Donnerstag, 30. April 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Konsum, Lebensstile, Soziale Schichtung

Die 50er und 60er Jahre in Westeuropa waren geprägt vom Übergang zum Massenkonsum. Langlebige Konsumgüter wie Autos, Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen verbreiteten sich und veränderten die Lebenswelt der Menschen nachhaltig: das Auto veränderte die Mobilität, die Haushaltstechnisierung veränderte die Hausarbeit und das Fernsehen veränderte das Freizeitverhalten. In der Zeit nach 1970 setzte sich der Massenkonsum fort, die Auswirkungen waren aber nicht mehr so gravierend, vielleicht mit Ausnahme von Internet und Mobiltelefonen, die für eine wesentlich schnellere Informationsübertragung sorgten.

Die Verbreitung des Automobils ging weiter, auch in Ländern, in denen schon um 1970 annähernd eine Vollversorgung erreicht war. Der Trend ging also in den reicheren Ländern zum Zweitauto. Gleichzeitig wurde das Auto bereits in den 70ern zunehmend zum Lifestyle-Produkt, wie der Aufstieg von sportwagenähnlichen Serienfahrzeugen wie Opel Manta (seit 1970) oder Golf GTI (seit 1976) zeigt. In den ärmeren Ländern kam es zu einer nachholenden Entwicklung, die Verbreitung des Autos erfolgte rascher als in den reicheren Ländern. Hier wie auch in anderen Bereichen des Konsums kam es also zu gewissen Konvergenztendenzen (siehe Diagramm).

 Quelle: Eurostat


Nationale Unterschiede halten sich allerdings bei den Automarken. In Deutschland ist seit über 30 Jahren der VW Golf am beliebtesten, in Frankreich die einheimischen Hersteller Renault, Peugeot und Citroen, in Italien natürlich Fiat, in Großbritannien Ford. Die Globalisierung der Automobilindustrie wirkt eher im Verborgenen, denn die "deutschen" Autos (z.B. von VW) werden nicht mehr ausschließlich in Deutschland produziert. Zwischen 2000 und 2012 fiel der Anteil der in Deutschland produzierten VW von 39 % auf 25 %, während der Anteil der in China produzierten VW von 6 % auf 21 % stieg (Internationalisierung der Automobilindustrie). Gleichzeitig findet auch im Bereich der Produktentwicklung eine Internationalisierung statt. Während bis Ende der 60er Jahre Autos zwar exportiert wurden, erfolgte doch die Entwicklung neuer Autos in einem Land und meist mit Blick auf den inländischen Markt. Das erste europäische Auto, in gewisser Weise sogar Weltauto, war der in Großbritannien und Deutschland gemeinsam entwickelte Ford Escort, der in Großbritannien Deutschland, Australien, Neuseeland und (später und in veränderter Form) den USA produziert wurde, und in den 70er und 80er Jahren zu einem der erfolgreichsten Modelle in Europa avancierte.

Auch die Haushaltstechnisierung setzte sich fort. Staubsauger, elektrische Bügeleisen und Radios hatten sich bereits in der Zwischenkriegszeit verbreitet, nach dem Krieg folgten vor allem Kühlschränke,  Waschmaschinen und Telefone. Seit den 70er und 80er Jahren verbreiten sich dann, wenn auch recht langsam,  Geschirrspüler und Mikrowellenherde. Diese gehören allerdings immer noch nicht zur Standardausstattung. PCs kommen insbesondere in den 90er Jahren hinzu, während Mobiltelefone erst seit Ende der 90er massenhaft Verbreitung finden. Zwischen den einzelnen Ländern existieren durchaus Unterschiede. Während in den 90er Jahren in den meisten Ländern Westeuropas bereits eine (annähernde) Vollversorgung mit Kühlschränken und Waschmaschinen erreicht war, gilt dies nicht für Geschirrspüler und Mikrowellenherde. Auffällig ist vor allem, dass sich letztere in Südeuropa weitaus weniger verbreiteten, wo nach wie vor Convenience Food nicht so weit verbreitet ist wie in Nordeuropa. Geschirrspüler dagegen verbreiteten sich vor allem in Österreich, Deutschland und Frankreich.

Quelle: Eurostat

Mit der zunehmenden Haushaltstechnisierung und der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen ging auch die Hausarbeit zurück, die traditionell überwiegend von Frauen geleistet wurde. Allerdings ließ dieser Effekt einige Zeit auf sich warten und zeigte sich erst in den 80er Jahren. Dennoch ist die Verteilung der Hausarbeit noch immer ungleich, wie das folgende Diagramm zeigt. Besonders groß sind die Unterschiede in Italien, weniger ungleich in Schweden und Norwegen.

