Dienstag, 24. November 2015

Otto Schily und die Banane

Offenbar ist der TV-Ausschnitt, in dem Otto Schily (SPD) den Ausgang der Volkskammerwahl 1990 mit der Banane in der Hand kommentiert, im Internet nicht mehr verfügbar. Das ist schade, handelt es sich doch um ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. U.a. durch dieses Interview wurde die Banane zum Symbol des materialistischen Ossis.

Hier die Aussage Schilys im Wortlaut:


"Ein Argument für die Wahl ist dies hier, die schöne Banane, und ich kann das auch verstehen, dass die Menschen, die hier lange da [!] nach solchen Südfrüchten haben anstehen müssen, wenn sie überhaupt vorhanden waren, höchstens mal bei der Leipziger Messe, dass sie die gerne auch in ihrem Laden zu einem guten Preis haben wollen."

 Allerdings hat sich Otto Schily später für diese Aussage entschuldigt.

Hier das Video:


Montag, 16. November 2015

Energiekonsum

Der folgende link führt zu einer Rezension von mir zum Thema Energiekonsum in der Bundesrepublik Deutschland auf sehepunkte.

Dienstag, 10. November 2015

Ende des Laissez-Faire?

Verschiedene Meldungen geistern durch die Medien, die auf einen neuen staatlichen Interventionismus im Bereich des Konsums hindeuten. In Berlin will das Bezirksparlament sexistische Werbeplakate verbieten, was einen Kommentator an die Taliban erinnert (Tagesspiegel). In Frankreich soll ein Gesetz verabschiedet werden, das Werbung mit untergewichtigen Models verbietet; und in Großbritannien ist dieses Jahr aus diesem Grund bereits eine Werbeanzeige der Firma Yves Saint-Laurent verboten worden (Spiegel online, Advertising Standards Authority). In Israel ist ein entsprechendes Gesetz bereits 2013 in Kraft getreten. Hier ein link zu einer online-Petition gegen Magermodels bei Yves Saint-Laurent: change.org

Auch Rauchverbote verbreiten sich zunehmend. Am bekanntesten sind vielleicht das Volksbegehren und der Volksentscheid 2010 in Bayern für ein vollständiges Rauchverbot in Gaststätten. Es zeigte, dass Eingriffe in die Konsumentenfreiheit auch in westlichen Staaten eine hohe Akzeptanz besitzen, wenn sie gut begründet werden.Vorreiter bei der besonders umstrittenen Einführung des Rauchverbots in Gaststätten waren Irland und Norwegen, wo entsprechende Verbote schon 2004 in Kraft gesetzt wurden. Auch bei Rauchern gibt es eine gewisse Sympathie für Rauchverbote in Gaststätten. In Deuteschland sind ungefähr ein Drittel der über 15-Jährigen Raucher, bezogen auf die Gesamtbevölkerung ca. 23 %. In Europa schwankt der Raucheranteil zwischen 18 % in Norwegen und 35 % in Griechenland. Seit Einführung des Rauchverbots in Gaststätten ist die Zahl der Herzinfarkte in Deutschland um 8 % zurück gegangen (DAK).

In der Tat ist die Begründung der staatlichen Eingriffe interessant. Sie sind nicht einheitlich, allerdings spielt die Sorge um die öffentliche Gesundheit eine große Rolle. So wird die Werbung mit untergewichtigen Models kritisiert, weil zu befürchten steht, dass sie (insbesondere bei jungen Frauen und Mädchen) Magersucht fördere. Der Zusammenhang ist so direkt schwer nachzuweisen. Eine neuere psychologische Studie  will aber in der Tat einen negativen Effekt von Models in der Werbung auf das Körperselbstbild von Frauen nachgewiesen haben (bei Männern zeigt sich dieser Effekt übrigens nicht). Beim Rauchverbot in Gaststätten spielt der Arbeitsschutz die ausschlaggebende Rolle. Da Gaststätten Arbeitsplätze sind, gilt es, so das Argument, die Beschäftigten vor den Gefahren des Passivrauchens zu schützen. Bei dem Verbot sexistischer Werbung geht es dagegen weniger um gesundheitliche Fragen als um die Gleichstellung von Mann und Frau. Interessant sind übrigens die historischen Parallelen. Auch im deutschen Kaiserreich diente der Arbeitsschutz als Vehikel zur gesetzlichen Beschränkung von Ladenöffnungszeiten, insbesondere an Sonntagen (1891 und 1900).

Die Begründungen sind also unterschiedlich, aber die Tendenz scheint doch in die Richtung eines größeren staatlichen Interventionismus zu gehen. Ist das liberale Laissez-Faire im Bereich des Konsums also vorbei? Der amerikanische Historiker Gary Cross ließ seine Studie über Konsum im 20. Jahrhundert noch mit dem Triumph des Marktes seit der Reagan-Ära enden. Ist nun diese Zeit der weitgehend freien Märkte mit Betonung der Konsumentensouveränität an ihr Ende gekommen? Und was kommt danach? Ein neuer staatlicher Interventionismus, der sich auf die öffentliche Gesundheitsvorsorge (public health) beruft?  Anders als Gary Cross vermutete, ist es aber nicht primär der Schutz von Kindern, der als Vehikel zur Beschränkung der Konsumentensouveränität dient.

Beides (die Betonung der ungehemmten Konsumentensouveränität wie der staatliche Interventionismus) ist nicht unproblematisch. Die Berufung auf die Freiheit der Märkte droht den Konsumenten gegenüber den Produzenten zu benachteiligen, da letzterer in der Regel einen Informationsvorsprung besitzt, der nur schwer einzuholen ist. Die Berufung auf die öffentliche Gesundheit birgt aber die Gefahr, zu einem Paternalismus der Experten zu auszuarten.  Eine Debatte darüber findet bisher allerdings nicht oder nur in Ansätzen statt.

Nachtrag (Dezember 2015): Das geplante Gesetz gegen zu dünne Models in Frankreich ist nun verabschiedet worden.  Demnach benötigen Models eine medizinische Bescheinigung, dass sie nicht krankhaft dünn sind.


Montag, 12. Oktober 2015

Moralisierung des Konsums

In letzter Zeit haben Untersuchungen eine gewisse Konjunktur, die sich mit moralischem Konsum beschäftigen, d.h. entweder mit moralisch konnotierten Produkten (Jute-Tasche) oder mit der Fair Trade-Bewegung der letzten ca. 40 Jahre. Im Mai hatten die Gesellschaft für Technikgeschichte und das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine Tagung über "Moralische Produkte" veranstaltet (Tagungsbericht). Und in Kiel fand im September ein interdisziplinärer Workshop mit dem Titel "Alle Macht dem Verbraucher?" statt, in dem es ebenfalls um Konsumentenboykotts und die Fair Trade-Bewegung (neben anderen Themen) ging.

Dieses Interesse rührt sicherlich zum einen daher, dass die Zeitgeschichte der 70er und frühen 80er Jahre durch die Öffnung der Archive (nach Ablauf der allgemeinen 30-Jahres-Sperrfrist) in den Fokus gerückt ist. Zum anderen gibt es aber auch die weiter gehende These von der "Moralisierung der Märkte", vertreten von dem prominenten Soziologen Nico Stehr in dem gleichnamigen Buch von 2007. Stehr argumentiert darin, die Konsumenten würden durch zunehmenden Wohlstand und zunehmendes Wissen immer mächtiger und würden dadurch einen starken Druck auf die Produzenten ausüben, sich an moralische Standards zu halten. Das bedeutet nach Stehr zwar keinen Bruch mit dem Kapitalismus, wohl aber eine Kulturalisierung der Ökonomie im Sinne einer Kopplung von kulturellen Orientierungen und am Markt gehandelten Gütern.

Als Historiker gibt es genügend Gründe für Skepsis gegenüber solchen weit reichenden Thesen. Zwar ist die Zunahme von Wohlstand und Wissen in Westeuropa seit den 50er Jahren gut belegt, so dass es plausibel erscheinen mag, dass Konsumenten heute mehr denn je in der Lage sind, informierte Entscheidungen zu treffen und es sich leisten können, moralische Kriterien in Anschlag zu bringen. Dagegen spricht aber, dass es in der Konsumgeschichte (zumindest in der Neuzeit) keine Periode gab, in der der Konsum nicht in irgendeiner Form moralisch aufgeladen worden wäre. Die Konsumkritik ist im Prinzip so alt wie der Konsum selbst. Im 18. Jahrhundert war es die Kritik an "Luxus" und Mode, die moralisierend wirkten. Im 19. Jahrhundert versuchte die Konsumvereinsbewegung, der kapitalistischen Ökonomie eine moralisch bessere Alternative entgegen zu setzen. Um 1900 war die Kritik an den Warenhäusern sehr verbreitet, in den 50er Jahren geriet die Werbung in den Fokus der Kritiker (z.B. Vance Packard). Die Beispiele ließen sich vermehren.

Eines scheint allerdings bemerkenswert an den "Fair Trade"-Initiativen, nämlich dass hier die Vorstellung vom "gerechten" oder "fairen" Preis wieder aufersteht. Diese Vorstellung wurde lange Zeit mit der "moralischen Ökonomie" der Unterschichten (E.P. Thompson) um 1800 verbunden, die als Gegenmodell zur liberalen Ökonomie fungierte. In den Konsumentenprotesten um 1800, so Thompson, versuchten die Unterschichten einen ihnen gerecht erscheinenden Preis durchzusetzen, indem sie unter Androhung oder Ausübung von Gewalt Händler zwangen, ihre Waren billiger zu verkaufen. Spätestens um 1850, so die Erkenntnisse der Protestforschung, spielten aber diese Vorstellungen eigentlich keine Rolle mehr, und dass Preise auf Märkten durch Angebot und Nachfrage gebildet wurden, war allgemein akzeptiert (ausgenommen natürlich die sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften des 20. Jahrhunderts). Auch in der Zwangsbewirtschaftung des Ersten Weltkriegs sprach man weniger von einem "gerechten" als vielmehr von einem "angemessenen" Preis.

