Donnerstag, 25. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Außenpolitik, europäische Einigung

Die Außenbeziehungen der westeuropäischen Staaten sind und waren sehr komplex. Allgemeine Urteile lassen sich schwer fällen, da jedes Land eigene Traditionen hat und die EU bisher keine gemeinsame Außenpolitik macht, so dass letztlich jedes Land eigene Akzente setzen kann. Die meisten westeuropäischen Länder gehören der NATO an, aber manche (wie etwa Norwegen oder die Schweiz) sind auch neutral. Die wichtigsten außenpolitischen Veränderungen, die Westeuropa seit 1970 betrafen, waren die europäische Einigung und die Auflösung des Ostblocks.

Während die 50er und 60er Jahre noch vom "Kalten Krieg" gekennzeichnet waren, der Europa und die Welt mehrmals an den Rand eines Atomkriegs brachte (insbesondere in der Kuba-Krise 1962), entspannte sich das Verhältnis zwischen West und Ost um 1970. In der Bundesrepublik regierte seit 1969 die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt, der mit der so genannten "Ostpolitik" mehrere bilaterale Verträge mit Warschauer Pakt-Staaten schloss, 1970 mit der UdSSR und mit Polen, 1972 mit der DDR und 1973 mit Tschechien. Hinzu trat das 1971 geschlossene Viermächteabkommen über Berlin. Erst mit diesen Verträgen war die Nachkriegsordnung auf ein sicheres Fundament gestellt, die Bundesrepublik verzichtete auf alle Gebietsansprüche und akzeptierte die nach dem Krieg entstandenen Grenzen. Auch das Verhältnis zwischen den Supermächten verbesserte sich, 1969 begannen die Rüstungskontrollverhandlungen SALT (Strategic Arms Limitation Talks) und START (Strategic Arms Reduction Talks, ab 1982), die, nach zum Teil langwierigen Verhandlungen, zu mehreren Abkommen führten: SALT I 1972 (Begrenzung der Zahl der Interkontinentalraketen, Verbot der Raketenabwehrsysteme), SALT II 1979 (Begrenzung der Zahl der strategischen Atomwaffen, einschließlich Bomber und Sprengköpfe; aber nicht vom US-Senat ratifiziert), START 1991 (Reduktion der strategischen Atomwaffen auf 1600 Trägersysteme mit 6000 Sprengköpfen). 1987 wurde der INF-Vertrag geschlossen, der die "doppelte Nullösung" für Mittelstreckenraketen in Europa brachte, und noch 2002 schlossen die USA und Russland (als Nachfolger der Sowjetunion) ein Abkommen, das die Zahl der strategischen Atomwaffen weiter reduzierte (auf 2200 Sprengköpfe).

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze kam es 1979 zu neuen Spannungen zwischen den Supermächten. Anlass war die sowjetische Invasion in Afghanistan, die zu einer neuen Eiszeit führte (wechselseitiger Boykott der Olympischen Spiele 1980 und 1984). Der sowjetischen Invasion wurden andere Motive unterstellt als sie wohl existierten, z.B. ein Zugang zu den ölreichen Gebieten des Mittleren Ostens. Ebenfalls 1979, aber nicht als Reaktion auf die Vorgänge in Afghanistan, fasste die NATO den so genannten "Doppelbeschluss", der die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Marschflugkörper (Cruise Missiles) in Europa vorsah, aber auch ein Gesprächsangebot an die Sowjetunion enthielt (daher Doppelbeschluss). Die Raketen wurden Anfang der 80er Jahre gegen den massiven Widerstand der westeuropäischen Friedensbewegung stationiert, aber nach dem INF-Vertrag 1987 wieder abgezogen bzw. vernichtet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte in der Sowjetunion bereits der Wandel eingesetzt, der mit dem Namen Michail Gorbatschow und den Begriffen "Glasnost" (Offenheit, Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) verbunden ist. Gorbatschow, der eine bis dahin eher unauffällige Parteikarriere gemacht hatte, wurde 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Sein Reformprogramm begann aber erst Anfang 1986 mit der Einführung von Meinungsfreiheit ("Glasnost") bzw. 1987 mit Wirtschaftsreformen ("Perestroika"). Sein Ziel war keineswegs die Abschaffung des Sozialismus, sondern dessen Verbesserung. Der Hintergrund ist in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion und anderer RGW-Staaten seit den späten 70er Jahren zu suchen. Viele hatten westliche Kredite aufgenommen, die sie nur schwer wieder zurückzahlen konnten. Polen war 1981 praktisch zahlungsunfähig. Als Gorbatschow in mehreren Äußerungen 1988 andeutete, dass die sozialistischen Länder ihren Weg frei wählen könnten, die Sowjetunion also im Fall von Reformen anders als noch 1968 nicht militärisch intervenieren würde, war die Voraussetzung für die demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa von 1989-91 geschaffen. Die meisten blieben friedlich, nur in Rumänien und in Jugoslawien kam es zu Gewalt. Das Tempo des Übergangs hing zum Teil von der regierenden kommunistischen Partei ab. In Polen und Ungarn suchten die Herrschenden frühzeitig den Dialog mit der Opposition, in Tschechien, Bulgarien oder der DDR hielten sie lange Zeit an ihrem Führungsanspruch fest und wurden in friedlichen Revolutionen im Herbst 1989 entmachtet. Die Sowjetunion selbst löste sich nach einem gescheiterten Putsch im August 1991 auf.

Die Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa war ein wichtiger Einschnitt in der europäischen Geschichte. Sie verstärkte durch die Auflösung des RGW die bereits vorhandenen Globalisierungsprozesse. Die Einführung der Demokratie verlief in den meisten Staaten (außer Weißrussland, Jugoslawien, der Ukraine oder Russland) erstaunlich problemlos. Dafür mussten alle ehemals sozialistischen Staaten ihr Wirtschaftssystem komplett umstellen und gingen durch eine Transformationskrise in den frühen 90er Jahren, die aber bald von einem Aufschwung abgelöst wurde, der vor allem von ausländischen Direktinvestitionen getragen war. Insofern gehören die mittel- und osteuropäischen Staaten zu den Gewinnern der Globalisierung. Trotz dieser Erfolge bleiben als Schattenseite die teils drastischen Einschnitte in den Sozialsystemen in der Transformationsphase.