Quelle: Eurostat

Hinsichtlich des Meidenkonsums bleibt es trotz der zunehmenden Internetnutzung dabei, dass das Fernsehen das am meisten genutzte Medium ist. Da auch hier in den meisten Ländern eine Vollausstattung gegeben ist, empfiehlt es sich, nicht die Ausstattungszahlen zu vergleichen, sondern die Nutzungsdauer. Sie ist ebenfalls durchaus unterschiedlich, mit längeren Sehzeiten in Südeuropa und Großbritannien, kürzeren in den skandinavischen Ländern, Österreich und den Niederlanden.

Quelle: Eurostat
Für die Geschichte des Fernsehens ist die Verbreitung von Farbfernsehern seit den 70er Jahren wichtig, noch mehr aber die Einführung des Privatfernsehens in den meisten Ländern in den 80er Jahren (1984 in der Bundesrepublik). In Großbritannien gab es bereits seit 1955 einen privaten Fernsehsender (ITV), aber auch dort wurde das Privatfernsehen in den 80ern ausgeweitet (Channel 4). Die gestiegene Zahl der Programme führte zum Aufkommen von Videorecordern und einer Ausdifferenzierung der Programme. Gleichzeitig stieg die Internationalisierung des Fernsehens. Schon in den 60ern waren zwar wichtige Ereignisse wie die erste Mondlandung in alle Welt übertragen worden, doch die meisten Programme blieben national. In den 80ern verbreiteten sich amerikanische TV-Serien wie "Dallas" über weite Teile der Welt. Aber nicht nur amerikanische Produktionen finden globalen Absatz, wie das Beispiel der ursprünglich britischen Show "Wer wird Millionär?" zeigt, die heute in vielen Ländern in national leicht verschiedenen Ausgaben gezeigt wird.


Karte: Länder mit einer eigenen Ausgabe von "Wer wird Millionär?" (lila); Quelle: wikimedia

Auch im Bereich der Ernährung kam es zu Globalisierungstendenzen. In erster Linie denkt man dabei natürlich an die populären amerikanischen Fast Food-Unternehmen wie McDonald´s, Burger King und andere. McDonald´s hat das Fast Food nicht erfunden, sondern griff auf die Erfahrungen anderer Unternehmen wie "White Castle" zurück. Schnelles Essen, das auf der Straße verkauft wurde, gab es schon sehr lange. Neu war die zunächst amerikaweite, dann auch internationale Standardisierung. Der Kostenvorteil besteht einerseits in Skaleneffekten (economies of scale), zum anderen aber im Vergleich zur traditionellen Gastronomie darin, dass der Kunde Teile des Service selbst übernimmt. Dadurch lassen sich teure Personalkosten einsparen. McDonald´s wurde 1940 gegründet, expandierte aber erst in den 50er und vor allem in den 60er Jahren. 1967 wurde die erste Auslandsfiliale eröffnet (in Kanada), 1971 die ersten europäischen Filialen (nahe Amsterdam und in München). In den 70er, 80er und 90er Jahren wuchs das Unternehmen stark, trotz zunehmender Konkurrenz von anderen Fast Food-Ketten. Ende der 90er Jahre geriet McDonald´s zunehmend in das Visier der Globalisierungskritiker. Imageprobleme und wirtschaftliche Schwierigkeiten (2002 schrieb das Unternehmen zum ersten Mal Verlust) führten dazu, dass McDonald´s seit ca. 2003 versucht, sich ein besseres Image zu geben (u.a. mit gesünderem Essen) und Wachstum weniger durch Expansion als durch mehr Umsatz pro Filiale zu erzielen.  Mittlerweile gibt es über 36.000 Filialen in 119 Ländern, aber die Gästezahlen sind rückläufig.

Das spektakuläre Wachstum der globalen Ketten (u.a. auch Starbucks, Dunkin Donuts, Subway etc.) ist nicht die einzige Form der Globalisierung. Das Interesse an ausländischer Küche nahm in den meisten Ländern zu, was sich im Wachstum von ausländischen Restaurants wie an der verstärkten Publikation von exotischen Kochrezepten in Frauenzeitschriften zeigte (siehe Diagramm).

Quelle: Régnier 2003

Welche ausländische Küche stark vertreten war, unterschied sich jedoch von Land zu Land (in Großbritannien eher indische Küche, in Frankreich arabische, in Deutschland italienische, griechische, jugoslawische etc.) und hing zum Teil mit den Migrationsströmen nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Manche ausländischen Küchen verbreiten sich aber unabhängig davon mehr oder weniger weltweit und stillen das Bedürfnis nach Abwechslung, z.B. irische Pubs, chinesische Restaurants oder spanische Tapas Bars.