Dass seit den 1970er Jahren durch die Dependenztheorie die Lehre vom "gerechten Preis" ihre Wiederauferstehung feierte, ist schon bemerkenswert. Leider wird der nahe liegende Vergleich zur "moralischen Ökonomie" um 1800 von den meisten Autoren nicht gezogen. Der Unterschied besteht offensichtlich darin, dass in den Konsumentenprotesten um 1800 der "gerechte" Preis ein niedrigerer als der Marktpreis war, während sich die Anstrengungen der "Fair Trade"-Initiativen darauf richten, einen höheren als den Marktpreis durchzusetzen. Interessant wäre es, einmal der Frage nachzugehen, ob und in welcher Form sich Vorstellungen eines "gerechten Preises" auch in der Zwischenzeit (von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) hielten.

Donnerstag, 3. September 2015

Gesunde Ernährung

Gesunde Ernährung ist wieder aktuell im Fokus der Aufmerksamkeit, und das hat einen einfachen Grund: In den USA werden die Ernährungsrichtlinien (http://health.gov/dietaryguidelines/2015-scientific-report/pdfs/scientific-report-of-the-2015-dietary-guidelines-advisory-committee.pdf) überarbeitet. Sie erscheinen alle fünf Jahre, und die diesjährige Ausgabe ist in gewisser Weise revolutionär, denn sie lässt stillschweigend frühere Empfehlungen fallen, die lange als wegweisend galten. Zum Beispiel wird es keine Empfehlung mehr hinsichtlich des u.a. in Eiern vorkommenden Cholesterins mehr geben. Auch soll keine Obergrenze für den Konsum von Fett im allgemeinen mehr angegeben werden (http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=2338262). Die Bedeutung von Salz, das gleichfalls für Bluthochdruck und damit zusammenhängende Krankheiten verantwortlich gemacht wird, ist ebenfalls umstritten (http://www.washingtonpost.com/news/wonkblog/wp/2015/04/06/more-scientists-doubt-salt-is-as-bad-for-you-as-the-government-says/). Allerdings empfehlen die Richtlinien weiterhin, weniger Fleisch und Zucker zu sich zu nehmen, mehr Obst und Gemüse, und weniger gesättigte Fettsäuren. Die Empfehlungen haben in den USA hohe Wellen geschlagen, so dass mittlerweile auch methodische Fragen über das Zustandekommen der Richtlinien diskutiert werden.

Die Rücknahme von Empfehlungen, die teilweise seit Jahrzehnten propagiert wurden, wirft kein gutes Licht auf die Ernährungswissenschaft. Sicher, Wissenschaft lebt davon, dass Irrtümer korrigiert werden, aber offenbar standen viele frühere Empfehlungen auf recht dünner empirischer Grundlage. Es bleibt zu hoffen, dass sich das ändert. Das Problem besteht, anders als Detlef Briesen in seinem ansonsten lesenswerten Buch über "Das gesunde Leben" (Frankfurt 2010, S. 11f.) behauptet, nicht darin, dass Wissen und Handeln auseinander klaffen, sondern es ist eben auch ein genuines Problem der Verlässlichkeit von Expertenwissen. Aus (konsum)historischer Sicht ist zu fragen, ob es sich dabei um ein modernes Phänomen der "Wissensgesellschaft" handelt, die eben durch die ständige Produktion von Wissen auch Unsicherheit mitproduziert, da unter Experten häufig in wichtigen Fragen kein Konsens herrscht. So könnte es scheinen, doch ist die Diskussion über positive und negative Folgen von Nahrungs- und Genussmitteln ist doch schon sehr viel älter. In gewisser Weise erinnert die Diskussion an den Streit der medizinischen Experten des 17. und 18. Jahrhunderts über die neuen Genussmittel Kaffee, Tee, Tabak und Schokolade. Auch hier gab es Verfechter ihrer Wirksamkeit gegen bestimmte Leiden als auch Warnungen vor ihren gesundheitsschädlichen Wirkungen (etwa dass häufiges Rauchen das Hirn einräuchere und austrockne, oder dass Kaffee Impotenz, Hämorrhoiden und hysterische Nervenzustände verursache). Der Schriftsteller Georg Carl Claudius konstatierte 1784 nüchtern, dass die Ansichten über Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Kaffeekonsums sich einander widersprächen ("Über seinen Nutzen sowohl als über seine Schädlichkeit sind die Aerzte nicht übereinstimmend", Leipziger Taschenbuch für Frauenzimmer 1784, S. 131). Ganz ähnlich klang ein Artikel in der "Washington Post" von 1984, der (am Beispiel von Fischöl) beklagte, es sei eine Schande, dass wir Konsumenten immer gerade dazu gedrängt werden, etwas in großen Mengen zu essen, das wir uns gerade unter großen Leiden abgewöhnt hatten (Washington Post 1984).

Die Schlussfolgerung daraus kann aber nicht sein, dass wissenschaftliche Empfehlungen generell sinnlos sind und daher ignoriert werden können. Damit würde man es sich zu einfach machen. In Zukunft sollten sich aber Ernährungsempfehlungen insofern an der antiken Diätetik orientieren, als sie nicht allein auf die Aufnahme bestimmter Stoffe (Zucker, Salz, Fett etc.) abstellen, sondern zum einen die gesamte Lebensweise in den Blick nehmen und zum anderen nach Personengruppen differenzieren. Was für den einen schädlich ist, kann für den anderen gesund sein. Die antike Diätetik verwendet hierfür den Begriff des "rechten Maßes", das aber individuell durchaus unterschiedlich sein konnte. Zur Diätetik gehörten neben Essen und Trinken auch Licht und Luft, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Stoffwechsel und Gemütsbewegungen.

Mittwoch, 1. Juli 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Einwanderung und Integration

Die Zuwanderung der letzten ca. 50 Jahre hat die europäischen Gesellschaften sicher stärker verändert als viele andere Prozesse. Gleichzeitig handelt es sich hier um den vielleicht auffälligsten Teil der Globalisierung, der immer wieder politische Diskussionen bis hin zu Parteigründungen, gewalttätigen Ausschreitungen und sogar Terrorismus hervor ruft. Ziel der folgenden Ausführungen soll es daher sein, die Debatte zu versachlichen.

Migrationen hat es in der Geschichte immer gegeben, und dennoch waren die Migrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Neues, jedenfalls für Europa. Viele europäische Länder wie Deutschland und Italien waren lange Zeit eher Auswanderungs- als Einwanderungsländer gewesen. Die Arbeitsmigration in der klassischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war doch weitgehend eine inner-europäische Angelegenheit gewesen: Iren gingen nach England, Italiener nach Österreich oder Polen nach Deutschland. Ähnliche Migrationsmuster von der europäischen Peripherie zu den Zentren gab es zwar auch nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem von Süd- nach Nord- und Mitteleuropa (von Italien in die Schweiz, nach Deutschland oder Frankreich; von Irland nach England; von Finnland nach Schweden; von Jugoslawien nach Deutschland etc.), aber es waren doch schon seit den 50ern und verstärkt seit den 60ern auch außer-europäische Zuwanderer aus Asien, Afrika oder der Karibik nach Europa gekommen. Mit Ausnahme von Großbritannien und teilweise Frankreich waren die meisten Zuwanderer Arbeitsmigranten, die durch Anwerbeverträge ins Land geholt wurden, als Arbeitskräftemangel herrschte. Lange Zeit gingen sowohl die Einheimischen als auch die Immigranten davon aus, dass es sich hier nur um eine temporäre Migration handeln würde, und die Immigranten nach wenigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden (was viele auch taten). Das führte dazu, dass sich viele europäische Gesellschaften trotz faktisch bedeutender Zuwanderung nicht als Einwanderungsländer definierten. Großbritannien bildet insofern eine Ausnahme, als hier nach dem Zweiten Weltkrieg die postkoloniale Migration, d.h. die Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien, dominierte, die bis 1962 rechtlich problemlos möglich war.

Migrationsströme, ca. 1950-80


In den späten 60er und frühen 70er Jahren gingen mehrere europäische Staaten dazu über, die Einwanderung zu beschränken: Großbritannien schon 1962, 1968 und 1971, die Schweiz 1970, Schweden 1972, die Bundesrepublik 1973, Frankreich und die Benelux-Länder 1974. Dadurch änderte sich der Charakter der Zuwanderung. Nach 1970 kamen primär  Migranten aus EG-Staaten (die nach wie vor Freizügigkeit genossen), Flüchtlinge (die unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention standen) und Familienangehörige der bereits Eingewanderten nach Europa. In einigen Ländern, z.B. Italien und Frankreich, spielt auch die illegale Zuwanderung eine bedeutende Rolle. Anders als vor 1970 handelte es sich hier meist um Zuwanderung, die auf Dauer angelegt war.

Der Ausländeranteil wuchs in fast allen Ländern und lag 2004 meist zwischen 5 und 10 % der Bevölkerung (siehe Karte). Den höchsten Ausländeranteil in Westeuropa hat (außer Luxemburg) die Schweiz mit heute ca. 23 %. Hierbei ist aber zu beachten, dass nicht alle Einwanderer Ausländer sind. Das Staatsbürgerschaftsrecht variiert stark von Land zu Land sowie über den Zeitverlauf. Traditionell war es in Frankreich liberaler als in Deutschland, so dass dort viele Zuwanderer vor allem der zweiten Generation die französische Staatsangehörigkeit besitzen. Hinzu kommt, dass die illegale Einwanderung hier nicht erfasst ist.


Die Karte zeigt auch, dass in den meisten Ländern die Mehrheit der Ausländer aus Nicht-EU-Staaten stammt. Die Herkunft der Immigranten ist in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich. In Großbritannien dominieren asiatische Herkunftsländer wie Indien, Pakistan, Bangladesh sowie karibische (Jamaika) und schwarzafrikanische Länder. In Frankreich kamen die Einwanderer aus Nordafrika (Algerien, Marokko), aber auch aus Italien und Portugal. In Deutschland kamen viele Zuwanderer aus der Türkei, Jugoslawien und Italien, nach 1990 auch aus Osteuropa. Italien selber wurde erst in den 80er und 90er Jahren zum Einwanderungsland, als viele Menschen aus Afrika und Südosteuropa einwanderten.