Ausländische Direktinvestitionen in Mrd. US $, aus: Helga Schultz, Transformation 1

Auch darf nicht übersehen werden, dass nach 1990 der konventionelle Krieg nach Europa zurückkehrte, was bis dahin angesichts der Konfrontation der Atommächte für kaum vorstellbar galt. Zwischen 1991 und 1999 wurden im zerfallenden Jugoslawien mehrere primär ethnisch motivierte Kriege geführt (Zehntagekrieg in Slowenien 1991, Kroatienkrieg 1991-95, Bosnienkrieg 1992-95, Kosovokrieg 1998/99), in die auch die NATO nach langem Zögern eingriff. Auslöser für die zum Teil äußerst brutal geführten Kriege (ethnische Säuberungen, Massaker von Srebrenica im Juli 1995) waren ungelöste Minderheitenprobleme: der Serben in Kroatien, der Serben und Kroaten in Bosnien sowie der Albaner im zu Serbien gehörenden Kosovo.

Für mehr Stabilität in Mittel- und Osteuropa sollte die NATO-Osterweiterung sorgen, die 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn) bzw. 2004 (Slowenien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien) erfolgte. Heute, im Kontext der Ukraine-Krise, wird die NATO-Osterweiterung manchmal als Bruch der Zusagen gewertet, die westliche Politiker der Sowjetunion im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit 1990 gaben. In der Tat gab es wohl mündliche Aussagen in diese Richtung, sie wurden aber nie schriftlich fixiert (Sarotte).

Auch die Europäische Union (EU) nahm nach 1990 mehrere mittel- und osteuropäische Staaten auf (siehe Karte).


Quelle: www.europarl.europa.eu


 Insgesamt ist die Geschichte der EU und ihrer Vorgänger (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, Europäische Gemeinschaft, EG) eine Geschichte der zunehmenden Integration und Erweiterung, allerdings nicht ohne Rückschläge. In den 50er Jahren scheiterte das Projekt einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG), in den 60er Jahren scheiterte eine Aufnahme Großbritanniens am hartnäckigen Widerstand der damaligen französischen Regierung, und in den 80er Jahren kämpfte die britische Regierung letztlich erfolgreich für eine Ermäßigung ihrer Beiträge ("Britenrabatt" 1984). Den Kern der EG bzw. EU machten die sechs Gründungsmitglieder der EWG (1957) aus: Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder. 1973 traten Dänemark, Großbritannien und Irland bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien und 1995 Österreich, Schweden und Finnland. In Westeuropa fehlten damit außer einigen Zwergstaaten nur die Schweiz, Norwegen und Island.

Parallel zur geographischen Ausweitung erhielt die EU immer neue Kompetenzen und musste angesichts der zunehmenden Mitgliederzahl auch die Prozeduren zur Entscheidungsfindung reformieren. Ursprünglich war im entscheidenden Gremium, dem Rat (in dem je ein Vertreter jedes Landes saß) Einstimmigkeit vorgesehen. Schon in den späten 80er Jahren, als es darum ging, den europäischen Binnenmarkt zu schaffen (Vertrag von Maastricht 1992), wurden zunehmend qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eingeführt. Parallel stiegen die Befugnisse des 1979 erstmals direkt gewählten Europäischen Parlaments. Seit 2009 (Vertrag von Lissabon) ist im Rat eine doppelte Mehrheit nötig (55 % der Staaten, die zusammen 65 % der Bevölkerung repräsentieren).

Die EWG war lange Zeit wenig mehr als eine Freihandelszone mit einem Ausgleich für die Landwirtschaft ("Gemeinsame Agrarpolitik" seit 1962), der den Strukturwandel in diesem Bereich abfedern sollte. Die Abschaffung der Zölle wurde nach 1957 schrittweise verwirklicht. Einen neuen Integrationsschub gab es erst mit dem 1992 verwirklichten EU-Binnenmarkt, der über eine Freihandelszone hinaus ging und die vier Freiheiten (der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen und der Arbeitskräfte) umfasste. Im Kern ging es um die Abschaffung so genannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, was die Harmonisierung vieler Vorschriften oder die gegenseitige Anerkennung (was in einem EG-Land erlaubt ist, darf in einem anderen nicht verboten sein) mit sich brachte. Dennoch blieb der EU-Haushalt lange Zeit von den Agrarausgaben dominiert. Erst nach und nach wuchs der Anteil der so genannten Strukturfonds, die vor allem strukturschwache Regionen in Europa fördern sollten.


Nicht alle Länder der EU wollten alle Integrationsschritte mitgehen. Daher kam es seit den 90er Jahren zunehmend zu einer differenzierten Integration: So wurden zwar im Schengener Abkommen die Grenzkontrollen zwischen den beteiligten Ländern, nicht aber an den EU-Außengrenzen, abgeschafft, aber nicht alle EU-Staaten traten diesem Abkommen bei (z.B. Großbritannien und Irland), dafür umfasst der Schengen-Raum auch Nichtmitglieder der EU (Norwegen, Schweiz, Island). Die Einführung des Euro (als Verrechnungseinheit 1999, als Bargeld 2002) beschränkte sich ebenfalls auf zuerst 11, mittlerweile 19 der 28 EU-Staaten. In Westeuropa fehlen allerdings nur Großbritannien und Dänemark.