Nationale und regionale Unterschiede blieben bisher zumindest bestehen.  Angleichungstendenzen innerhalb Europas gab es beim Verzehr von Fleisch, der insgesamt stark zunahm, aber in den Ländern mit einem niedrigeren Ausgangsniveau deutlich stärker. Aber noch Mitte der 90er Jahre verzehrten die Italiener und Griechen doppelt so viel Getreide pro Kopf wie die Niederländer, die Briten dreimal so viele Kartoffeln wie die Italiener, und die Griechen fünfmal so viel Gemüse wie die Schweden. Hier lässt sich (mit Ausnahme des Fleischkonsums) ein älteres Nord-Süd-Gefälle erkennen, da in Südeuropa traditionell mehr Gemüse, weniger Kartoffeln und mehr Getreideprodukte konsumiert werden. Auch zeigt sich der Trend zum Convenience Food in Nordeuropa stärker als in Südeuropa.


Fleisch 1970 Fleisch 1996 Getreide 1970 Getreide 1996 Kartoffeln 1970 Kartoffeln 1996 Gemüse 1970 Gemüse 1996
BRD 73,2 86,5 68 98,3 112 80,6 64,4 77,4
Frankreich 84,5 98,8 80,9 111,2 98 67,3 126,5 122,4
Italien 47,8 86 126,5 157,8 44,3 37,6 157,7 177,2
Niederlande 51,3 92,8 65,9 77,7 89,8 86,5 72 87,4
Griechenland 40,5 76,8 114,3 150,4 58,9 65,2 139,4 284
Großbritannien 71 72,2 72,5 91,7 102 110 60,1 83,4
Schweden 51,3 66,4 58,3 97,5 91,7 56,4 34,6 56,4
Dänemark 60,4 102,2 70,5 102 94 67,3 41 67,3
Österreich 68,5 105,2 90,1 102,3 73,4 61,7 69,9 61,7
Portugal 28,1 78,6 124,9 125,8 98,8 128,5 197 128,5

Angaben in kg pro Kopf und Jahr; Quelle: Eurostat

Eine weitere Tendenz des Konsums seit den 70er Jahren ist die Pluralisierung. Der Konsum ist nicht mehr nur nach sozialer Schicht unterschiedlich, sondern auch innerhalb der einzelnen Schichten differenzieren sich einzelne Lebensstile oder Milieus aus. Manche Soziologen gehen sogar so weit, die traditionelle Einteilung der Gesellschaft in Klassen oder Schichten für überholt zu halten und die Bevölkerung nach anderen Kriterien (Wertorientierung, Alter, Bildung) einzuteilen. Bei Gerhard Schulze z.B. sind Alter und Bildung die entscheidenden Variablen, mit denen er die Bevölkerung (hier der Bundesrepublik) in fünf Milieus einteilt.

Erklärung: Alter auf y-Achse, Bildung auf x-Achse

Jedem dieser Milieus lassen sich dann bestimmte Wertorientierungen und Lebensstile zuordnen. So sind im "Selbstverwirklichungsmilieu" junge Menschen mit überwiegend postmaterialistischer Orientierung zu finden. Das klassische Bildungsbürgertum wird hier zum "Niveaumilieu". Anzumerken bleibt, dass Bildung in hohem Maße mit Einkommen korreliert, das Schema von Schulze also nicht unvereinbar ist mit traditionellen Sozialstrukturmodellen. Diese haben häufig die Form eines Hauses, in der eine schmale Oberschicht,eine breite Mittelschicht und eine wiederum kleine Unterschicht wohnen.


Welches Modell die Realität am besten wiedergibt, ist letztlich eine Frage der Einschätzung und auch der Absicht, die mit solchen Einteilungen verfolgt wird. Interessanter als die Frage, wie groß Ober-, Mittel- und Unterschicht denn wirklich sind (die Einteilungen sind immer willkürlich), ist die Frage, wie sich die soziale Ungleichheit im Zeitverlauf entwickelt. Und hier ist der Trend ganz eindeutig: In den 50er und 60er Jahren wurden die Gesellschaften, jedenfalls gemessen am Einkommen, tendenziell gleicher. Ab 1970 oder 1980 kehrte sich dieser Trend um und die Gesellschaften wurden immer ungleicher, wenn auch mit Ausnahmen (Frankreich) und im Zeitverlauf und Ausmaß unterschiedlich. In den USA verschärfte sich die Ungleichheit stärker als in Europa, aber die Tendenz ist in fast allen OECD-Ländern zu beobachten.



Eine weitere wichtige Entwicklung in der Sozialstruktur ist die Erosion traditioneller Milieus. Das betrifft vor allem die traditionelle Arbeiterklasse, die in den 50er und 60er Jahren zwar zahlenmäßig erhalten bleibt, sich aber durch unterschiedliche Einkommenssteigerungen ausdifferenziert. Seit ca. 1970 geht auch die Zahl der Arbeiter beständig zurück, während die der Bauern schon seit den 50er Jahren beständig schrumpft. Immer mehr Menschen gehören zur breiten Klasse der Angestellten, die allerdings vom Top-Manager bis zur Reinigungskraft mit Mindestlohn sehr unterschiedliche Berufsgruppen umfasst.

