwa gleich geblieben, während sich die Zahl der Studierenden um ca. 20 % erhöht hat.
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Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012 |
Neben den Finanzierungsproblemen gibt es auch Stimmen, die vor einer Über-Akademisierung warnen. Die empirischen Befunde hierzu sind zwiespältig. Einerseits sind Hochschulabsolventen immer noch weitaus weniger von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt. Sie verdienen im Schnitt auch deutlich mehr. Individuell lohnt sich ein Studium also zumeist noch. Wenn man allerdings die so genannte "Bildungsrendite" (also den wirtschaftlichen Nutzen der Bildung) nach Fächergruppen aufschlüsselt, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Geistes- und sozialwissenschaftliche Absolventen verdienen nicht nur weniger als diejenigen anderer Fächer wie Medizin, Natur- oder Technikwissenschaften. In einigen Ländern wie Deutschland, Italien oder Frankreich ist die Bildungsrendite hier entweder Null oder sogar negativ, während sich in den USA oder Großbritannien auch Geisteswissenschaften durchaus noch lohnen.
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Quelle: OECD |
Sind solche Berechnungen schon mit Problemen behaftet, so ist es noch schwieriger, zuverlässige Aussagen über den Zusammenhang zwischen Hochschulexpansion und wirtschaftlicher Entwicklung zu machen. Zwar gibt es hier einen Zusammenhang in dem Sinne, dass in wohlhabenderen Ländern tendenziell auch mehr Menschen studieren, aber das heisst noch nicht, dass die bessere Ausbildung wirtschaftliches Wachstum erzeugt. Eher ist es wohl andersherum, dass es sich immer mehr Menschen schlicht leisten können, ein Studium aufzunehmen. Dass die Hochschulabsolventen dennoch höhere Einkommen erzielen, kann somit auch mit Verdrängungseffekten zusammenhängen, d.h. Arbeitgeber stellen lieber Hochschulabsolventen ein, auch wenn das für die ausgeschriebene Stelle nicht unbedingt notwendig wäre. Letztlich gibt es aber kein objektives Maß für den "richtigen" Akademikeranteil einer Gesellschaft.
Die Hochschulexpansion traf auf national ganz unterschiedliche Hochschulsysteme. In Frankreich existiert ein zentralistisches System, das an der Spitze von den "grandes ecoles" (Elitehochschulen) dominiert wurde. In England übernahmen die Universitäten Oxford und Cambridge lange Zeit diese Rolle, während in Deutschland und in Italien die Universitäten im Prinzip als gleich gut galten. Das Ideal war lange Zeit die Volluniversität, die weder inhaltliche Schwerpunkte setzte noch sich wesentlich in der Qualität der Ausbildung oder der Forschung von anderen Universitäten unterschied (in der Praxis war das natürlich immer schon anders). Seit 1999 veränderte der von den europäischen Ministern beschlossene Bologna-Prozess die europäische Hochschullandschaft und machte sie tendenziell einheitlicher. Der europäische Hochschulraum weist sogar über die EU hinaus und umfasst auch Länder wie Russland oder die Türkei. In allen Ländern wurde begonnen, das Studium in drei Stufen einzuteilen: eine meist dreijährige Grundstufe (Bachelor), ein zweijähriges Aufbaustudium (Master) und eine ebenfalls strukturierte Doktorandenausbildung (Ph.D. oder Promotion). Die Umsetzung ist mittlerweile schon recht weit gediehen, in den meisten Ländern studieren bereits über 90 % der Studenten nach dem neuen System. Nachzügler in Westeuropa sind Spanien und in geringerem Maße auch Deutschland. Widerstand gibt es in Deutschland vor allem bei ingenieurwissenschaftlichen Fächern, Medizin oder Staatsexamen, die aufgrund der angestrebten Studienzeitverkürzung eine Qualitätsverschlechterung befürchten. Insgesamt gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz der neuen Abschlüsse, was sich darin äußert, dass in einigen Ländern viele Studenten nach dem ersten Abschluss binnen kurzer Zeit ein weiterführendes Studium aufnehmen (z.B. Deutschland, Frankreich, Italien, Irland, Dänemark). In diesen Ländern ist das angestrebte Ziel der Studienzeitverkürzung somit nicht oder nur eingeschränkt erreicht worden. In anderen Ländern (vor allem Großbritannien, aber auch die Niederlande und Norwegen) scheint der Bachelor-Abschluss dagegen akzeptiert zu sein.
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Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012 |
Trotz der ambivalenten wirtschaftlichen Effekte der Hochschulexpansion hat die Theorie der "Wissensgesellschaft" einen wahren ökonomischen Kern. Es gibt nämlich in den USA mit dem "Silicon Valley" in Kalifornien ein Modellbeispiel für das Zusammenspiel von Forschungseinrichtungen (Stanford University), wirtschaftlichen Unternehmen und Staat. In dieser Region wurden einige der heute größten Firmen der Welt, vor allem in der Informationstechnologie, gegründet, z.B. Apple und Google, aber auch Cisco, HP, Yahoo und viele andere mehr. Der enorme wirtschaftliche Erfolg dieser Region hat weltweit und so auch in Europa Nachahmer auf den Plan gerufen. Politiker versuchten, durch geeignete Fördermaßnahmen ihr eigenes "Silicon Valley" zu initiieren. Als entscheidend wird die Konzentration von (naturwissenschaftlich-technischen) Forschungseinrichtungen in Kombination mit der Förderung kleiner, wissensbasierter Unternehmen ("start-ups") gesehen. So entstand in Europa eine Häufung von Hochtechnologie-Regionen, allein in Deutschland sollen es über 500 sein. Einigermaßen erfolgreich sind in Deutschland der Großraum München ("Isar Valley"), Dresden ("Silicon Saxony") oder das IT-Cluster Rhein-Main-Neckar (u.a. SAP), in Europa beispielsweise Cambridge oder Paris. Aber auch Städte wie Berlin, Dublin, Enschede oder Tallinn erheben den Anspruch, das "Silicon Valley Europas" zu sein. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten, aber bisher ist es trotz aller Erfolge nicht gelungen, eine mit dem Original vergleichbare Dynamik zu entfachen.
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