Insgesamt war die EU bis zur Eurokrise eine Erfolgsgeschichte. Die Mischung aus wirtschaftlicher Integration, von der wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland profitierten, und Strukturbeihilfen für schwächere Länder machte sie für viele Länder attraktiv. In der Eurokrise zeigte sich jedoch, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ein Strukturfehler ist. Das bedeutet nicht unbedingt, dass der Euro gescheitert ist, aber es gibt sicher Nachbesserungsbedarf. Trotz aller Probleme ist die europäische Integration eine insgesamt vernünftige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die europäischen Unternehmen profitieren von dem größeren Binnenmarkt und schwächere Regionen bekommen die Chance, durch Investitionen in Bildung oder Infrastruktur ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Zu verkennen ist aber auch nicht, dass das gemeinsame europäische Bewusstsein immer noch recht schwach ausgeprägt ist und viele Länder (arme wie reiche) primär wegen der wirtschaftlichen Vorteile EU-Mitglieder sind.






Montag, 22. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Innenpolitik, Parteiensysteme

In der Innenpolitik gab es seit 1970 in Westeuropa zwei große Trends: erstens die Durchsetzung der Demokratie in den (südeuropäischen) Ländern, wo dies 1970 noch nicht oder nicht mehr der Fall war; zweitens die Abnahme der Parteienbindungen und, damit verbunden, die Fragmentierung des Parteiensystems (oft auch als "Krise der Volksparteien" bezeichnet). Einen Sonderfall bildete Italien, wo, ausgelöst durch einen Korruptionsskandal, 1992/93 das gesamte Parteiensystem eine grundlegende Umgestaltung erfuhr ("Zweite Republik").

Die Demokratisierung in Südeuropa war Teil eines globalen Trends zur Demokratie, der so genannten "Dritten Welle" (Samuel Huntington). Nach den südeuropäischen Ländern gingen in den 70er und 80er Jahren mehrere lateinamerikanische und asiatische Länder zur Demokratie über, und 1989-91 folgten die mittel- und osteuropäischen Staaten.

Quelle: Jørgen Møller, Sved-Erik Skaanen, The Third Wave: Inside the Numbers, in: Journal of Democracy 2013


Unterhalb dieser allgemeinen Gemeinsamkeiten gab es aber in der Transformation ganz erhebliche Unterschiede von Land zu Land. In Griechenland regierte das Militär nur eine kurze Zeit, von 1967-73. Die Militärregierung verfügte von vornherein nicht über eine große Legitimationsbasis und musste auf internationalen Druck und im Angesicht der Zypern-Krise den Weg für die Demokratie freimachen. Die anderen beiden Diktaturen in Portugal  und Spanien stammten noch aus der Zwischenkriegszeit, stellten aber eher konservativ-autoritäre als genuin faschistische Diktaturen dar. Immerhin hatten sie genug Zeit gehabt, eine eigene Legitimationsbasis aufzubauen. Allerdings wuchs mit der Durchsetzung der Demokratie in Westeuropa nach 1945 und dem Erfolg der EWG der äußere Druck, zur Demokratie überzugehen. In Spanien ging der Anstoß von Teilen des alten Regimes aus. Diktator Franco hatte den spanischen König Juan Carlos zu seinem Nachfolger ausgewählt. Dieser leitete nach dem Tod Francos 1975 aber den Übergang zur Demokratie ein. Der Vorteil dieses verhandelten Übergangs war seine friedliche Natur, der Nachteil bestand im Verzicht auf die Aufarbeitung des unter Franco geschehenen Unrechts. In Portugal dagegen wurde die Diktatur durch eine Revolution, die so genannte "Nelkenrevolution" vom April 1974, abgelöst. Sie ging von unzufriedenen Offizieren der Armee aus, die ihrerseits in den afrikanischen Kolonien (Angola und Mosambik) in einen aussichtslosen und zermürbenden Krieg verwickelt war. Die Revolution ging aber rasch über einen bloßen Militärputsch hinaus und erreichte eine populäre Mobilisierung. Der Beitritt der neuen Demokratien zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte in den 80er Jahren: Griechenland 1981, Spanien und Portugal 1986. Er dürfte die Demokratie in den genannten Ländern weiter stabilisiert haben.

Die Demokratie in Italien konnte dagegen auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken, als sie zu Beginn der 90er Jahre in eine existentielle Krise geriet. Das italienische Parteiensystem nach dem Krieg war gekennzeichnet durch zwei große (Christdemokraten und Kommunisten) und mehrere kleine Parteien. Die Kommunisten waren aus außenpolitischen Gründen von der Regierungsbildung (auf nationaler Ebene) ausgeschlossen, so dass die Christdemokraten de facto eine Hegemonialstellung inne hatten und von 1945 bis 1981 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellten. Auslöser der Transformation zu Beginn der 90er Jahre waren staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zur Korruption in Mailand, die rasch ein großes Netzwerk von Korruption und illegaler Parteienfinanzierung aufdeckten. Besonders betroffen waren die Christdemokraten und die Sozialisten. Hinzu kamen ein durch den Zusammenbruch des Ostblocks angestoßener Wandlungsprozess der Kommunisten sowie eine Wahlrechtsänderung 1993, die die in Italien übliche Zersplitterung des Parteiensystems begrenzen sollte. In der Folge bildeten sich neue Parteien und Parteienbündnisse wie "Forza Italia", die Demokratische Linkspartei oder der "Olivenbaum". Seitdem wird Italien meist von breiten, aber instabilen Parteienbündnissen beherrscht, die unter wechselnden Namen antreten und politisch entweder Mitte-rechts oder Mitte-links einzuordnen sind.

Größere Stabilität haben die Veränderungen allerdings nicht gebracht. Die italienischen Parteien sind stärker als in Deutschland auf einzelne Personen zugeschnitten (z.B. Silvio Berlusconi). Sie lassen sich nur sehr bedingt den bekannten europäischen Parteienfamilien (Konservative, Christdemokraten, Liberale, Sozialdemokraten) zuordnen. Die stärksten Parteien sind im Moment: erstens die Demokratische Partei (u.a. Matteo Renzi), die ungefähr der europäischen Sozialdemokratie entspricht, aber auch ehemalige Christdemokraten aufgenommen hat; zweitens die "Forza Italia" (Silvio Berlusconi), die eher konservativ-christdemokratisch ausgerichtet ist; drittens die "bürgerliche Wahl (scelta civica)" (Mario Monti), die christdemokratisch-liberal orientiert ist; und viertens die euroskeptische Protestpartei "5 Sterne-Bewegung" (Beppe Grillo).