Die Auflösung oder zumindest Abschwächung der traditionellen Milieus ist eine direkte Folge des strukturellen Wandels und damit auch der Globalisierung, die zur Verlagerung vieler Industrien geführt hat. Die Gründe für die Zunahme der Ungleichheit sind komplexer. Eine Rolle spielen hierbei auf jeden Fall die wirtschaftspolitischen Kurswechsel seit den 70er und 80er Jahren, die u.a. Steuersenkungen und (jedenfalls teilweise) Einschränkungen in den Sozialsystemen mit sich brachten. Beides verschärfte die Ungleichheit, da von den Steuersenkungen vor allem die einkommensstarken Haushalte profitierten, während von den Kürzungen im sozialen Bereich vor allem einkommensschwache Haushalte betroffen waren. Es gibt aber kein festgelegtes Maß, wie viel soziale Ungleichheit toleriert wird bzw. ab wann der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet ist.

Literatur:
George Ritzer, Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz 4. Aufl. 2004
Faustine Régnier, Spicing up the imagination. Culinary exoticism in France and Germany; 1930-1990; in:  Food & foodways; j. 11; 2003; n. 4; S. 189-215 
Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 8. Aufl. 2000
Reiner Geissler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 7. Aufl. 2014
Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014
Hans-Christian Riekhof (Hg.), Retail Business in Deutschland. Perspektiven, Strategien, Erfolgsmuster, Wiesbaden 2. Aufl. 2008





Donnerstag, 23. April 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Wirtschaftliche Entwicklung



Die Vorlesung thematisierte die wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas nach dem Boom der 50er und 60er Jahre. Sie war insgesamt beachtlich, jedenfalls bis zur Finanz- und Bankenkrise von 2007/08. Das folgende Diagramm zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf im Vergleich zu anderen Weltregionen (Daten: OECD / Angus Maddison).


Sie zeigt, dass sich das BIP pro Kopf (in konstanten Preisen) mehr als verdoppelte. Westeuropa ist wirtschaftlich nach wie vor die zweitstärkste Region der Welt. Eine bessere Entwicklung nahm relativ gesehen Ostasien in den letzten 40 Jahren, aber doch von einem sehr niedrigen Niveau aus. In anderen Regionen wie Lateinamerika, Osteuropa oder Westasien war das Wachstum schwächer, in den USA war es ungefähr gleich. Der Abstand zu den USA konnte allerdings in dieser Zeit auch nicht verringert werden. Das westeuropäische Niveau beträgt konstant ca. 2/3 des US-amerikanischen. Ein Grund dafür liegt in den kürzeren Arbeitszeiten in Europa.

Innerhalb von Europa gab es, wie das folgende Diagramm verdeutlicht, deutliche Tendenzen zur Konvergenz. Die Wirtschaft von Ländern mit einem geringeren BIP wie Spanien, Griechenland oder Irland wuchs stärker. Irland überholte sogar einige Länder, darunter auch Deutschland. Allerdings bleibt abzuwarten, wie viel dieser Entwicklung durch die derzeitige Eurokrise wieder rückgängig gemacht wird.




In langfristiger Perspektive stehen die westeuropäischen Wachstumsraten gut da. Sie erreichen zwar nicht die Höhe der Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre. Diese Zeit war jedoch auch außergewöhnlich. Das Wachstum selbst in den als krisenhaft empfundenen 70er Jahren war stärker als beispielsweise vor dem Ersten Weltkrieg. Erst im Jahrzehnt 2001-10 ging es spürbar zurück, verursacht vor allem durch die Finanz- und Bankenkrise und die darauf folgende Eurokrise.

Diagramm: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten des BIP in Westeuropa seit 1890

Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Ursachen des Wachstums. Dass die Wachstumsraten gegenüber denen der 50er und 60er Jahre zurückblieben, lag am Auslaufen der Sonderbedingungen der Nachkriegszeit, wie der Rekonstruktion nach dem Krieg oder dem Aufholen gegenüber den USA. Dass es dennoch ein bedeutendes Wachstum gab, lag an mehreren Faktoren. Zum einen wirkte die zunehmende internationale Liberalisierung des Handels wachstumsfördernd, wie das folgende Diagramm veranschaulicht. Es zeigt die realen Wachstumsraten und die geschätzten Wachstumsraten für den Fall, dass es die Zollsenkungen durch GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) und europäische Integration nicht gegeben hätte. Man sieht, dass der wachstumsfördernde Effekt von GATT sogar noch stärker war als derjenige der europäischen Integration. In jedem Fall trug die Liberalisierung des Handels bedeutend zum Wachstum bei, allerdings erst ab Ende der 60er Jahre.

(Quelle: Badinger)

 Das folgende Diagramm verdeutlicht die Abnahme der Außenzölle der EU-Mitgliedsstaaten. Zu beachten ist das sehr unterschiedliche Ausgangniveau 1950, das zwischen 5 und 25 % schwankte. Spürbare Zollsenkungen brachten die "Kennedy-Runde" (1964-67), die "Tokio-Runde" (1973-79) und die "Uruguay-Runde" (1986-93).