Die Einwanderer konzentrieren sich überwiegend in den großen Städten und sind daher stärker sichtbar als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Konzentration in bestimmten Stadtvierteln zeigt beispielsweise ein Projekt, das Karten mit den häufigsten Nachnamen in Großbritannien (Stand 2007) dargestellt hat (die Abbildung zeigt London).


Die Integration der Zuwanderer wird häufig in Medien und vor allem von rechtspopulistischen Parteien sehr negativ dargestellt. Da ist die Rede von islamischen "Parallelgesellschaften", von Arbeitslosigkeit, Extremismus und Gewalt. Die Realität ist komplexer. Die Situation der Einwanderer unterscheidet sich von Land zu Land und Gruppe zu Gruppe, ja selbst innerhalb einer Gruppe (beispielsweise Türken in Deutschland) existieren große Unterschiede. Richtig ist allerdings, dass die Arbeitslosigkeit unter Ausländern (oder auch unter den im Ausland geborenen) in der gesamten EU höher ist als die Arbeitslosigkeit unter Inländern, häufig doppelt so hoch. Das betrifft nicht nur, aber insbesondere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten.


Die höhere Arbeitslosigkeit unter Ausländern lässt sich zum Teil mit deren im Schnitt geringerer Bildung erklären. Viele der Arbeitsmigranten, die in den 60er Jahren angeworben wurden, hatten nur geringe Bildung und verrichteten ungelernte Arbeit. Menschen mit geringer Bildung sind aber überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommen andere Faktoren wie das Alter, die einen Teil der höheren Arbeitslosigkeit erklären. Es verbleibt aber ein gewisser ungeklärter Rest, der mit Diskriminierung oder dem Fehlen sozialer Netzwerke zusammenhängen könnte.

Auch in der Bildung schneidet die zweite Generation der Zuwanderer meist unterdurchschnittlich ab. Allerdings ist hier wiederum zu beachten, dass viele aus einem Elternhaus mit niedriger Bildung kommen, und diese (auch bei Inländern) in der Regel mehr Probleme im Bildungssystem haben als Kinder, deren Eltern bereits über höhere Bildung verfügen. Eine Studie schätzt, dass von den türkischen Einwanderern der zweiten Generation ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel Aufwärtsmobilität erleben, also einen höheren Bildungsabschluss und bessere Arbeit haben als ihre Eltern. Noch besser ist die Situation in Großbritannien, wo viele Einwanderergruppen die einheimische Bevölkerung im Bildungserfolg (abgeschlossene Sekundarschulbildung) entweder eingeholt oder bereits überholt haben.


Und was ist mit den viel beschworenen Parallelgesellschaften? Auch hier gilt es zu differenzieren. Die Mehrheit der Zuwanderer hat einen ethnisch gemischten Freundeskreis, nur eine Minderheit lebt in ethnisch homogenen Kreisen. Die Identifikation mit dem Zuwanderungsland ist tatsächlich generell eher schwach ausgeprägt, dafür identifizieren sich aber viele mit der Stadt, in der sie leben. Die Mehrheit der Zuwanderer aus islamisch geprägten Ländern ist religiöser als die meisten Europäer, aber der politische Islam ist wiederum nur für eine Minderheit attraktiv, insbesondere für diejenigen mit geringer Bildung. Islamistische Bewegungen rekrutieren zwar gezielt in den Einwanderervierteln der großen europäischen Städte, sie werden aber nicht von einer populären Welle getragen, sondern die Konversion zum radikalen Islam bringt fast immer einen Bruch mit Familie und Freundeskreis mit sich.

In das Zentrum der Diskussion rücken neuerdings wieder die Flüchtlinge bzw. Asylbewerber in Europa. In der Tat steigen die absoluten Asylbewerberzahlen in den letzten Jahren wieder an, nachdem sie zu Beginn der 90er Jahre einen ersten Höhepunkt erreicht hatten. Damals wurde das EU-Asylverfahren harmonisiert und unter anderem das Konzept des "sicheren Drittstaates" bzw. des "sicheren Herkunftslandes" eingeführt, das die Asylbewerberzahlen stark zurück gehen ließ, da viele Herkunfts- und Transitländer einfach zu sicheren Staaten erklärt wurden, und außerdem die Regel eingeführt wurde, dass Asylbewerber in dem EU-Staat Asyl beantragen mussten, den sie zuerst betraten hatten (Dubliner Übereinkommen 1990).

In absoluten Zahlen nimmt Deutschland die meisten Flüchtlinge auf, in relativen Zahlen jedoch Schweden und die Schweiz. Versuche, innerhalb der EU zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge zu kommen, sind bisher gescheitert. Die Zunahme der Flüchtlingszahl hängt zum Teil mit der gestiegenen Zahl an Konflikten zusammen (z.B. Syrien), zum Teil aber auch damit, dass andere Wege der Immigration mehr und mehr verschlossen wurden, so dass viele Menschen keine andere Chance sehen als das Asylverfahren. Dennoch ist die Zahl der Flüchtlinge gerechnet auf die gesamte Zahl der Ausländer gering: in der EU als Ganzes und in den großen Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland bewegt sich der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzahl der Aufenthaltstitel zwischen 1-5 %. Höher liegt er allerdings in Schweden, wo ca. jeder sechste bis siebte Ausländer ein Flüchtling ist.

Zu erwähnen ist schließlich noch, dass die Sicherung der EU-Außengrenze gegenüber Flüchtlingen nicht nur viel Geld kostet, sondern auch viele Flüchtlinge ihr Leben bei dem Versuch verlieren, nach Europa zu gelangen. Seit 2000 sollen es ca. 29.000 gewesen sein (laut Migrants Files). Die meisten ertranken bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.

Donnerstag, 25. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Außenpolitik, europäische Einigung

Die Außenbeziehungen der westeuropäischen Staaten sind und waren sehr komplex. Allgemeine Urteile lassen sich schwer fällen, da jedes Land eigene Traditionen hat und die EU bisher keine gemeinsame Außenpolitik macht, so dass letztlich jedes Land eigene Akzente setzen kann. Die meisten westeuropäischen Länder gehören der NATO an, aber manche (wie etwa Norwegen oder die Schweiz) sind auch neutral. Die wichtigsten außenpolitischen Veränderungen, die Westeuropa seit 1970 betrafen, waren die europäische Einigung und die Auflösung des Ostblocks.

Während die 50er und 60er Jahre noch vom "Kalten Krieg" gekennzeichnet waren, der Europa und die Welt mehrmals an den Rand eines Atomkriegs brachte (insbesondere in der Kuba-Krise 1962), entspannte sich das Verhältnis zwischen West und Ost um 1970. In der Bundesrepublik regierte seit 1969 die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt, der mit der so genannten "Ostpolitik" mehrere bilaterale Verträge mit Warschauer Pakt-Staaten schloss, 1970 mit der UdSSR und mit Polen, 1972 mit der DDR und 1973 mit Tschechien. Hinzu trat das 1971 geschlossene Viermächteabkommen über Berlin. Erst mit diesen Verträgen war die Nachkriegsordnung auf ein sicheres Fundament gestellt, die Bundesrepublik verzichtete auf alle Gebietsansprüche und akzeptierte die nach dem Krieg entstandenen Grenzen. Auch das Verhältnis zwischen den Supermächten verbesserte sich, 1969 begannen die Rüstungskontrollverhandlungen SALT (Strategic Arms Limitation Talks) und START (Strategic Arms Reduction Talks, ab 1982), die, nach zum Teil langwierigen Verhandlungen, zu mehreren Abkommen führten: SALT I 1972 (Begrenzung der Zahl der Interkontinentalraketen, Verbot der Raketenabwehrsysteme), SALT II 1979 (Begrenzung der Zahl der strategischen Atomwaffen, einschließlich Bomber und Sprengköpfe; aber nicht vom US-Senat ratifiziert), START 1991 (Reduktion der strategischen Atomwaffen auf 1600 Trägersysteme mit 6000 Sprengköpfen). 1987 wurde der INF-Vertrag geschlossen, der die "doppelte Nullösung" für Mittelstreckenraketen in Europa brachte, und noch 2002 schlossen die USA und Russland (als Nachfolger der Sowjetunion) ein Abkommen, das die Zahl der strategischen Atomwaffen weiter reduzierte (auf 2200 Sprengköpfe).