Insgesamt sind die europäischen Parteiensysteme sehr unterschiedlich, bedingt durch die verschiedenen historischen Traditionen und die verschiedenen Wahlsysteme. Es sind auch keine Tendenzen zur Angleichung erkennbar. Formale Kategorien wie die Zahl der Parteien helfen nicht wirklich weiter. In den 50er und 60er Jahren dominierten in allen außer den skandinavischen Ländern die Christdemokraten bzw. Konservativen, auch wenn sie sich wechselnde Koalitionspartner suchen mussten. Seit den 70er Jahren sind die Systeme in Bewegung geraten, auch wenn ein totaler Bruch wie in Italien noch immer die Ausnahme darstellt. Ein genereller Trend ist aber die Abnahme langfristiger Bindungen an eine Partei und damit ein Anwachsen der Wechselwähler. Die Verlierer waren zunächst die großen Parteien (Christdemokraten, Sozialdemokraten, Konservative), in der Grafik am Beispiel Deutschlands dargestellt.

Quelle: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

In der Bundesrepublik Deutschland konnten die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD in den 70er Jahren noch ca. 80 % der Wähler für sich mobilisieren, mittlerweile ist ihr Anteil unter 50 % gesunken. Zugenommen hat nicht nur der Anteil der Wähler kleinerer Parteien (Grüne, Linkspartei), sondern auch der Nichtwähler. Die Wahlbeteiligung ist allerdings in den einzelnen europäischen Ländern sehr verschieden, und ein niedriger Wert bedeutet nicht unbedingt eine Gefahr für die Demokratie.

In den meisten europäischen Ländern ist nicht nur der Stimmanteil der großen Volksparteien  rückläufig, sondern auch deren Mitgliederzahl. Wichtiger erscheint aber der Aufstieg neuer Parteien, die offensichtlich aus einem Wählerreservoir schöpfen, das von den großen Volksparteien nicht mehr erreicht wird. Insbesondere betrifft das zwei neue Parteifamilien, die erst seit den 70er und 80er Jahren eine wichtige Rolle spielten und die Parteiensysteme mehrerer Länder zunehmend veränderten. Gemeint sind zum einen die grün-alternativen und zum anderen die rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien.

Spektakuläre Erfolge erzielten in den vergangenen Jahren immer wieder rechtspopulistische Parteien, zuletzt vor wenigen Tagen (18. Juni 2015)  in Dänemark, wo die Dänische Volkspartei mit 21,1 % der Stimmen zweitstärkste Partei wurde. Solche Erfolge sind nicht auf Dänemark beschränkt. 2014 wurde der "Front National" in Frankreich mit 26 % stärkste Partei bei den Europawahlen, und bei denselben Wahlen erreicht die euroskeptische UKIP ("United Kingdom Independence Party") in Großbritannien 28 % und wurde stärkste britische Partei.

In Deutschland waren in den 80er Jahren die Republikaner erfolgreich, später die rechtsextreme NPD und neuerdings die "Alternative für Deutschland" (AfD). In Deutschland hat sich bisher keine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei dauerhaft auf Bundesebene etablieren können, aber das Wählerpotential ist zweifellos vorhanden. In Österreich wurde die an sich klassisch liberale FPÖ bereits in den 80er Jahren von Jörg Haider in eine rechtspopulistische Partei überführt. Die Folge waren dramatische Stimmengewinne: von ungefähr 5 % stieg der Anteil auf zeitweise 27 %, bevor sich die FPÖ spaltete.

Quelle: Wikimedia Commons
 Das Hauptthema der rechten Parteien ist die Zuwanderung. Sie sind prinzipiell immigrationsfeindlich, auch wenn sich das in unterschiedlichen Formen zeigt: mal als Abneigung gegen Europa wie bei der UKIP, mal als Abneigung gegen den Islam wie bei der niederländischen Freiheitspartei, ja sogar als Separatismus wie bei der Lega Nord in Italien. Der Aufstieg dieser rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien ist somit eine direkte Folge der Globalisierung und der damit verbundenen Zuwanderung. Ihre Wähler sind zum einen die so genannten Modernisierungsverlierer, die besser Globalisierungsverlierer genannt werden sollten, nämlich die gering qualifizierten Arbeiter. Die FPÖ ist mittlerweile die stärkste Partei bei den österreichischen Arbeitern und Lehrlingen. Die Arbeiter sind ökonomisch besonders von der Globalisierung betroffen, denn erstens war lange Zeit der Großteil der Zuwanderer (in den meisten Ländern) ebenfalls gering qualifiziert, stellte also eine direkte Konkurrenz dar. Zweitens sind die Arbeitsplätze der gering Qualifizierten am stärksten von der Globalisierung, also der Verlagerung von industrieller Fertigung in andere Länder, bedroht. Die andere Wählergruppe der Rechtsparteien gehört der Mittelschicht an und ist meist selbst nicht unmittelbar von der Globalisierung bedroht. Auch der häufig zu hörende Verweis auf diffuse Abstiegsängste der Mittelschicht trägt zur Erklärung wenig bei. Vielmehr scheint es sich bei diesen Wählern schlicht um Wohlstandschauvinisten zu halten, die Zuwanderer (insbesondere Flüchtlinge) primär als Belastung für die Sozialsysteme wahrnehmen und sie daher ablehnen. Daher stammen die Ressentiments gegen "Scheinasylanten" und "Wirtschafsflüchtlinge", die sachlich allerdings meist wenig fundiert sind. Rechtspopulistische Parteien finden sich mittlerweile in fast allen europäischen Ländern. Ihr Erfolg hängt stark von kontingenten Faktoren wie Persönlichkeiten oder aktuellen Themen ab, aber ihr Potential liegt mit Sicherheit bei einem Viertel bis einem Drittel der Wählerschaft.

Auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums, nämlich überwiegend links, finden sich seit den 80er Jahren zunehmend grün-alternative Parteien. Direkt oder indirekt sind sie Ergebnis der neuen sozialen Bewegungender 70er Jahre. Ihr Hauptthema dürfte bei allen Unterschieden die Umweltproblematik sein. Die erste in Europa erfolgreiche Partei waren die deutschen Grünen, die daher eine gewisse Vorbildfunktion für andere grüne Parteien hatten. Seit den 90er Jahren waren mehrere grüne Parteien als Juniorpartner in Regierungen vertreten, u.a. in Deutschland, Frankreich, Italien oder Irland

Quelle: www.ngo.bham.ac.uk

Die grünen Parteien sind allerdings in Nordeuropa (vor allem in Mitteleuropa und Skandinavien) eindeutig stärker als in Südeuropa. Die Wähler der grünen Parteien haben meist ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, wohnen in großen Städten und sind im Dienstleistungsbereich (besonders im öffentlichen Dienst) beschäftigt. Es sind mithin keine Globalisierungsverlierer, sondern Angehörige meist relativ gut geschützter Berufe, die sich weniger um die ökonomische Globalisierung an sich als vielmehr um deren ökologische Auswirkungen Sorgen machen. Ihr Erfolg hängt von verschiedenen Faktoren ab, so z.B. vom Wahlsystem oder der Aufmerksamkeit, die die etablierten Parteien der Umweltproblematik widmen. Ob sich allerdings die grünen Parteien zu großen Volksparteien wandeln können, ist doch eher fraglich.

Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass unter dem Eindruck der Eurokrise der letzten Jahre populistische Parteien von rechts und links Auftrieb bekommen haben. Das ist an sich nichts Überraschendes. In wirtschaftlichen Krisenzeiten besteht immer eine Neigung zur Wahl populistischer Parteien, die einfache Lösungen für die gegenwärtige Krise anbieten. Im europäischen Kontext ist besonders interessant, dass es hier offenbar eine Polarisierung zwischen (vorwiegend nordeuropäischen) Geberländern und (vorwiegend südeuropäischen) Nehmerländern gibt: in der ersten Gruppe haben die erwähnten rechtspopulistischen Parteien Erfolg, in der zweiten die linkspopulistischen wie "Syriza" in Griechenland, "Podemos" in Spanien oder die 5-Sterne-Bewegung in Italien. Der Aufsteig dieser Parteien bildet eine direkte Reaktion auf die Eurokrise und die von europäischen Institutionen (und dem IWF) verordneten Sparprogramme. Zu hoffen bleibt, dass das nur ein kurzzeitiger Effekt ist, der mit dem Abflauen der Krise verschwindet.

Ergebnisse der Europawahl 2014; Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung


Donnerstag, 11. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Umweltbewegung und Umweltpolitik

Umweltprobleme an sich waren nichts Neues in den 70er Jahren, aber dennoch sehen die meisten Umwelthistoriker in der Zeit um 1970 einen Einschnitt, wahlweise als "ökologische Revolution" (Frank Uekötter", "Ära der Ökologie" (Joachim Radkau) oder "1970er Diagnose" (Patrick Kupper) bezeichnet. Neu war weniger der Umweltschutz an sich, den hatte es auch schon in der Naturdenkmalpflege und der Heimatschutzbewegung um 1900 gegeben. Aber neu war doch die Massenmobilisierung und Politisierung des Themas. Neue Organisationen wurden gegründet (Friends of the Earth 1969, Greenpeace 1971, Robin Wood 1982), die andere Aktionsformen verwendeten als die klassische Lobbyarbeit. Auch die Umweltpolitik als eigenständiges Politikfeld entstand um 1970: in den USA wurde 1970 unter Präsident Nixon die Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency) gegründet, in der Bundesrepublik wurde 1969 eine Abteilung für Umweltschutz im Bundesinnenministerium eingerichtet und selbst die DDR bekam 1971 ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Andere Umweltministerien auf nationaler Ebene wurden ebenfalls in den 70er und 80er Jahren eingerichtet: in Großbritannien 1970, in Frankreich 1971, in Norwegen 1972, in Italien 1981, in den Niederlanden 1982, in der Bundesrepublik 1986, in Schweden 1987 etc.

Warum die moderne Umweltschutzbewegung um 1970 entstand, und inwiefern sie sich von ihren Vorläufern unterschied, ist in der Forschung nach wie vor Gegenstand von Diskussionen. Sicher ist, dass Umweltthemen noch in der 68er-Bewegung keine Rolle spielten und die Bewegung aus den USA kam, wo schon im Frühjahr 1970 der erste "Earth Day" mit vielen öffentlichkeitswirksamen Aktionen begangen wurde. Eine der Gründerfiguren der amerikanischen Umweltbewegung war die Biologin Rachel Carson, die 1962 ein alarmierendes Buch über die Auswirkungen des Insektizids DDT ("Der stumme Frühling") veröffentlichte, in dem sie die Anreicherung von DDT in der Nahrungskette problematisierte und vor einem großen Vogelsterben warnte. In gewisser Weise ist dies symptomatisch für die Umweltschutzbewegung: sie wird stark von Wissenschaftlern und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dominiert, sie gewinnt Aufmerksamkeit mit einem gewissen Alarmismus (der manchmal gerechtfertigt ist, aber manchmal auch nicht), und sie thematisiert im Sinne der "Ökologie" (eigentlich ein Spezialgebiet der Biologie) den Zusammenhang bzw. das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Lebewesen. Die Grundidee der Ökologie ist, dass es im Prinzip ein Gleichgewicht in der Natur gibt, das auf Störungen empfindlich reagiert. Solche Gedanken waren dem Naturschutz um 1900 noch fremd.