(Quelle: Badinger) 

 Die Europäische Wirtschaftsunion war bereits 1958 mit dem schrittweise verwirklichten Ziel einer Zollunion gebildet worden. Ein weiterer Integrationsschritt war die Bildung des Europäischen Binnenmarktes 1992 mit seinen vier Freiheiten: der Waren, der Dienstleistungen, des Kapitals und der Mobilität der Arbeitskräfte. Ziel war die Beseitigung noch bestehender nicht-tarifärer Handelshemmnisse innerhalb der Europäischen Union.

Eine andere Quelle des Wachstums war natürlich die technische Entwicklung, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Ein wichtiger Faktor war die Mikroelektronik, die mit der Erfindung des Mikroprozessors (oder Mikrochips) 1971 einen wichtigen Fortschritt machte. Die "digitale Revolution" fand Anwendung nicht nur in der elektronischen Datenverarbeitung in der Verwaltung, sondern seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmend auch in Maschinensteuerungen und flexiblen Fertigungssystemen. Dass allerdings Sozialwissenschaftler noch bis in die Mitte der 90er Jahre behaupteten, man würde Computer überall sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken ("Produktivitätsparadox"), sagt wohl mehr über diese Statistiken aus als über die Computer. In Wahrheit dürfte schon in den 70er Jahren ein positiver Einfluss vorhanden gewesen sein, wenn er auch schwer zu quantifizieren sein mag.

Zum Wachstum beigetragen haben dürfte auch der Strukturwandel. Bereits in den 50er und 60er Jahren begann der Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zu sinken, während die Industrie in dieser Zeit ihren Platz im Wesentlichen behaupten konnte bzw. nur leicht an Bedeutung verlor (siehe Diagramm). Seit ca. 1970 setzt ein Trend zur Deindustrialisierung ein. Der Grund liegt in der fortschreitenden Globalisierung, die zur Verlagerung eines Teils der Industrie in außer-europäische Länder (vor allem in Ostasien, aber auch in Lateinamerika) führt. Zum Wachstum trägt dieser Prozess bei, weil sich die europäischen Länder (wie auch die USA) zunehmend auf hochproduktive Bereiche wie Forschung, Entwicklung und Design konzentrieren. Verlierer dieses Prozesses sind natürlich diejenigen Industriearbeiter, die nicht oder nicht sofort eine neue Stelle finden und entweder kurzzeitig oder längerfristig arbeitslos werden.

(Quelle: OECD)

 Ob die Änderung der Wirtschaftspolitik Einfluss auf das Wachstum hatte, ist dagegen durchaus umstritten. Jedenfalls ist es aber wichtig zu wissen, dass seit dem Ende der 70er Jahre zunehmend der bis dahin gültige keynesianische Konsens zerbrach und neue, unter verschiedenen Namen bekannte Strömungen (Monetarismus, Neoliberalismus, Thatcherismus, Reaganomics) an Einfluss gewannen. Ihnen allen war gemein, dass sie eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgten, die vor allem die Investitionsbedingungen für Unternehmen verbessern wollte und zu diesem Zweck die Rolle des Staates limitieren oder zurückdrängen wollte. Die Ideen gehen auf Wirtschaftswissenschaftler wie Friedrich Hayek (1899-1992) oder Milton Friedman (1912-2006) zurück und waren nicht neu, aber sie setzten sich erst vor dem Hintergrund der als krisenhaft empfundenen 70er Jahre durch, als die Inflation zusammen mit verlangsamtem Wachstum Probleme bereitete. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik führte zu weit reichenden Deregulierungen der Wirtschaft und Privatisierungen von Staatsbetrieben in Bereichen wie Telekommunikation, Luftverkehr, Eisenbahn, Post etc. Nach langem Zögern haben auch europäische Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder oder Tony Blair die wesentlichen Elemente dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik übernommen (Schröder-Blair-Papier 1999).

Die Deregulierung der Finanzmärkte begünstigte allerdings auch die Entstehung von Spekulationblasen und Wirtschaftskrisen. Bereits ab Mitte der 90er Jahre kam es zu einem Boom in der so genannten "New Economy", der vor allem Unternehmen aus der IT-Branche, aber auch aus anderen High-Tech-Feldern wie der Biotechnologie, angehörten. Diese oft noch jungen Unternehmen erzielten häufig noch keine Gewinne, wurden aber im Vorgriff auf später erhoffte Gewinne zum Teil hoch an der Börse gehandelt. Im März 2000 platzte die Blase, und viele Anleger verloren ihr Geld.

