Donnerstag, 23. April 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Wirtschaftliche Entwicklung



Die Vorlesung thematisierte die wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas nach dem Boom der 50er und 60er Jahre. Sie war insgesamt beachtlich, jedenfalls bis zur Finanz- und Bankenkrise von 2007/08. Das folgende Diagramm zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf im Vergleich zu anderen Weltregionen (Daten: OECD / Angus Maddison).


Sie zeigt, dass sich das BIP pro Kopf (in konstanten Preisen) mehr als verdoppelte. Westeuropa ist wirtschaftlich nach wie vor die zweitstärkste Region der Welt. Eine bessere Entwicklung nahm relativ gesehen Ostasien in den letzten 40 Jahren, aber doch von einem sehr niedrigen Niveau aus. In anderen Regionen wie Lateinamerika, Osteuropa oder Westasien war das Wachstum schwächer, in den USA war es ungefähr gleich. Der Abstand zu den USA konnte allerdings in dieser Zeit auch nicht verringert werden. Das westeuropäische Niveau beträgt konstant ca. 2/3 des US-amerikanischen. Ein Grund dafür liegt in den kürzeren Arbeitszeiten in Europa.

Innerhalb von Europa gab es, wie das folgende Diagramm verdeutlicht, deutliche Tendenzen zur Konvergenz. Die Wirtschaft von Ländern mit einem geringeren BIP wie Spanien, Griechenland oder Irland wuchs stärker. Irland überholte sogar einige Länder, darunter auch Deutschland. Allerdings bleibt abzuwarten, wie viel dieser Entwicklung durch die derzeitige Eurokrise wieder rückgängig gemacht wird.




In langfristiger Perspektive stehen die westeuropäischen Wachstumsraten gut da. Sie erreichen zwar nicht die Höhe der Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre. Diese Zeit war jedoch auch außergewöhnlich. Das Wachstum selbst in den als krisenhaft empfundenen 70er Jahren war stärker als beispielsweise vor dem Ersten Weltkrieg. Erst im Jahrzehnt 2001-10 ging es spürbar zurück, verursacht vor allem durch die Finanz- und Bankenkrise und die darauf folgende Eurokrise.

Diagramm: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten des BIP in Westeuropa seit 1890

Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Ursachen des Wachstums. Dass die Wachstumsraten gegenüber denen der 50er und 60er Jahre zurückblieben, lag am Auslaufen der Sonderbedingungen der Nachkriegszeit, wie der Rekonstruktion nach dem Krieg oder dem Aufholen gegenüber den USA. Dass es dennoch ein bedeutendes Wachstum gab, lag an mehreren Faktoren. Zum einen wirkte die zunehmende internationale Liberalisierung des Handels wachstumsfördernd, wie das folgende Diagramm veranschaulicht. Es zeigt die realen Wachstumsraten und die geschätzten Wachstumsraten für den Fall, dass es die Zollsenkungen durch GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) und europäische Integration nicht gegeben hätte. Man sieht, dass der wachstumsfördernde Effekt von GATT sogar noch stärker war als derjenige der europäischen Integration. In jedem Fall trug die Liberalisierung des Handels bedeutend zum Wachstum bei, allerdings erst ab Ende der 60er Jahre.

(Quelle: Badinger)

 Das folgende Diagramm verdeutlicht die Abnahme der Außenzölle der EU-Mitgliedsstaaten. Zu beachten ist das sehr unterschiedliche Ausgangniveau 1950, das zwischen 5 und 25 % schwankte. Spürbare Zollsenkungen brachten die "Kennedy-Runde" (1964-67), die "Tokio-Runde" (1973-79) und die "Uruguay-Runde" (1986-93).

(Quelle: Badinger) 

 Die Europäische Wirtschaftsunion war bereits 1958 mit dem schrittweise verwirklichten Ziel einer Zollunion gebildet worden. Ein weiterer Integrationsschritt war die Bildung des Europäischen Binnenmarktes 1992 mit seinen vier Freiheiten: der Waren, der Dienstleistungen, des Kapitals und der Mobilität der Arbeitskräfte. Ziel war die Beseitigung noch bestehender nicht-tarifärer Handelshemmnisse innerhalb der Europäischen Union.

Eine andere Quelle des Wachstums war natürlich die technische Entwicklung, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Ein wichtiger Faktor war die Mikroelektronik, die mit der Erfindung des Mikroprozessors (oder Mikrochips) 1971 einen wichtigen Fortschritt machte. Die "digitale Revolution" fand Anwendung nicht nur in der elektronischen Datenverarbeitung in der Verwaltung, sondern seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmend auch in Maschinensteuerungen und flexiblen Fertigungssystemen. Dass allerdings Sozialwissenschaftler noch bis in die Mitte der 90er Jahre behaupteten, man würde Computer überall sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken ("Produktivitätsparadox"), sagt wohl mehr über diese Statistiken aus als über die Computer. In Wahrheit dürfte schon in den 70er Jahren ein positiver Einfluss vorhanden gewesen sein, wenn er auch schwer zu quantifizieren sein mag.