Die Themen des Umweltschutzes sind zu vielfältig, um hier ausführlich behandelt zu werden. Eine besonders stark polarisierende Debatte betraf die Atomenergie (Atomkraft, Kernkraft). Die Anti-AKW-Bewegung lässt sich nicht sinnvoll von der Umweltbewegung trennen. Die Atomenergie galt in den 50er und 60er Jahren als die Energieform der Zukunft. Der Bau der Atomkraftwerke für die zivile Nutzung setzte jedoch erst in den 70er Jahren ein und traf auf den Widerstand der entstehenden Anti-AKW-Bewegung, wie 1975 im badischen Wyhl. Auch in Frankreich und Spanien fanden 1977 große Anti-AKW-Demonstrationen statt. Die Bedenken richteten sich meist gegen die Gefahr von Unfällen, bisweilen auch auf die Strahlung im Normalbetrieb und das Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Durch die Unfälle von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 wurden die Befürchtungen der Gegner bestätigt, dass ein Unfall mit Kernschmelze und massiver Freisetzung von Radioaktivität möglich ist. Mehrere Staaten beschlossen den Ausstieg  aus der Atomenergie oder den Nichteinstieg in dieselbe: 1978 Österreich, 1985 Dänemark, 1987 Italien, 2000 Deutschland, 2003 Belgien, 2011 die Schweiz. Andere Staaten, darunter Großbritannien, Frankreich, die USA, die Türkei oder Japan, halten an der Atomenergie fest oder wollen deren Anteil an der Stromerzeugung noch ausbauen.

Quelle: Eurostat
 Die Umweltbewegung war zwar von Beginn an international, jedoch konnten lokal oder regional auch besondere Themen in den Vordergrund treten. Besonders deutlich wurde dies zu Beginn der 80er Jahre mit dem so genannten "Waldsterben", das nur im deutschsprachigen Raum ein Thema war und mittlerweile als Lehnwort Eingang in die französische und englische Sprache gefunden hat. Der Hintergrund war, dass um 1980 tatsächlich neuartige Waldschäden in deutschen Wäldern auftraten, für die man bis dahin keine ausreichende Erklärung hatte (und deren Ursache noch immer umstritten ist). Der Forstwissenschaftler Bernhard Ulrich und andere Wissenschaftler führten diese Schäden auf den "sauren Regen" und damit indirekt auf die Luftverschmutzung mit Schwefeldioxid zurück. Sie prognostizierten ein großflächiges Absterben der Wälder, sollte die Luft nicht besser werden. Popularisiert wurde diese These vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im November 1981. Die Prognose erfüllte sich nicht, der Zustand des Waldes blieb seit Mitte der 80er Jahre ungefähr stabil. Umstritten ist, ob dies auf die Maßnahmen zur Luftreinhaltung (v.a. Einbau von Entschwefelungsanlagen) zurückzuführen ist, oder ob die Prognose von Beginn an überzogen war. Vieles spricht für letzteres, denn ein großflächiges Waldsterben ist in Europa auch anderswo nicht vorgekommen.


Solche falschen Alarme lassen sich nicht immer vermeiden, erweisen aber der Sache des Umweltschutzes letztlich einen Bärendienst: Sie führen dazu, dass selbst ernstzunehmende Warnungen aus der Wissenschaft nicht geglaubt werden. In Umfragen (2010) glaubten 31 % der Deutschen und 25 % der Briten nicht an eine Erwärmung der Erde, wie sie von den Klimaforschern prognostiziert wird (Spiegel, BBC). Dabei ist der Klimawandel wissenschaftlich mittlerweile wesentlich besser erforscht als es das Waldsterben 1981 war. Aber das ist genau das Problem bei vielen heutigen Umweltproblemen: dass sie sich der alltäglichen Wahrnehmung entziehen und nur mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen zu erkennen sind.

Der Klimawandel ist bisher noch kein allzu großes Problem, könnte es aber in der Zukunft werden. Die globale Durchschnittstemperatur ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts um ca. 0,8 °C gestiegen. Der weitere Anstieg hängt nach den Berechnungen des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) von der zukünftigen Emission von Treibhausgasen (hauptsächlich CO2) ab. Das von Politikern angegebene Ziel der Begrenzung des Anstiegs auf 2 °C setzt eine bedeutende Reduktion der globalen CO2-Emissionen voraus.

Quelle: IPCC
Die Folgen des Klimawandels für Europa wären voraussichtlich: ein weiteres Abschmelzen der Gletscher mit einer erhöhten Bergrutschgefahr; eine Zunahme von Hitzewellen und ein Rückgang von Kältewellen; ein Anstieg des Meeresspiegels; und eine Zunahme von Starkregen und Hochwasser in den Flüssen.

Trotz aller nach wie vor existierender Probleme sollte aber nicht übersehen werden, dass der Zustand der Umwelt in Europa sich insgesamt seit 1970 deutlich verbessert hat, teilweise durch neue Gesetze und Verordnungen, teilweise durch das allgemein gestiegene Umweltbewusstsein, teilweise auch durch die Deindustrialisierung. So nahm die SO2-Belastung der Luft im Ruhrgebiet seit Mitte der 80er Jahre deutlich ab (siehe Diagramm).

Quelle: Landesumweltamt Nordrhein-Westfalen

Auch die Wasserqualität des Rheins hat sich deutlich verbessert. In den 60er und 70er Jahren war der Sauerstoffgehalt des Flusses so niedrig, dass viele Tierarten darin nicht mehr leben konnten. Eine Erholung zeichnete sich auch hier seit den 80er Jahren ab. Mittlerweile sollen sogar wieder Lachse gesichtet worden sein. Das zeigt, dass internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes funktionieren kann.

Quelle: Internationale Kommission zum Schutz des Rheins
Auch in Zukunft werden sich die wichtigen Umweltprobleme wie der Klimawandel nur durch internationale Zusammenarbeit lösen lassen, da sie nicht mehr nur lokaler Natur sind. In früheren Zeiten reichte es oft schon, die Schornsteine höher zu bauen, um die Abluft und die darin enthaltenen Schadstoffe besser zu verteilen. Heute geht es darum, nachhaltiges Wachstum zu erreichen, also Wachstum, das langfristig nicht seine eigenen Grundlagen zerstört, und das auf globaler Ebene.