 Diagramm: Die Entwicklung des NASDAQ-Aktienindex 1994-2005

Eine gesamtwirtschaftliche Rezession resultierte daraus jedoch zunächst nicht. Allerdings hielten die Zentralbanken aus Furcht vor einer Rezession die Zinsen niedrig, was die Entstehung einer neuen Spekulationblase begünstigte, da bei niedrigen Zinsen die Anleger nach anderen als den konventionellen Anlageformen (Sparbücher, Festgeld etc.) suchen. Die nächste Blase entstand auf dem US-Immobilienmarkt. Sie platzte 2007 und löste damit die Finanz- und Bankenkrise aus, da viele Schuldner ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Viele dieser Schuldentitel waren in schlecht beaufsichtigte Schattenbanken ausgelagert. Der Höhepunkt der Bankenkrise war die Insolvenz der US-amerikanischen Bank Lehman Brothers am 15. September 2008. Im Gegensatz zur Dotcom-Blase (oder Internet-Blase) führte die Finanz- und Bankenkrise zu einer handfesten Rezession in den USA, aber auch in Europa.

In Europa kam allerdings noch ein weiteres krisenverschärfendes Moment hinzu. Viele Staaten waren ohnehin überschuldet. Die Finanz- und Bankenkrise und die dadurch ausgelöste Rezession verschärfte nun die staatliche Verschuldung, so dass mehrere Staaten (Zypern, Griechenland, Irland, Spanien, Portugal, Italien) an den Rand der Zahlungsfähigkeit gerieten. Ein besonderes Problem in Europa waren die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die seit der Einführung der gemeinsamen Währung 1998 entstanden waren. Wie das folgende Diagramm zeigt, entwickelten sich die Leistungsbilanzsalden in den Ländern der Eurozone sehr unterschiedlich. Schuld daran war nicht zuletzt Deutschland mit seinen hohen Exportüberschüssen. Durch die gemeinsame Währung können solche unterschiedlichen Entwicklungen nicht durch Wechselkursschwankungen und unterschiedliche Inflationsraten ausgeglichen werden. Nötig ist also letztlich eine stärkere wirtschaftspolitische Integration Europas  - oder ein Ende der Währungsunion.


Literatur:

Eichengreen, Barry J.: The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and beyond, Princeton 2007
Broadberry, Stephen / O´Rourke, Kevin (Hg.): THe Cambridge Economic History of Modern Europe. vol. 2: from 1870 to the presetn, Cambridge 2012
Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2. Aufl. 2011
Reinhart, Carmen / Rogoff, Kenneth: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, München 6. Aufl. 2013
Badinger, Harald: Wachstumseffekte der europäischen Integration, Wien 2003






Freitag, 17. April 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Einführung

Die Vorlesung in diesem Semester trägt den Titel "Das Zeitalter der Globalisierung. Sozialgeschichte Westeuropas seit 1970". Sie knüpft an die Vorlesung aus dem Sommersemester 2014 an, aber der Besuch der ersten Vorlesung ist keine Teilnahmevoraussetzung. Die dem Titel zugrunde liegende These ist, dass die Zeit seit den 70er Jahren vor allem durch die zunehmende Globalisierung gekennzeichnet ist. Natürlich war die Globalisierung nicht neu, aber sie trat doch um 1970 herum (plus minus ein paar Jahre) in ein neues Stadium. Ob und wann die Globalisierung ein Ende findet, ist noch nicht klar. Manche Beobachter sprachen schon 2012 und 2013 vom Ende der Globalisierung (CNN, Fortune). Der Hintergrund ist, dass der Welthandel in den letzten Jahren nicht oder nur marginal stärker gewachsen ist als die Wirtschaft insgesamt (das Bruttosozialprodukt), wie die folgende Grafik der Welthandelsorganisation WTO verdeutlicht.

Allerdings wäre es eine Verkürzung, Globalisierung auf den Welthandel zu reduzieren.

Der Begriff "Globalisierung" wird erst zu Beginn der 80er Jahre populär, genauer im Jahr 1982, als der Publizist John Naisbitt sein Buch "Megatrends" publizierte und der Ökonom Theodor Levitt einen Aufsatz unter dem Titel "The Globalisation of Markets" in der "Harvard Business Review" veröffentlichte. Beide hatten einen ökonomisch geprägten Globalisierungsbegriff. Levitt argumentierte, die Präferenzen der Konsumenten hätten sich weltweit so weit angeglichen, dass es multi-nationalen Unternehmen möglich sei, standardisierte Produkte weltweit zu vertreiben, ohne teure Anpassungen an die nationalen Märkte vornehmen zu müssen. Naisbitt dagegen glaubte nicht an eine kulturelle Angleichung, sondern argumentierte eher mit globalen Produktionsketten. Die Teile für ein amerikanisches Auto kamen schon zu Beginn der 80er Jahre nicht mehr ausschließlich aus den USA, sondern aus ganz verschiedenen Teilen der Welt.