Zum Wachstum beigetragen haben dürfte auch der Strukturwandel. Bereits in den 50er und 60er Jahren begann der Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zu sinken, während die Industrie in dieser Zeit ihren Platz im Wesentlichen behaupten konnte bzw. nur leicht an Bedeutung verlor (siehe Diagramm). Seit ca. 1970 setzt ein Trend zur Deindustrialisierung ein. Der Grund liegt in der fortschreitenden Globalisierung, die zur Verlagerung eines Teils der Industrie in außer-europäische Länder (vor allem in Ostasien, aber auch in Lateinamerika) führt. Zum Wachstum trägt dieser Prozess bei, weil sich die europäischen Länder (wie auch die USA) zunehmend auf hochproduktive Bereiche wie Forschung, Entwicklung und Design konzentrieren. Verlierer dieses Prozesses sind natürlich diejenigen Industriearbeiter, die nicht oder nicht sofort eine neue Stelle finden und entweder kurzzeitig oder längerfristig arbeitslos werden.

(Quelle: OECD)

 Ob die Änderung der Wirtschaftspolitik Einfluss auf das Wachstum hatte, ist dagegen durchaus umstritten. Jedenfalls ist es aber wichtig zu wissen, dass seit dem Ende der 70er Jahre zunehmend der bis dahin gültige keynesianische Konsens zerbrach und neue, unter verschiedenen Namen bekannte Strömungen (Monetarismus, Neoliberalismus, Thatcherismus, Reaganomics) an Einfluss gewannen. Ihnen allen war gemein, dass sie eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgten, die vor allem die Investitionsbedingungen für Unternehmen verbessern wollte und zu diesem Zweck die Rolle des Staates limitieren oder zurückdrängen wollte. Die Ideen gehen auf Wirtschaftswissenschaftler wie Friedrich Hayek (1899-1992) oder Milton Friedman (1912-2006) zurück und waren nicht neu, aber sie setzten sich erst vor dem Hintergrund der als krisenhaft empfundenen 70er Jahre durch, als die Inflation zusammen mit verlangsamtem Wachstum Probleme bereitete. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik führte zu weit reichenden Deregulierungen der Wirtschaft und Privatisierungen von Staatsbetrieben in Bereichen wie Telekommunikation, Luftverkehr, Eisenbahn, Post etc. Nach langem Zögern haben auch europäische Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder oder Tony Blair die wesentlichen Elemente dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik übernommen (Schröder-Blair-Papier 1999).

Die Deregulierung der Finanzmärkte begünstigte allerdings auch die Entstehung von Spekulationblasen und Wirtschaftskrisen. Bereits ab Mitte der 90er Jahre kam es zu einem Boom in der so genannten "New Economy", der vor allem Unternehmen aus der IT-Branche, aber auch aus anderen High-Tech-Feldern wie der Biotechnologie, angehörten. Diese oft noch jungen Unternehmen erzielten häufig noch keine Gewinne, wurden aber im Vorgriff auf später erhoffte Gewinne zum Teil hoch an der Börse gehandelt. Im März 2000 platzte die Blase, und viele Anleger verloren ihr Geld.

 Diagramm: Die Entwicklung des NASDAQ-Aktienindex 1994-2005

Eine gesamtwirtschaftliche Rezession resultierte daraus jedoch zunächst nicht. Allerdings hielten die Zentralbanken aus Furcht vor einer Rezession die Zinsen niedrig, was die Entstehung einer neuen Spekulationblase begünstigte, da bei niedrigen Zinsen die Anleger nach anderen als den konventionellen Anlageformen (Sparbücher, Festgeld etc.) suchen. Die nächste Blase entstand auf dem US-Immobilienmarkt. Sie platzte 2007 und löste damit die Finanz- und Bankenkrise aus, da viele Schuldner ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Viele dieser Schuldentitel waren in schlecht beaufsichtigte Schattenbanken ausgelagert. Der Höhepunkt der Bankenkrise war die Insolvenz der US-amerikanischen Bank Lehman Brothers am 15. September 2008. Im Gegensatz zur Dotcom-Blase (oder Internet-Blase) führte die Finanz- und Bankenkrise zu einer handfesten Rezession in den USA, aber auch in Europa.

In Europa kam allerdings noch ein weiteres krisenverschärfendes Moment hinzu. Viele Staaten waren ohnehin überschuldet. Die Finanz- und Bankenkrise und die dadurch ausgelöste Rezession verschärfte nun die staatliche Verschuldung, so dass mehrere Staaten (Zypern, Griechenland, Irland, Spanien, Portugal, Italien) an den Rand der Zahlungsfähigkeit gerieten. Ein besonderes Problem in Europa waren die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die seit der Einführung der gemeinsamen Währung 1998 entstanden waren. Wie das folgende Diagramm zeigt, entwickelten sich die Leistungsbilanzsalden in den Ländern der Eurozone sehr unterschiedlich. Schuld daran war nicht zuletzt Deutschland mit seinen hohen Exportüberschüssen. Durch die gemeinsame Währung können solche unterschiedlichen Entwicklungen nicht durch Wechselkursschwankungen und unterschiedliche Inflationsraten ausgeglichen werden. Nötig ist also letztlich eine stärkere wirtschaftspolitische Integration Europas  - oder ein Ende der Währungsunion.


Literatur:

Eichengreen, Barry J.: The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and beyond, Princeton 2007
Broadberry, Stephen / O´Rourke, Kevin (Hg.): THe Cambridge Economic History of Modern Europe. vol. 2: from 1870 to the presetn, Cambridge 2012
Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2. Aufl. 2011
Reinhart, Carmen / Rogoff, Kenneth: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, München 6. Aufl. 2013
Badinger, Harald: Wachstumseffekte der europäischen Integration, Wien 2003






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