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze kam es 1979 zu neuen Spannungen zwischen den Supermächten. Anlass war die sowjetische Invasion in Afghanistan, die zu einer neuen Eiszeit führte (wechselseitiger Boykott der Olympischen Spiele 1980 und 1984). Der sowjetischen Invasion wurden andere Motive unterstellt als sie wohl existierten, z.B. ein Zugang zu den ölreichen Gebieten des Mittleren Ostens. Ebenfalls 1979, aber nicht als Reaktion auf die Vorgänge in Afghanistan, fasste die NATO den so genannten "Doppelbeschluss", der die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Marschflugkörper (Cruise Missiles) in Europa vorsah, aber auch ein Gesprächsangebot an die Sowjetunion enthielt (daher Doppelbeschluss). Die Raketen wurden Anfang der 80er Jahre gegen den massiven Widerstand der westeuropäischen Friedensbewegung stationiert, aber nach dem INF-Vertrag 1987 wieder abgezogen bzw. vernichtet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte in der Sowjetunion bereits der Wandel eingesetzt, der mit dem Namen Michail Gorbatschow und den Begriffen "Glasnost" (Offenheit, Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) verbunden ist. Gorbatschow, der eine bis dahin eher unauffällige Parteikarriere gemacht hatte, wurde 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Sein Reformprogramm begann aber erst Anfang 1986 mit der Einführung von Meinungsfreiheit ("Glasnost") bzw. 1987 mit Wirtschaftsreformen ("Perestroika"). Sein Ziel war keineswegs die Abschaffung des Sozialismus, sondern dessen Verbesserung. Der Hintergrund ist in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion und anderer RGW-Staaten seit den späten 70er Jahren zu suchen. Viele hatten westliche Kredite aufgenommen, die sie nur schwer wieder zurückzahlen konnten. Polen war 1981 praktisch zahlungsunfähig. Als Gorbatschow in mehreren Äußerungen 1988 andeutete, dass die sozialistischen Länder ihren Weg frei wählen könnten, die Sowjetunion also im Fall von Reformen anders als noch 1968 nicht militärisch intervenieren würde, war die Voraussetzung für die demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa von 1989-91 geschaffen. Die meisten blieben friedlich, nur in Rumänien und in Jugoslawien kam es zu Gewalt. Das Tempo des Übergangs hing zum Teil von der regierenden kommunistischen Partei ab. In Polen und Ungarn suchten die Herrschenden frühzeitig den Dialog mit der Opposition, in Tschechien, Bulgarien oder der DDR hielten sie lange Zeit an ihrem Führungsanspruch fest und wurden in friedlichen Revolutionen im Herbst 1989 entmachtet. Die Sowjetunion selbst löste sich nach einem gescheiterten Putsch im August 1991 auf.

Die Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa war ein wichtiger Einschnitt in der europäischen Geschichte. Sie verstärkte durch die Auflösung des RGW die bereits vorhandenen Globalisierungsprozesse. Die Einführung der Demokratie verlief in den meisten Staaten (außer Weißrussland, Jugoslawien, der Ukraine oder Russland) erstaunlich problemlos. Dafür mussten alle ehemals sozialistischen Staaten ihr Wirtschaftssystem komplett umstellen und gingen durch eine Transformationskrise in den frühen 90er Jahren, die aber bald von einem Aufschwung abgelöst wurde, der vor allem von ausländischen Direktinvestitionen getragen war. Insofern gehören die mittel- und osteuropäischen Staaten zu den Gewinnern der Globalisierung. Trotz dieser Erfolge bleiben als Schattenseite die teils drastischen Einschnitte in den Sozialsystemen in der Transformationsphase.

Ausländische Direktinvestitionen in Mrd. US $, aus: Helga Schultz, Transformation 1

Auch darf nicht übersehen werden, dass nach 1990 der konventionelle Krieg nach Europa zurückkehrte, was bis dahin angesichts der Konfrontation der Atommächte für kaum vorstellbar galt. Zwischen 1991 und 1999 wurden im zerfallenden Jugoslawien mehrere primär ethnisch motivierte Kriege geführt (Zehntagekrieg in Slowenien 1991, Kroatienkrieg 1991-95, Bosnienkrieg 1992-95, Kosovokrieg 1998/99), in die auch die NATO nach langem Zögern eingriff. Auslöser für die zum Teil äußerst brutal geführten Kriege (ethnische Säuberungen, Massaker von Srebrenica im Juli 1995) waren ungelöste Minderheitenprobleme: der Serben in Kroatien, der Serben und Kroaten in Bosnien sowie der Albaner im zu Serbien gehörenden Kosovo.

Für mehr Stabilität in Mittel- und Osteuropa sollte die NATO-Osterweiterung sorgen, die 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn) bzw. 2004 (Slowenien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien) erfolgte. Heute, im Kontext der Ukraine-Krise, wird die NATO-Osterweiterung manchmal als Bruch der Zusagen gewertet, die westliche Politiker der Sowjetunion im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit 1990 gaben. In der Tat gab es wohl mündliche Aussagen in diese Richtung, sie wurden aber nie schriftlich fixiert (Sarotte).

Auch die Europäische Union (EU) nahm nach 1990 mehrere mittel- und osteuropäische Staaten auf (siehe Karte).


Quelle: www.europarl.europa.eu


 Insgesamt ist die Geschichte der EU und ihrer Vorgänger (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, Europäische Gemeinschaft, EG) eine Geschichte der zunehmenden Integration und Erweiterung, allerdings nicht ohne Rückschläge. In den 50er Jahren scheiterte das Projekt einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG), in den 60er Jahren scheiterte eine Aufnahme Großbritanniens am hartnäckigen Widerstand der damaligen französischen Regierung, und in den 80er Jahren kämpfte die britische Regierung letztlich erfolgreich für eine Ermäßigung ihrer Beiträge ("Britenrabatt" 1984). Den Kern der EG bzw. EU machten die sechs Gründungsmitglieder der EWG (1957) aus: Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder. 1973 traten Dänemark, Großbritannien und Irland bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien und 1995 Österreich, Schweden und Finnland. In Westeuropa fehlten damit außer einigen Zwergstaaten nur die Schweiz, Norwegen und Island.

Parallel zur geographischen Ausweitung erhielt die EU immer neue Kompetenzen und musste angesichts der zunehmenden Mitgliederzahl auch die Prozeduren zur Entscheidungsfindung reformieren. Ursprünglich war im entscheidenden Gremium, dem Rat (in dem je ein Vertreter jedes Landes saß) Einstimmigkeit vorgesehen. Schon in den späten 80er Jahren, als es darum ging, den europäischen Binnenmarkt zu schaffen (Vertrag von Maastricht 1992), wurden zunehmend qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eingeführt. Parallel stiegen die Befugnisse des 1979 erstmals direkt gewählten Europäischen Parlaments. Seit 2009 (Vertrag von Lissabon) ist im Rat eine doppelte Mehrheit nötig (55 % der Staaten, die zusammen 65 % der Bevölkerung repräsentieren).

Die EWG war lange Zeit wenig mehr als eine Freihandelszone mit einem Ausgleich für die Landwirtschaft ("Gemeinsame Agrarpolitik" seit 1962), der den Strukturwandel in diesem Bereich abfedern sollte. Die Abschaffung der Zölle wurde nach 1957 schrittweise verwirklicht. Einen neuen Integrationsschub gab es erst mit dem 1992 verwirklichten EU-Binnenmarkt, der über eine Freihandelszone hinaus ging und die vier Freiheiten (der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen und der Arbeitskräfte) umfasste. Im Kern ging es um die Abschaffung so genannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, was die Harmonisierung vieler Vorschriften oder die gegenseitige Anerkennung (was in einem EG-Land erlaubt ist, darf in einem anderen nicht verboten sein) mit sich brachte. Dennoch blieb der EU-Haushalt lange Zeit von den Agrarausgaben dominiert. Erst nach und nach wuchs der Anteil der so genannten Strukturfonds, die vor allem strukturschwache Regionen in Europa fördern sollten.


Nicht alle Länder der EU wollten alle Integrationsschritte mitgehen. Daher kam es seit den 90er Jahren zunehmend zu einer differenzierten Integration: So wurden zwar im Schengener Abkommen die Grenzkontrollen zwischen den beteiligten Ländern, nicht aber an den EU-Außengrenzen, abgeschafft, aber nicht alle EU-Staaten traten diesem Abkommen bei (z.B. Großbritannien und Irland), dafür umfasst der Schengen-Raum auch Nichtmitglieder der EU (Norwegen, Schweiz, Island). Die Einführung des Euro (als Verrechnungseinheit 1999, als Bargeld 2002) beschränkte sich ebenfalls auf zuerst 11, mittlerweile 19 der 28 EU-Staaten. In Westeuropa fehlen allerdings nur Großbritannien und Dänemark.

Insgesamt war die EU bis zur Eurokrise eine Erfolgsgeschichte. Die Mischung aus wirtschaftlicher Integration, von der wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland profitierten, und Strukturbeihilfen für schwächere Länder machte sie für viele Länder attraktiv. In der Eurokrise zeigte sich jedoch, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ein Strukturfehler ist. Das bedeutet nicht unbedingt, dass der Euro gescheitert ist, aber es gibt sicher Nachbesserungsbedarf. Trotz aller Probleme ist die europäische Integration eine insgesamt vernünftige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die europäischen Unternehmen profitieren von dem größeren Binnenmarkt und schwächere Regionen bekommen die Chance, durch Investitionen in Bildung oder Infrastruktur ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Zu verkennen ist aber auch nicht, dass das gemeinsame europäische Bewusstsein immer noch recht schwach ausgeprägt ist und viele Länder (arme wie reiche) primär wegen der wirtschaftlichen Vorteile EU-Mitglieder sind.






Montag, 22. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Innenpolitik, Parteiensysteme

In der Innenpolitik gab es seit 1970 in Westeuropa zwei große Trends: erstens die Durchsetzung der Demokratie in den (südeuropäischen) Ländern, wo dies 1970 noch nicht oder nicht mehr der Fall war; zweitens die Abnahme der Parteienbindungen und, damit verbunden, die Fragmentierung des Parteiensystems (oft auch als "Krise der Volksparteien" bezeichnet). Einen Sonderfall bildete Italien, wo, ausgelöst durch einen Korruptionsskandal, 1992/93 das gesamte Parteiensystem eine grundlegende Umgestaltung erfuhr ("Zweite Republik").

Die Demokratisierung in Südeuropa war Teil eines globalen Trends zur Demokratie, der so genannten "Dritten Welle" (Samuel Huntington). Nach den südeuropäischen Ländern gingen in den 70er und 80er Jahren mehrere lateinamerikanische und asiatische Länder zur Demokratie über, und 1989-91 folgten die mittel- und osteuropäischen Staaten.