Argumentierten diese Autoren also vor allem mit wirtschaftlichen Veränderungen, so wird in der aktuellen Diskussion Globalisierung nicht mehr als rein ökonomischer Prozess angesehen, sondern als einer, der mehrere Dimensionen umfasst, z.B. Wirtschaft, Politik, Kultur, Recht, Umwelt etc. Eine brauchbare Definition findet sich bei Müller (s.u., S. 8): "die raum-zeitliche Ausdehnung sozialer Praktiken über staatliche Grenzen, die Entstehung transnationaler Institutionen und Diffusion kultureller Muster". Hier wird deutlich, dass es sich bei der Globalisierung (seit den 70er Jahren) um einen gesellschaftlichen Basisprozess handelt, der tendenziell alle Bereiche der Gesellschaft und Kultur, wenn auch in unterschiedlichem Maße, erfasst.

Nun ist Globalisierung an sich nichts völlig Neues. Spätestens seit dem Zeitalter der Entdeckungen (16. Jh.) und noch mehr mit der Verlegung der Übersee-Telegraphenkabel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Welt zusammengerückt. Es lassen sich, so die allgemein geteilte Meinung, verschiedene Phasen der Globalisierung unterscheiden. Leider stimmen die Experten hier nicht überein, jeder setzt die Zäsuren etwas anders. Peter Fäßler unterscheidet folgende Phasen: die erste Phase 1840-1914, die "Zeit der Gegenläufe" 1914-45, die zweite Globalisierungsphase 1945-1989/90 und die dritte Phase seit 1990. Jürgen Osterhammel und Niels Petersson setzen die Zäsuren dagegen 1750, 1880, 1945 und Mitte der 70er Jahre. Eine relativ stringente, weil auf den ökonomischen Bereich beschränkte Phaseneinteilung stammt von Ulrich Pfister. Er unterscheidet eine Phase der "europäischen Weltwirtschaft" bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Phase der atlantischen Ökonomie 1850-1931, eine Phase der Deglobalisierung 1931-44, eine Phase der organisierten Weltwirtschaft 1944-73 und schließlich einen neuen Globalisierungsschub seit 1973.

Dass sich in der Tat heute gegenüber der Zeit vor 100 Jahren etwas geändert hat, verdeutlichen die folgenden zwei Karten. Die erste zeigt das Telegrafen- und Eisenbahnnetz 1901, die zweite die Welthandelsbeziehungen 2009. Obwohl man die Karten nur schwer direkt miteinander vergleichen kann, werden doch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen deutlich. Um 1900 war die Globalisierung im Wesentlichen eine transatlantische Veranstaltung, während heute Asien eine immer wichtigere Rolle einnimmt.


Was neben dieser geographischen Ausweitung charakteristisch ist für die neue Globalisierungsphase seit den 70er Jahren, ist zum einen die Ausweitung der transnationalen Direktinvestitionen (im Gegensatz zu dem älteren transnationalen Güterhandel), das Wachstum von multi-nationalen Unternehmen und, im politischen Bereich, der Zuwachs an internationalen Organisationen, insbesondere Nichtregierungsorganisationen (INGOs). Das verdeutlichen die nächsten beiden Schaubilder.




Aus diesem besonderen Charakter der Globalisierung nach 1970 rechtfertigt sich die Wahl des Themas als Leitthema für die Vorlesung. Das heißt aber nicht, dass nationale Unterschiede dadurch verschwinden oder unwichtig werden würden.

Literatur:

Peter Fäßler, Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln 2007
Klaus Müller, Globalisierung, Bonn 2002
Jürgen Osterhammel / Niels Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003

Hier der Plan für die Vorlesung:

13.04.     Globalisierung: Einführung und Überblick
20.04.     Wirtschaftliche Entwicklung
27.04.     Konsum, Lebensstile, Soziale Schichtung
04.05.     fällt aus
11.05.     Massenarbeitslosigkeit, Sozialstaat, Neue Armut
18.05.     Neue Soziale Bewegungen
25.05.     Pfingsten
01.06.     Bildung und Wissensgesellschaft
08.06.     Umweltbewegung und Umweltpolitik
15.06.     Innenpolitik: Fragmentierung der Parteiensysteme
22.06.     Außenpolitik: Entspannung und Systemtransformation in Osteuropa; Europäische Integration und
               Erweiterung
29.06.     Multi-Kulti: Einwanderung und Integration
06.07.     Pluralisierung der Kulturen: Hoch- und Populärkultur, Religion und Wertewandel
13.07.     Klausur