Freitag, 5. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Bildung und Wissensgesellschaft

"Wissensgesellschaft" ist seit einiger Zeit eines der beliebtesten Schlagwörter der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion. Es trat an die Stelle des enger gefassten Begriffs der "Informationsgesellschaft", der sich lediglich auf den Aufstieg der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und dessen gesellschaftliche Folgen bezog. Demgegenüber ist der Begriff der "Wissensgesellschaft" breiter angelegt. Manche Soziologen wie Nico Stehr sehen in der "Wissensgesellschaft" analog zur "Dienstleistungsgesellschaft" oder zur "post-industriellen Gesellschaft" (Daniel Bell) eine Gesellschaftsformation, die an die Stelle der älteren Industriegesellschaft tritt. Nach Stehr ist die Wissensgesellschaft durch vier Merkmale gekennzeichnet: erstens wird Wissen zur wichtigsten ökonomischen Ressource (wichtiger als die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden); zweitens findet darüber hinaus eine Verwissenschaftlichung aller Bereiche der Gesellschaft statt: wissenschaftliches Wissen wird "Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns in allen Bereichen"; drittens schlägt sich das in der Zunahme wissensintensiver Dienstleistungen nieder; viertens schließlich verändert sich auch die Form der Wissensproduktion: wissenschaftliches Wissen wird nicht mehr nur an Universitäten und anderen Forschungsinstituten betrieben, sondern die Grenzen zur Gesellschaft wie zwischen den Disziplinen werden durchlässiger: wissenschaftliches Wissen wird plural, interdisziplinär und offen.

Soweit die Theorie. Wie sehen die empirischen Befunde aus? Was zunächst den Theoretikern der Wissensgesellschaft recht zu geben scheint, ist die Bildungsexpansion, und insbesondere die wachsende Bildungsbeteiligung im tertiären Sektor (Hochschulen). Hierbei handelt es sich um einen säkularen Prozess, dessen Anfang schwer zu bestimmen ist. 1910 und auch noch 1950 lag der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen im einstelligen Prozentbereich. Seit den 50er Jahren stieg er in allen Ländern Westeuropas an, in einige Ländern schneller, in anderen langsamer. Der Ansteig war auch nicht auf die 60er und 70er Jahre beschränkt, sondern ging danach weiter, zum Teil bis heute. Bereits 1995 war der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen in Europa auf 42 % gewachsen.

Anteil der Studierenden an den 20-24jährigen; Quelle: Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007

Quelle: Eurydice, Der Europäische Hochschulraum im Jahr 2012
Gegenüber dieser allgemeinen Tendenz zur Expansion treten die länderspezifischen Unterschiede tendenziell zurück. 2009 war der Hochschulbesuch, wie das Diagramm verdeutlicht, in Deutschland unterdurchschnittlich. Zu beachten ist dabei jedoch, dass hier der Zugang zu vielen Berufen über die duale Ausbildung erfolgt, wofür in manchen anderen Ländern ein Hochschulstudium vorausgesetzt wird (z.B. Hebammen, Krankenpfleger). Insofern senkt das an sich empfehlenswerte, weil praxisorientierte, duale System die Zahlen der tertiären Bildungsbeteiligung. Dennoch war die Bildungsbeteiligung in Deutschland nicht geringer als in Italien oder Großbritannien und nur etwas geringer als in Frankreich. In allen Ländern profitierten übrigens die Frauen mehr als die Männer, da gleichzeitig mit der Hochschulexpansion der Anteil der weiblichen Studierenden wuchs. In den 90er Jahren war die numerische Gleichheit mit den Männern erreicht. Allerdings studieren Frauen bis heute häufig andere, meist weniger lukrative Fächer als Männer.

Frauenanteil der Studierenden in %, 1950-95


Die Hochschulexpansion ist an und für sich zunächst positiv zu bewerten, denn höhere Bildung für viele (wenn nicht alle) heißt zumindest tendenziell, dass traditionelle Gegensätze zwischen einer kleinen Elite mit höherer Bildung und der Masse der Bevölkerung mit bloßer Elementarschulbildung verschwinden oder zumindest verringert werden. Der Anteil der Bevölkerung, der nur über Elementarschulbildung verfügt, ist deutlich zurückgegangen und liegt in den meisten europäischen Ländern unter 10 %. Ausnahmen bilden hier nur die südeuropäischen Länder Spanien (17 % 2012), Griechenland (21 %) und vor allem Portugal (42 %). Auch sollte höhere Bildung die Menschen dazu befähigen, ihre demokratischen Rechte besser und bewusster wahrzunehmen.

Dennoch schuf diese historisch beispiellose Expansion auch Probleme. Nicht zuletzt waren das Finanzierungsprobleme. Hochschulen kosten eine Menge Geld, und in den meisten europäischen Staaten werden diese Kosten ganz überwiegend vom Staat getragen. Der Übergang zu einer primär auf Studiengebühren beruhenden Finanzierung ist in den letzten Jahren in Großbritannien vollzogen worden, mit dem Ergebnis, dass das Studium dort für die Studierenden am teuersten ist. Im Zuge der Finanz- und Eurokrise sahen sich mehrere Staaten zu Kürzungen im Hochschulbereich gezwungen, z.B. Griechenland, Italien, Irland, Großbritannien oder Island. Generell sind die europäischen Universitäten im Vergleich zu den USA unterfinanziert: Dort wird pro Student mehr als das Doppelte ausgegeben, an den prestigeträchtigen Elite-Universitäten sogar noch deutlich mehr. Deutschland liegt in Europa im Mittelfeld, während die Ausgaben in Italien und Portugal noch einmal deutlich niedriger sind. In Deutschland sind die Grundmittel für die Hochschulen inflationsbereinigt seit 1995 in etwa gleich geblieben, während sich die Zahl der Studierenden um ca. 20 % erhöht hat.

Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012
Neben den Finanzierungsproblemen gibt es auch Stimmen, die vor einer Über-Akademisierung warnen. Die empirischen Befunde hierzu sind zwiespältig. Einerseits sind Hochschulabsolventen immer noch weitaus weniger von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt. Sie verdienen im Schnitt auch deutlich mehr. Individuell lohnt sich ein Studium also zumeist noch. Wenn man allerdings die so genannte "Bildungsrendite" (also den wirtschaftlichen Nutzen der Bildung) nach Fächergruppen aufschlüsselt, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Geistes- und sozialwissenschaftliche Absolventen verdienen nicht nur weniger als diejenigen anderer Fächer wie Medizin, Natur- oder Technikwissenschaften. In einigen Ländern wie Deutschland, Italien oder Frankreich ist die Bildungsrendite hier entweder Null oder sogar negativ, während sich in den USA oder Großbritannien auch Geisteswissenschaften durchaus noch lohnen.

Quelle: OECD


Sind solche Berechnungen schon mit Problemen behaftet, so ist es noch schwieriger, zuverlässige Aussagen über den Zusammenhang zwischen Hochschulexpansion und wirtschaftlicher Entwicklung zu machen. Zwar gibt es hier einen Zusammenhang in dem Sinne, dass in wohlhabenderen Ländern tendenziell auch mehr Menschen studieren, aber das heisst noch nicht, dass die bessere Ausbildung wirtschaftliches Wachstum erzeugt. Eher ist es wohl andersherum, dass es sich immer mehr Menschen schlicht leisten können, ein Studium aufzunehmen. Dass die Hochschulabsolventen dennoch höhere Einkommen erzielen, kann somit auch mit Verdrängungseffekten zusammenhängen, d.h. Arbeitgeber stellen lieber Hochschulabsolventen ein, auch wenn das für die ausgeschriebene Stelle nicht unbedingt notwendig wäre. Letztlich gibt es aber kein objektives Maß für den "richtigen" Akademikeranteil einer Gesellschaft.

Die Hochschulexpansion traf auf national ganz unterschiedliche Hochschulsysteme. In Frankreich existiert ein zentralistisches System, das an der Spitze von den "grandes ecoles" (Elitehochschulen) dominiert wurde. In England übernahmen die Universitäten Oxford und Cambridge lange Zeit diese Rolle, während in Deutschland und in Italien die Universitäten im Prinzip als gleich gut galten. Das Ideal war lange Zeit die Volluniversität, die weder inhaltliche Schwerpunkte setzte noch sich wesentlich in der Qualität der Ausbildung oder der Forschung von anderen Universitäten unterschied (in der Praxis war das natürlich immer schon anders). Seit 1999 veränderte der von den europäischen Ministern beschlossene Bologna-Prozess die europäische Hochschullandschaft und machte sie tendenziell einheitlicher. Der europäische Hochschulraum weist sogar über die EU hinaus und umfasst auch Länder wie Russland oder die Türkei. In allen Ländern wurde begonnen, das Studium in drei Stufen einzuteilen: eine meist dreijährige Grundstufe (Bachelor), ein zweijähriges Aufbaustudium (Master) und eine ebenfalls strukturierte Doktorandenausbildung (Ph.D. oder Promotion). Die Umsetzung ist mittlerweile schon recht weit gediehen, in den meisten Ländern studieren bereits über 90 % der Studenten nach dem neuen System. Nachzügler in Westeuropa sind Spanien und in geringerem Maße auch Deutschland. Widerstand gibt es in Deutschland vor allem bei ingenieurwissenschaftlichen Fächern, Medizin oder Staatsexamen, die aufgrund der angestrebten Studienzeitverkürzung eine Qualitätsverschlechterung befürchten. Insgesamt gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz der neuen Abschlüsse, was sich darin äußert, dass in einigen Ländern viele Studenten nach dem ersten Abschluss binnen kurzer Zeit ein weiterführendes Studium aufnehmen (z.B. Deutschland, Frankreich, Italien, Irland, Dänemark). In diesen Ländern ist das angestrebte Ziel der Studienzeitverkürzung somit nicht oder nur eingeschränkt erreicht worden. In anderen Ländern (vor allem Großbritannien, aber auch die Niederlande und Norwegen) scheint der Bachelor-Abschluss dagegen akzeptiert zu sein.

Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012
Trotz der ambivalenten wirtschaftlichen Effekte der Hochschulexpansion hat die Theorie der "Wissensgesellschaft" einen wahren ökonomischen Kern. Es gibt nämlich in den USA mit dem "Silicon Valley" in Kalifornien ein Modellbeispiel für das Zusammenspiel von Forschungseinrichtungen (Stanford University), wirtschaftlichen Unternehmen und Staat. In dieser Region wurden einige der heute größten Firmen der Welt, vor allem in der Informationstechnologie, gegründet, z.B. Apple und Google, aber auch Cisco, HP, Yahoo und viele andere mehr. Der enorme wirtschaftliche Erfolg dieser Region hat weltweit und so auch in Europa Nachahmer auf den Plan gerufen. Politiker versuchten, durch geeignete Fördermaßnahmen ihr eigenes "Silicon Valley" zu initiieren. Als entscheidend wird die Konzentration von (naturwissenschaftlich-technischen) Forschungseinrichtungen in Kombination mit der Förderung kleiner, wissensbasierter Unternehmen ("start-ups") gesehen. So entstand in Europa eine Häufung von Hochtechnologie-Regionen, allein in Deutschland sollen es über 500 sein. Einigermaßen erfolgreich sind in Deutschland der Großraum München ("Isar Valley"), Dresden ("Silicon Saxony") oder das IT-Cluster Rhein-Main-Neckar (u.a. SAP), in Europa beispielsweise Cambridge oder Paris. Aber auch Städte wie Berlin, Dublin, Enschede oder Tallinn erheben den Anspruch, das "Silicon Valley Europas" zu sein. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten, aber bisher ist es trotz aller Erfolge nicht gelungen, eine mit dem Original vergleichbare Dynamik zu entfachen.