Quelle: Jørgen Møller, Sved-Erik Skaanen, The Third Wave: Inside the Numbers, in: Journal of Democracy 2013


Unterhalb dieser allgemeinen Gemeinsamkeiten gab es aber in der Transformation ganz erhebliche Unterschiede von Land zu Land. In Griechenland regierte das Militär nur eine kurze Zeit, von 1967-73. Die Militärregierung verfügte von vornherein nicht über eine große Legitimationsbasis und musste auf internationalen Druck und im Angesicht der Zypern-Krise den Weg für die Demokratie freimachen. Die anderen beiden Diktaturen in Portugal  und Spanien stammten noch aus der Zwischenkriegszeit, stellten aber eher konservativ-autoritäre als genuin faschistische Diktaturen dar. Immerhin hatten sie genug Zeit gehabt, eine eigene Legitimationsbasis aufzubauen. Allerdings wuchs mit der Durchsetzung der Demokratie in Westeuropa nach 1945 und dem Erfolg der EWG der äußere Druck, zur Demokratie überzugehen. In Spanien ging der Anstoß von Teilen des alten Regimes aus. Diktator Franco hatte den spanischen König Juan Carlos zu seinem Nachfolger ausgewählt. Dieser leitete nach dem Tod Francos 1975 aber den Übergang zur Demokratie ein. Der Vorteil dieses verhandelten Übergangs war seine friedliche Natur, der Nachteil bestand im Verzicht auf die Aufarbeitung des unter Franco geschehenen Unrechts. In Portugal dagegen wurde die Diktatur durch eine Revolution, die so genannte "Nelkenrevolution" vom April 1974, abgelöst. Sie ging von unzufriedenen Offizieren der Armee aus, die ihrerseits in den afrikanischen Kolonien (Angola und Mosambik) in einen aussichtslosen und zermürbenden Krieg verwickelt war. Die Revolution ging aber rasch über einen bloßen Militärputsch hinaus und erreichte eine populäre Mobilisierung. Der Beitritt der neuen Demokratien zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte in den 80er Jahren: Griechenland 1981, Spanien und Portugal 1986. Er dürfte die Demokratie in den genannten Ländern weiter stabilisiert haben.

Die Demokratie in Italien konnte dagegen auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken, als sie zu Beginn der 90er Jahre in eine existentielle Krise geriet. Das italienische Parteiensystem nach dem Krieg war gekennzeichnet durch zwei große (Christdemokraten und Kommunisten) und mehrere kleine Parteien. Die Kommunisten waren aus außenpolitischen Gründen von der Regierungsbildung (auf nationaler Ebene) ausgeschlossen, so dass die Christdemokraten de facto eine Hegemonialstellung inne hatten und von 1945 bis 1981 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellten. Auslöser der Transformation zu Beginn der 90er Jahre waren staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zur Korruption in Mailand, die rasch ein großes Netzwerk von Korruption und illegaler Parteienfinanzierung aufdeckten. Besonders betroffen waren die Christdemokraten und die Sozialisten. Hinzu kamen ein durch den Zusammenbruch des Ostblocks angestoßener Wandlungsprozess der Kommunisten sowie eine Wahlrechtsänderung 1993, die die in Italien übliche Zersplitterung des Parteiensystems begrenzen sollte. In der Folge bildeten sich neue Parteien und Parteienbündnisse wie "Forza Italia", die Demokratische Linkspartei oder der "Olivenbaum". Seitdem wird Italien meist von breiten, aber instabilen Parteienbündnissen beherrscht, die unter wechselnden Namen antreten und politisch entweder Mitte-rechts oder Mitte-links einzuordnen sind.

Größere Stabilität haben die Veränderungen allerdings nicht gebracht. Die italienischen Parteien sind stärker als in Deutschland auf einzelne Personen zugeschnitten (z.B. Silvio Berlusconi). Sie lassen sich nur sehr bedingt den bekannten europäischen Parteienfamilien (Konservative, Christdemokraten, Liberale, Sozialdemokraten) zuordnen. Die stärksten Parteien sind im Moment: erstens die Demokratische Partei (u.a. Matteo Renzi), die ungefähr der europäischen Sozialdemokratie entspricht, aber auch ehemalige Christdemokraten aufgenommen hat; zweitens die "Forza Italia" (Silvio Berlusconi), die eher konservativ-christdemokratisch ausgerichtet ist; drittens die "bürgerliche Wahl (scelta civica)" (Mario Monti), die christdemokratisch-liberal orientiert ist; und viertens die euroskeptische Protestpartei "5 Sterne-Bewegung" (Beppe Grillo).

Insgesamt sind die europäischen Parteiensysteme sehr unterschiedlich, bedingt durch die verschiedenen historischen Traditionen und die verschiedenen Wahlsysteme. Es sind auch keine Tendenzen zur Angleichung erkennbar. Formale Kategorien wie die Zahl der Parteien helfen nicht wirklich weiter. In den 50er und 60er Jahren dominierten in allen außer den skandinavischen Ländern die Christdemokraten bzw. Konservativen, auch wenn sie sich wechselnde Koalitionspartner suchen mussten. Seit den 70er Jahren sind die Systeme in Bewegung geraten, auch wenn ein totaler Bruch wie in Italien noch immer die Ausnahme darstellt. Ein genereller Trend ist aber die Abnahme langfristiger Bindungen an eine Partei und damit ein Anwachsen der Wechselwähler. Die Verlierer waren zunächst die großen Parteien (Christdemokraten, Sozialdemokraten, Konservative), in der Grafik am Beispiel Deutschlands dargestellt.

Quelle: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

In der Bundesrepublik Deutschland konnten die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD in den 70er Jahren noch ca. 80 % der Wähler für sich mobilisieren, mittlerweile ist ihr Anteil unter 50 % gesunken. Zugenommen hat nicht nur der Anteil der Wähler kleinerer Parteien (Grüne, Linkspartei), sondern auch der Nichtwähler. Die Wahlbeteiligung ist allerdings in den einzelnen europäischen Ländern sehr verschieden, und ein niedriger Wert bedeutet nicht unbedingt eine Gefahr für die Demokratie.

In den meisten europäischen Ländern ist nicht nur der Stimmanteil der großen Volksparteien  rückläufig, sondern auch deren Mitgliederzahl. Wichtiger erscheint aber der Aufstieg neuer Parteien, die offensichtlich aus einem Wählerreservoir schöpfen, das von den großen Volksparteien nicht mehr erreicht wird. Insbesondere betrifft das zwei neue Parteifamilien, die erst seit den 70er und 80er Jahren eine wichtige Rolle spielten und die Parteiensysteme mehrerer Länder zunehmend veränderten. Gemeint sind zum einen die grün-alternativen und zum anderen die rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien.

Spektakuläre Erfolge erzielten in den vergangenen Jahren immer wieder rechtspopulistische Parteien, zuletzt vor wenigen Tagen (18. Juni 2015)  in Dänemark, wo die Dänische Volkspartei mit 21,1 % der Stimmen zweitstärkste Partei wurde. Solche Erfolge sind nicht auf Dänemark beschränkt. 2014 wurde der "Front National" in Frankreich mit 26 % stärkste Partei bei den Europawahlen, und bei denselben Wahlen erreicht die euroskeptische UKIP ("United Kingdom Independence Party") in Großbritannien 28 % und wurde stärkste britische Partei.

In Deutschland waren in den 80er Jahren die Republikaner erfolgreich, später die rechtsextreme NPD und neuerdings die "Alternative für Deutschland" (AfD). In Deutschland hat sich bisher keine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei dauerhaft auf Bundesebene etablieren können, aber das Wählerpotential ist zweifellos vorhanden. In Österreich wurde die an sich klassisch liberale FPÖ bereits in den 80er Jahren von Jörg Haider in eine rechtspopulistische Partei überführt. Die Folge waren dramatische Stimmengewinne: von ungefähr 5 % stieg der Anteil auf zeitweise 27 %, bevor sich die FPÖ spaltete.

Quelle: Wikimedia Commons
 Das Hauptthema der rechten Parteien ist die Zuwanderung. Sie sind prinzipiell immigrationsfeindlich, auch wenn sich das in unterschiedlichen Formen zeigt: mal als Abneigung gegen Europa wie bei der UKIP, mal als Abneigung gegen den Islam wie bei der niederländischen Freiheitspartei, ja sogar als Separatismus wie bei der Lega Nord in Italien. Der Aufstieg dieser rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien ist somit eine direkte Folge der Globalisierung und der damit verbundenen Zuwanderung. Ihre Wähler sind zum einen die so genannten Modernisierungsverlierer, die besser Globalisierungsverlierer genannt werden sollten, nämlich die gering qualifizierten Arbeiter. Die FPÖ ist mittlerweile die stärkste Partei bei den österreichischen Arbeitern und Lehrlingen. Die Arbeiter sind ökonomisch besonders von der Globalisierung betroffen, denn erstens war lange Zeit der Großteil der Zuwanderer (in den meisten Ländern) ebenfalls gering qualifiziert, stellte also eine direkte Konkurrenz dar. Zweitens sind die Arbeitsplätze der gering Qualifizierten am stärksten von der Globalisierung, also der Verlagerung von industrieller Fertigung in andere Länder, bedroht. Die andere Wählergruppe der Rechtsparteien gehört der Mittelschicht an und ist meist selbst nicht unmittelbar von der Globalisierung bedroht. Auch der häufig zu hörende Verweis auf diffuse Abstiegsängste der Mittelschicht trägt zur Erklärung wenig bei. Vielmehr scheint es sich bei diesen Wählern schlicht um Wohlstandschauvinisten zu halten, die Zuwanderer (insbesondere Flüchtlinge) primär als Belastung für die Sozialsysteme wahrnehmen und sie daher ablehnen. Daher stammen die Ressentiments gegen "Scheinasylanten" und "Wirtschafsflüchtlinge", die sachlich allerdings meist wenig fundiert sind. Rechtspopulistische Parteien finden sich mittlerweile in fast allen europäischen Ländern. Ihr Erfolg hängt stark von kontingenten Faktoren wie Persönlichkeiten oder aktuellen Themen ab, aber ihr Potential liegt mit Sicherheit bei einem Viertel bis einem Drittel der Wählerschaft.

Auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums, nämlich überwiegend links, finden sich seit den 80er Jahren zunehmend grün-alternative Parteien. Direkt oder indirekt sind sie Ergebnis der neuen sozialen Bewegungender 70er Jahre. Ihr Hauptthema dürfte bei allen Unterschieden die Umweltproblematik sein. Die erste in Europa erfolgreiche Partei waren die deutschen Grünen, die daher eine gewisse Vorbildfunktion für andere grüne Parteien hatten. Seit den 90er Jahren waren mehrere grüne Parteien als Juniorpartner in Regierungen vertreten, u.a. in Deutschland, Frankreich, Italien oder Irland

Quelle: www.ngo.bham.ac.uk

Die grünen Parteien sind allerdings in Nordeuropa (vor allem in Mitteleuropa und Skandinavien) eindeutig stärker als in Südeuropa. Die Wähler der grünen Parteien haben meist ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, wohnen in großen Städten und sind im Dienstleistungsbereich (besonders im öffentlichen Dienst) beschäftigt. Es sind mithin keine Globalisierungsverlierer, sondern Angehörige meist relativ gut geschützter Berufe, die sich weniger um die ökonomische Globalisierung an sich als vielmehr um deren ökologische Auswirkungen Sorgen machen. Ihr Erfolg hängt von verschiedenen Faktoren ab, so z.B. vom Wahlsystem oder der Aufmerksamkeit, die die etablierten Parteien der Umweltproblematik widmen. Ob sich allerdings die grünen Parteien zu großen Volksparteien wandeln können, ist doch eher fraglich.

Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass unter dem Eindruck der Eurokrise der letzten Jahre populistische Parteien von rechts und links Auftrieb bekommen haben. Das ist an sich nichts Überraschendes. In wirtschaftlichen Krisenzeiten besteht immer eine Neigung zur Wahl populistischer Parteien, die einfache Lösungen für die gegenwärtige Krise anbieten. Im europäischen Kontext ist besonders interessant, dass es hier offenbar eine Polarisierung zwischen (vorwiegend nordeuropäischen) Geberländern und (vorwiegend südeuropäischen) Nehmerländern gibt: in der ersten Gruppe haben die erwähnten rechtspopulistischen Parteien Erfolg, in der zweiten die linkspopulistischen wie "Syriza" in Griechenland, "Podemos" in Spanien oder die 5-Sterne-Bewegung in Italien. Der Aufsteig dieser Parteien bildet eine direkte Reaktion auf die Eurokrise und die von europäischen Institutionen (und dem IWF) verordneten Sparprogramme. Zu hoffen bleibt, dass das nur ein kurzzeitiger Effekt ist, der mit dem Abflauen der Krise verschwindet.

Ergebnisse der Europawahl 2014; Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung


Donnerstag, 11. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Umweltbewegung und Umweltpolitik

Umweltprobleme an sich waren nichts Neues in den 70er Jahren, aber dennoch sehen die meisten Umwelthistoriker in der Zeit um 1970 einen Einschnitt, wahlweise als "ökologische Revolution" (Frank Uekötter", "Ära der Ökologie" (Joachim Radkau) oder "1970er Diagnose" (Patrick Kupper) bezeichnet. Neu war weniger der Umweltschutz an sich, den hatte es auch schon in der Naturdenkmalpflege und der Heimatschutzbewegung um 1900 gegeben. Aber neu war doch die Massenmobilisierung und Politisierung des Themas. Neue Organisationen wurden gegründet (Friends of the Earth 1969, Greenpeace 1971, Robin Wood 1982), die andere Aktionsformen verwendeten als die klassische Lobbyarbeit. Auch die Umweltpolitik als eigenständiges Politikfeld entstand um 1970: in den USA wurde 1970 unter Präsident Nixon die Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency) gegründet, in der Bundesrepublik wurde 1969 eine Abteilung für Umweltschutz im Bundesinnenministerium eingerichtet und selbst die DDR bekam 1971 ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Andere Umweltministerien auf nationaler Ebene wurden ebenfalls in den 70er und 80er Jahren eingerichtet: in Großbritannien 1970, in Frankreich 1971, in Norwegen 1972, in Italien 1981, in den Niederlanden 1982, in der Bundesrepublik 1986, in Schweden 1987 etc.

Warum die moderne Umweltschutzbewegung um 1970 entstand, und inwiefern sie sich von ihren Vorläufern unterschied, ist in der Forschung nach wie vor Gegenstand von Diskussionen. Sicher ist, dass Umweltthemen noch in der 68er-Bewegung keine Rolle spielten und die Bewegung aus den USA kam, wo schon im Frühjahr 1970 der erste "Earth Day" mit vielen öffentlichkeitswirksamen Aktionen begangen wurde. Eine der Gründerfiguren der amerikanischen Umweltbewegung war die Biologin Rachel Carson, die 1962 ein alarmierendes Buch über die Auswirkungen des Insektizids DDT ("Der stumme Frühling") veröffentlichte, in dem sie die Anreicherung von DDT in der Nahrungskette problematisierte und vor einem großen Vogelsterben warnte. In gewisser Weise ist dies symptomatisch für die Umweltschutzbewegung: sie wird stark von Wissenschaftlern und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dominiert, sie gewinnt Aufmerksamkeit mit einem gewissen Alarmismus (der manchmal gerechtfertigt ist, aber manchmal auch nicht), und sie thematisiert im Sinne der "Ökologie" (eigentlich ein Spezialgebiet der Biologie) den Zusammenhang bzw. das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Lebewesen. Die Grundidee der Ökologie ist, dass es im Prinzip ein Gleichgewicht in der Natur gibt, das auf Störungen empfindlich reagiert. Solche Gedanken waren dem Naturschutz um 1900 noch fremd.

Die Themen des Umweltschutzes sind zu vielfältig, um hier ausführlich behandelt zu werden. Eine besonders stark polarisierende Debatte betraf die Atomenergie (Atomkraft, Kernkraft). Die Anti-AKW-Bewegung lässt sich nicht sinnvoll von der Umweltbewegung trennen. Die Atomenergie galt in den 50er und 60er Jahren als die Energieform der Zukunft. Der Bau der Atomkraftwerke für die zivile Nutzung setzte jedoch erst in den 70er Jahren ein und traf auf den Widerstand der entstehenden Anti-AKW-Bewegung, wie 1975 im badischen Wyhl. Auch in Frankreich und Spanien fanden 1977 große Anti-AKW-Demonstrationen statt. Die Bedenken richteten sich meist gegen die Gefahr von Unfällen, bisweilen auch auf die Strahlung im Normalbetrieb und das Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Durch die Unfälle von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 wurden die Befürchtungen der Gegner bestätigt, dass ein Unfall mit Kernschmelze und massiver Freisetzung von Radioaktivität möglich ist. Mehrere Staaten beschlossen den Ausstieg  aus der Atomenergie oder den Nichteinstieg in dieselbe: 1978 Österreich, 1985 Dänemark, 1987 Italien, 2000 Deutschland, 2003 Belgien, 2011 die Schweiz. Andere Staaten, darunter Großbritannien, Frankreich, die USA, die Türkei oder Japan, halten an der Atomenergie fest oder wollen deren Anteil an der Stromerzeugung noch ausbauen.

Quelle: Eurostat
 Die Umweltbewegung war zwar von Beginn an international, jedoch konnten lokal oder regional auch besondere Themen in den Vordergrund treten. Besonders deutlich wurde dies zu Beginn der 80er Jahre mit dem so genannten "Waldsterben", das nur im deutschsprachigen Raum ein Thema war und mittlerweile als Lehnwort Eingang in die französische und englische Sprache gefunden hat. Der Hintergrund war, dass um 1980 tatsächlich neuartige Waldschäden in deutschen Wäldern auftraten, für die man bis dahin keine ausreichende Erklärung hatte (und deren Ursache noch immer umstritten ist). Der Forstwissenschaftler Bernhard Ulrich und andere Wissenschaftler führten diese Schäden auf den "sauren Regen" und damit indirekt auf die Luftverschmutzung mit Schwefeldioxid zurück. Sie prognostizierten ein großflächiges Absterben der Wälder, sollte die Luft nicht besser werden. Popularisiert wurde diese These vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im November 1981. Die Prognose erfüllte sich nicht, der Zustand des Waldes blieb seit Mitte der 80er Jahre ungefähr stabil. Umstritten ist, ob dies auf die Maßnahmen zur Luftreinhaltung (v.a. Einbau von Entschwefelungsanlagen) zurückzuführen ist, oder ob die Prognose von Beginn an überzogen war. Vieles spricht für letzteres, denn ein großflächiges Waldsterben ist in Europa auch anderswo nicht vorgekommen.


Solche falschen Alarme lassen sich nicht immer vermeiden, erweisen aber der Sache des Umweltschutzes letztlich einen Bärendienst: Sie führen dazu, dass selbst ernstzunehmende Warnungen aus der Wissenschaft nicht geglaubt werden. In Umfragen (2010) glaubten 31 % der Deutschen und 25 % der Briten nicht an eine Erwärmung der Erde, wie sie von den Klimaforschern prognostiziert wird (Spiegel, BBC). Dabei ist der Klimawandel wissenschaftlich mittlerweile wesentlich besser erforscht als es das Waldsterben 1981 war. Aber das ist genau das Problem bei vielen heutigen Umweltproblemen: dass sie sich der alltäglichen Wahrnehmung entziehen und nur mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen zu erkennen sind.

Der Klimawandel ist bisher noch kein allzu großes Problem, könnte es aber in der Zukunft werden. Die globale Durchschnittstemperatur ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts um ca. 0,8 °C gestiegen. Der weitere Anstieg hängt nach den Berechnungen des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) von der zukünftigen Emission von Treibhausgasen (hauptsächlich CO2) ab. Das von Politikern angegebene Ziel der Begrenzung des Anstiegs auf 2 °C setzt eine bedeutende Reduktion der globalen CO2-Emissionen voraus.

Quelle: IPCC
Die Folgen des Klimawandels für Europa wären voraussichtlich: ein weiteres Abschmelzen der Gletscher mit einer erhöhten Bergrutschgefahr; eine Zunahme von Hitzewellen und ein Rückgang von Kältewellen; ein Anstieg des Meeresspiegels; und eine Zunahme von Starkregen und Hochwasser in den Flüssen.