Donnerstag, 2. April 2015

Bismarck

Der 200. Geburtstag von Otto von Bismarck ist von der Medienöffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Vor allem einige Politiker wie Frank-Walter Steinmeier oder Gerhard Schröder meinten sich dazu äußern zu müssen und lobten den Reichskanzler als „einen der ganz Großen“ (Schröder) bzw. als „klugen Beobachter der Wirklichkeit und scharfsinnigen Analytiker“ (Steinmeier). Die AfD in Leipzig hat sogar einen Antrag gestellt, man möge hier einen repräsentativen Platz in der Stadtmitte nach ihm benennen. Dagegen war die Süddeutsche Zeitung der Meinung, Bismarcks Mythos sei verblasst. Die neueste Bismarck-Biografie von Christoph Nonn sieht in ihm den „Geburtshelfer der Moderne“. Und Josef Joffe vergleicht in der "Zeit" Bismarck mit Abraham Lincoln.
So weit, so gut, möchte man meinen, aber doch eigentlich kein Thema für die Konsumgeschichte, außer vielleicht der Bismarck-Hering. Aber lassen sich Politik- und Konsumgeschichte wirklich immer trennen? Sollte nicht doch das eine auf das andere Einfluss nehmen?
So weit mir bekannt, stellt keiner der Bismarck-Biographen dessen Konsum in den Mittelpunkt, selbst Waltraut Engelbert nicht, die ein lesenswertes Buch über das Privatleben der Bismarcks geschrieben hat. Dabei gäbe es hier genug zu schreiben. Legendär war zum Beispiel Bismarcks großer Appetit, seine Vorliebe für die Jagd und das Trinken: „Mein bester Komfort war meine Küche; auf die habe ich immer ein gutes Stück gehalten und ebenso auf einen wohlbestellten Keller.“
Wenn es nicht so respektlos wäre, müsste man schreiben: Bismarck war ein Trinker. Das hatte er sich in seiner bekanntlich wilden Jugendzeit angewöhnt, in der er als „toller Junker“ bezeichnet wurde. Er hörte aber auch später nicht auf zu trinken und brüstete sich damit, nie betrunken zu werden. Das bedeutet freilich nur, dass sich sein Körper an den regelmäßigen Genuss großer Mengen Alkohol gewöhnt hatte. Heute weiß man, dass regelmäßiger übermäßiger Alkoholkonsum dem Gehirn schadet. Als Mittel gegen Kater empfahl er, eine ganze Flasche Champagner auf einmal auszutrinken (nicht nachmachen!). Für eine Bahnfahrt nach Berlin packte er 1878 als Reiseproviant ein: einen halben Hasen, zwei gebratene Rebhühner, eine Rehkeule, verschiedene Wurst usw., dazu Bier, Rotwein, Portwein, Nordhäuser und Kognak. Die leeren Flaschen ließ er unter dem Tisch verschwinden. Hering mochte er tatsächlich gerne und aß in fünf Jahren angeblich über tausend Stück. Einmal will er bei einer Gelegenheit 175 Austern auf einmal gegessen haben.
Ein Teil von Bismarcks Krankengeschichte dürfte durch seinen übermäßigen Alkoholgenuss (und seine Völlerei) zu erklären sein. 1859 bekam er seinen ersten schweren Schmerzanfall in der Lebergegend. Seitdem litt er chronisch an Schmerzen, Gicht, Verdauungs- und Kreislaufbeschwerden. Mit 51 Jahren (1866) erschien er als alter, kranker Mann. Er zog sich monatelang auf sein Gut zurück und war zeitweise kaum arbeitsfähig. Eine vorübergehende Besserung trat nach 1881 ein, als ihm sein Arzt seine ungesunde Lebensweise zumindest zeitweise abgewöhnen konnte.
Seine Spieler-Natur, sein Leichtsinn, den schon Zeitgenossen mit seinem Alkoholkonsum in Verbindung brachten, und sein aufbrausendes Temperament sind wohl ohne Rückgriff auf seine Lebensgewohnheiten schwer zu erklären. Die preußischen Depeschen, so spotteten seine Gegner, röchen nach Rum. Ähnlich verhält es sich mit der bekannten Offenheit Bismarcks, die in der Diplomatie völlig unüblich war. 1866 hat er den Krieg mit Österreich, den er willkürlich herbeiführte, ganz offen angekündigt. Seine Diplomatie, die in drei Kriege mündete, glich einem Vabanque-Spiel. Sein Flügeladjutant meinte nach der Schlacht von Königgrätz 1866: „Excellenz, jetzt sind Sie ein großer Mann. Wenn der Kronprinz zu spät kam, wären Sie der größte Bösewicht.“ Als Bismarck seine berühmte Bemerkung machte, die Einigung Deutschlands sei nur mit „Eisen und Blut“ möglich, meinte ein hoher Regierungsbeamter, Bismarck habe „zu stark gefrühstückt“. In der Tat trank der Junker bereits zum Frühstück Alkohol, z.B. Bordeaux-Weine.
Das alles kann hier nicht weiter ausgebreitet werden, aber es würde sich lohnen, der Verbindung von Konsum und Politik mal in dieser Richtung nachzugehen, anstatt immer zu fragen, wie die Politik den Konsum beeinflusste. Ob wir unsere Straßen und Plätze nach einem skrupellosen Trinker und Spieler benennen wollen, ist eine andere Frage.