Trotz aller nach wie vor existierender Probleme sollte aber nicht übersehen werden, dass der Zustand der Umwelt in Europa sich insgesamt seit 1970 deutlich verbessert hat, teilweise durch neue Gesetze und Verordnungen, teilweise durch das allgemein gestiegene Umweltbewusstsein, teilweise auch durch die Deindustrialisierung. So nahm die SO2-Belastung der Luft im Ruhrgebiet seit Mitte der 80er Jahre deutlich ab (siehe Diagramm).

Quelle: Landesumweltamt Nordrhein-Westfalen

Auch die Wasserqualität des Rheins hat sich deutlich verbessert. In den 60er und 70er Jahren war der Sauerstoffgehalt des Flusses so niedrig, dass viele Tierarten darin nicht mehr leben konnten. Eine Erholung zeichnete sich auch hier seit den 80er Jahren ab. Mittlerweile sollen sogar wieder Lachse gesichtet worden sein. Das zeigt, dass internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes funktionieren kann.

Quelle: Internationale Kommission zum Schutz des Rheins
Auch in Zukunft werden sich die wichtigen Umweltprobleme wie der Klimawandel nur durch internationale Zusammenarbeit lösen lassen, da sie nicht mehr nur lokaler Natur sind. In früheren Zeiten reichte es oft schon, die Schornsteine höher zu bauen, um die Abluft und die darin enthaltenen Schadstoffe besser zu verteilen. Heute geht es darum, nachhaltiges Wachstum zu erreichen, also Wachstum, das langfristig nicht seine eigenen Grundlagen zerstört, und das auf globaler Ebene.

Freitag, 5. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Bildung und Wissensgesellschaft

"Wissensgesellschaft" ist seit einiger Zeit eines der beliebtesten Schlagwörter der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion. Es trat an die Stelle des enger gefassten Begriffs der "Informationsgesellschaft", der sich lediglich auf den Aufstieg der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und dessen gesellschaftliche Folgen bezog. Demgegenüber ist der Begriff der "Wissensgesellschaft" breiter angelegt. Manche Soziologen wie Nico Stehr sehen in der "Wissensgesellschaft" analog zur "Dienstleistungsgesellschaft" oder zur "post-industriellen Gesellschaft" (Daniel Bell) eine Gesellschaftsformation, die an die Stelle der älteren Industriegesellschaft tritt. Nach Stehr ist die Wissensgesellschaft durch vier Merkmale gekennzeichnet: erstens wird Wissen zur wichtigsten ökonomischen Ressource (wichtiger als die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden); zweitens findet darüber hinaus eine Verwissenschaftlichung aller Bereiche der Gesellschaft statt: wissenschaftliches Wissen wird "Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns in allen Bereichen"; drittens schlägt sich das in der Zunahme wissensintensiver Dienstleistungen nieder; viertens schließlich verändert sich auch die Form der Wissensproduktion: wissenschaftliches Wissen wird nicht mehr nur an Universitäten und anderen Forschungsinstituten betrieben, sondern die Grenzen zur Gesellschaft wie zwischen den Disziplinen werden durchlässiger: wissenschaftliches Wissen wird plural, interdisziplinär und offen.

Soweit die Theorie. Wie sehen die empirischen Befunde aus? Was zunächst den Theoretikern der Wissensgesellschaft recht zu geben scheint, ist die Bildungsexpansion, und insbesondere die wachsende Bildungsbeteiligung im tertiären Sektor (Hochschulen). Hierbei handelt es sich um einen säkularen Prozess, dessen Anfang schwer zu bestimmen ist. 1910 und auch noch 1950 lag der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen im einstelligen Prozentbereich. Seit den 50er Jahren stieg er in allen Ländern Westeuropas an, in einige Ländern schneller, in anderen langsamer. Der Ansteig war auch nicht auf die 60er und 70er Jahre beschränkt, sondern ging danach weiter, zum Teil bis heute. Bereits 1995 war der Anteil der Studierenden an der Gruppe der 20-24jährigen in Europa auf 42 % gewachsen.

Anteil der Studierenden an den 20-24jährigen; Quelle: Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007

Quelle: Eurydice, Der Europäische Hochschulraum im Jahr 2012
Gegenüber dieser allgemeinen Tendenz zur Expansion treten die länderspezifischen Unterschiede tendenziell zurück. 2009 war der Hochschulbesuch, wie das Diagramm verdeutlicht, in Deutschland unterdurchschnittlich. Zu beachten ist dabei jedoch, dass hier der Zugang zu vielen Berufen über die duale Ausbildung erfolgt, wofür in manchen anderen Ländern ein Hochschulstudium vorausgesetzt wird (z.B. Hebammen, Krankenpfleger). Insofern senkt das an sich empfehlenswerte, weil praxisorientierte, duale System die Zahlen der tertiären Bildungsbeteiligung. Dennoch war die Bildungsbeteiligung in Deutschland nicht geringer als in Italien oder Großbritannien und nur etwas geringer als in Frankreich. In allen Ländern profitierten übrigens die Frauen mehr als die Männer, da gleichzeitig mit der Hochschulexpansion der Anteil der weiblichen Studierenden wuchs. In den 90er Jahren war die numerische Gleichheit mit den Männern erreicht. Allerdings studieren Frauen bis heute häufig andere, meist weniger lukrative Fächer als Männer.

Frauenanteil der Studierenden in %, 1950-95


Die Hochschulexpansion ist an und für sich zunächst positiv zu bewerten, denn höhere Bildung für viele (wenn nicht alle) heißt zumindest tendenziell, dass traditionelle Gegensätze zwischen einer kleinen Elite mit höherer Bildung und der Masse der Bevölkerung mit bloßer Elementarschulbildung verschwinden oder zumindest verringert werden. Der Anteil der Bevölkerung, der nur über Elementarschulbildung verfügt, ist deutlich zurückgegangen und liegt in den meisten europäischen Ländern unter 10 %. Ausnahmen bilden hier nur die südeuropäischen Länder Spanien (17 % 2012), Griechenland (21 %) und vor allem Portugal (42 %). Auch sollte höhere Bildung die Menschen dazu befähigen, ihre demokratischen Rechte besser und bewusster wahrzunehmen.

Dennoch schuf diese historisch beispiellose Expansion auch Probleme. Nicht zuletzt waren das Finanzierungsprobleme. Hochschulen kosten eine Menge Geld, und in den meisten europäischen Staaten werden diese Kosten ganz überwiegend vom Staat getragen. Der Übergang zu einer primär auf Studiengebühren beruhenden Finanzierung ist in den letzten Jahren in Großbritannien vollzogen worden, mit dem Ergebnis, dass das Studium dort für die Studierenden am teuersten ist. Im Zuge der Finanz- und Eurokrise sahen sich mehrere Staaten zu Kürzungen im Hochschulbereich gezwungen, z.B. Griechenland, Italien, Irland, Großbritannien oder Island. Generell sind die europäischen Universitäten im Vergleich zu den USA unterfinanziert: Dort wird pro Student mehr als das Doppelte ausgegeben, an den prestigeträchtigen Elite-Universitäten sogar noch deutlich mehr. Deutschland liegt in Europa im Mittelfeld, während die Ausgaben in Italien und Portugal noch einmal deutlich niedriger sind. In Deutschland sind die Grundmittel für die Hochschulen inflationsbereinigt seit 1995 in etwa gleich geblieben, während sich die Zahl der Studierenden um ca. 20 % erhöht hat.

Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012
Neben den Finanzierungsproblemen gibt es auch Stimmen, die vor einer Über-Akademisierung warnen. Die empirischen Befunde hierzu sind zwiespältig. Einerseits sind Hochschulabsolventen immer noch weitaus weniger von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt. Sie verdienen im Schnitt auch deutlich mehr. Individuell lohnt sich ein Studium also zumeist noch. Wenn man allerdings die so genannte "Bildungsrendite" (also den wirtschaftlichen Nutzen der Bildung) nach Fächergruppen aufschlüsselt, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Geistes- und sozialwissenschaftliche Absolventen verdienen nicht nur weniger als diejenigen anderer Fächer wie Medizin, Natur- oder Technikwissenschaften. In einigen Ländern wie Deutschland, Italien oder Frankreich ist die Bildungsrendite hier entweder Null oder sogar negativ, während sich in den USA oder Großbritannien auch Geisteswissenschaften durchaus noch lohnen.

Quelle: OECD


Sind solche Berechnungen schon mit Problemen behaftet, so ist es noch schwieriger, zuverlässige Aussagen über den Zusammenhang zwischen Hochschulexpansion und wirtschaftlicher Entwicklung zu machen. Zwar gibt es hier einen Zusammenhang in dem Sinne, dass in wohlhabenderen Ländern tendenziell auch mehr Menschen studieren, aber das heisst noch nicht, dass die bessere Ausbildung wirtschaftliches Wachstum erzeugt. Eher ist es wohl andersherum, dass es sich immer mehr Menschen schlicht leisten können, ein Studium aufzunehmen. Dass die Hochschulabsolventen dennoch höhere Einkommen erzielen, kann somit auch mit Verdrängungseffekten zusammenhängen, d.h. Arbeitgeber stellen lieber Hochschulabsolventen ein, auch wenn das für die ausgeschriebene Stelle nicht unbedingt notwendig wäre. Letztlich gibt es aber kein objektives Maß für den "richtigen" Akademikeranteil einer Gesellschaft.

Die Hochschulexpansion traf auf national ganz unterschiedliche Hochschulsysteme. In Frankreich existiert ein zentralistisches System, das an der Spitze von den "grandes ecoles" (Elitehochschulen) dominiert wurde. In England übernahmen die Universitäten Oxford und Cambridge lange Zeit diese Rolle, während in Deutschland und in Italien die Universitäten im Prinzip als gleich gut galten. Das Ideal war lange Zeit die Volluniversität, die weder inhaltliche Schwerpunkte setzte noch sich wesentlich in der Qualität der Ausbildung oder der Forschung von anderen Universitäten unterschied (in der Praxis war das natürlich immer schon anders). Seit 1999 veränderte der von den europäischen Ministern beschlossene Bologna-Prozess die europäische Hochschullandschaft und machte sie tendenziell einheitlicher. Der europäische Hochschulraum weist sogar über die EU hinaus und umfasst auch Länder wie Russland oder die Türkei. In allen Ländern wurde begonnen, das Studium in drei Stufen einzuteilen: eine meist dreijährige Grundstufe (Bachelor), ein zweijähriges Aufbaustudium (Master) und eine ebenfalls strukturierte Doktorandenausbildung (Ph.D. oder Promotion). Die Umsetzung ist mittlerweile schon recht weit gediehen, in den meisten Ländern studieren bereits über 90 % der Studenten nach dem neuen System. Nachzügler in Westeuropa sind Spanien und in geringerem Maße auch Deutschland. Widerstand gibt es in Deutschland vor allem bei ingenieurwissenschaftlichen Fächern, Medizin oder Staatsexamen, die aufgrund der angestrebten Studienzeitverkürzung eine Qualitätsverschlechterung befürchten. Insgesamt gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz der neuen Abschlüsse, was sich darin äußert, dass in einigen Ländern viele Studenten nach dem ersten Abschluss binnen kurzer Zeit ein weiterführendes Studium aufnehmen (z.B. Deutschland, Frankreich, Italien, Irland, Dänemark). In diesen Ländern ist das angestrebte Ziel der Studienzeitverkürzung somit nicht oder nur eingeschränkt erreicht worden. In anderen Ländern (vor allem Großbritannien, aber auch die Niederlande und Norwegen) scheint der Bachelor-Abschluss dagegen akzeptiert zu sein.

Quelle: Eurydice, Europäischer Hochschulraum 2012
Trotz der ambivalenten wirtschaftlichen Effekte der Hochschulexpansion hat die Theorie der "Wissensgesellschaft" einen wahren ökonomischen Kern. Es gibt nämlich in den USA mit dem "Silicon Valley" in Kalifornien ein Modellbeispiel für das Zusammenspiel von Forschungseinrichtungen (Stanford University), wirtschaftlichen Unternehmen und Staat. In dieser Region wurden einige der heute größten Firmen der Welt, vor allem in der Informationstechnologie, gegründet, z.B. Apple und Google, aber auch Cisco, HP, Yahoo und viele andere mehr. Der enorme wirtschaftliche Erfolg dieser Region hat weltweit und so auch in Europa Nachahmer auf den Plan gerufen. Politiker versuchten, durch geeignete Fördermaßnahmen ihr eigenes "Silicon Valley" zu initiieren. Als entscheidend wird die Konzentration von (naturwissenschaftlich-technischen) Forschungseinrichtungen in Kombination mit der Förderung kleiner, wissensbasierter Unternehmen ("start-ups") gesehen. So entstand in Europa eine Häufung von Hochtechnologie-Regionen, allein in Deutschland sollen es über 500 sein. Einigermaßen erfolgreich sind in Deutschland der Großraum München ("Isar Valley"), Dresden ("Silicon Saxony") oder das IT-Cluster Rhein-Main-Neckar (u.a. SAP), in Europa beispielsweise Cambridge oder Paris. Aber auch Städte wie Berlin, Dublin, Enschede oder Tallinn erheben den Anspruch, das "Silicon Valley Europas" zu sein. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten, aber bisher ist es trotz aller Erfolge nicht gelungen, eine mit dem Original vergleichbare Dynamik zu entfachen.



Donnerstag, 28. Mai 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Soziale Bewegungen

Ein Kennzeichen der 70er Jahre war das Aufkommen so genannter "neuer" sozialer Bewegungen. Der Begriff erscheint erst ab Ende der 70er Jahre. Gemeint ist damit eine Sammelbezeichnung für soziale Bewegungen, die sich von den "alten" sozialen Bewegungen (gemeint ist damit meist die Arbeiterbewegung) in mehrfacher Hinsicht unterschieden. Zum einen konzentrierten sie sich nicht mehr primär auf materielle Gewinne, sondern auf einen Zugewinn an Lebensqualität oder auf Identitätsfragen. Auch der erneute Zulauf für regionalistische Bewegungen seit den 70ern folgt diesem Muster. Zum anderen favorisierten die neuen sozialen Bewegungen wenigstens teilweise andere Organisations- und Protestformen. Neben die klassischen Streiks und Demonstrationen traten Aktionen zivilen Ungehorsams wie Blockaden oder Bauplatzbesetzungen. Diese Aktionsformen waren der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entlehnt. Klassische Beispiele für die neuen sozialen Bewegungen sind die (neue) Frauenbewegung, die Umweltbewegung, die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensbewegung.

In gewisser Weise ist es aber irreführend, die Zeit seit 1970 als Zeitalter der neuen sozialen Bewegungen zu bezeichnen. Schließlich waren die "alten" sozialen Bewegungen noch lange nicht am Ende. Im Gegenteil fielen einige der größten Streiks und Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte in die 80er und 90er Jahre. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher erstens auf die "alten" und zweitens auf die "neuen" sozialen Bewegungen. Drittens soll der politische Terrorismus in Westeuropa behandelt werden, der in den 70er und 80er Jahren gleichfalls verstärkt auftrat.

Streiks

Betrachtet man die Häufigkeit und Intensität von Streiks, gemessen in ausgefallenen Arbeitstagen, so stechen zwei Elemente hervor. Zum einen in zeitlicher Hinsicht: die Hochzeit der Streikaktivitäten lag in den 80er und 90er Jahren, nicht in den als krisenhaft empfundenen 70ern. Zum anderen in der Aufschlüsselung nach Ländern: klarer Spitzenreiter ist Frankreich. Alle anderen Länder (es sind nur die größeren westeuropäischen Länder dargestellt) haben ab und zu größere Streiks zu verzeichnen, aber Frankreich in der Zeit zwischen Mitte der 80er und Mitte der 90er Jahre ist konkurrenzlos. Das liegt u.a. daran, dass es in Frankreich eine Tradition der politischen Massenstreiks gibt, d.h. Streiks werden benutzt, um politische Forderungen durchzusetzen, was in Deutschland verboten ist.

Quelle: ILO

Quelle: ILO
Betrachtet man einzelne Streiks näher, so stechen mehrere große Auseinandersetzungen hervor. Zu nennen wäre hier vor allem der britische Bergarbeiter-Streik von 1984/85. Ohne die Kenntnis dieser massiven Streikbewegung, eine der größten in der britischen Geschichte, ist die Geschichte und Kultur Großbritanniens in dieser Zeit nicht zu verstehen. Die Ursache der Konfrontation lag in der beabsichtigten Schließung von staatlichen Kohlebergwerken in Nordengland durch die konservative britische Regierung unter Margaret Thatcher. Dagegen mobilisierte die National Union of Mineworkers (NUM) unter ihrem Vorsitzenden Arthur Scargill. Beide Seiten zeigten sich unnachgiebig, so dass der Streik fast genau ein Jahr dauerte (März 1984-März 1985), dann aber mit einer völligen Niederlage der Bergleute endete. In diesem Zeitraum kam es immer wieder zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und streikenden Bergleuten, vor allem dann, wenn Streikbrecher unter Polizeischutz in die Minen gebracht wurden. Der Streik war in gewisser Weise ein Resultat der Deindustrialisierung Westeuropas. Der Kohlebergbau wurde überall zurückgefahren, in Deutschland z.B. im Ruhrgebiet. Ähnliche Streikbewegungen gab es in Deutschland in Duisburg-Rheinhausen 1987/88 anlässlich der geplanten Schließung eines Stahlwerks und 1993 bei der Schließung eines Kalibergwerks in Bischofferode (Thüringen). Keine dieser Arbeitskämpfe nahm aber solche Ausmaße an wie der britische Bergarbeiter-Streik. Seine Heftigkeit erklärt sich daraus, dass beide Seiten nicht auf Konsens orientiert, sondern primär ideologisch motiviert waren: Thatcher war eine Vorreiterin der neoliberalen Ideologie und wollte den bis dahin starken Einfluss der Gewerkschaften beschneiden. Scargill seinerseits war überzeugter Marxist und sympathisierte mit den sozialistischen Regimes in Mittel- und Osteuropa. Die Niederlage der Gewerkschaften schwächte die britische Gewerkschaftsbewegung nachhaltig.

Einer der größten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte fand gleichzeitig statt, nämlich April bis Juli 1984. Es war der Streik der Metallarbeiter und Drucker für die Einführung der 35-Stunden-Woche. War der britische Bergarbeiter-Streik seiner Natur nach defensiv angelegt, so verhielt es sich hier anders. Die bundesdeutschen Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, handelten aus einer Position der Stärke und wollten offensiv Verbesserungen durchsetzen. Die Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) gehört zu den klassischen Forderungen der Arbeiterbewegung. Der Streik bewies, dass die "alte" Arbeiterbewegung keineswegs tot war und endete mit einem Kompromiss, nämlich der  Einführung der 38,5-Stunden-Woche, allerdings mit flexiblen Ausnahmeregeln.

In Frankreich fanden große Streiks 1995 und 2006 statt. In beiden Fällen richtete sich die Streikbewegung gegen geplante Reformmaßnahmen der Regierung. 1995 war es  der "Plan Juppé", benannt nach dem damaligen konservativen Premierminister, der eine Reihe von Reformen in den Sozialsystemen vorsah. Besonders umstritten war die Erhöhung der Anwartschaftszeiten in der Rentenversicherung der staatlich Beschäftigten. Der Streik im November und Dezember 1995 wurde daher primär von den Beschäftigten des öffentlichen Sektors getragen, war aber dennoch der größte Streik in Frankreich seit dem berühmten Mai 1968. Juppé sah sich gezwungen, seinen Plan zurückzuziehen und wurde zwei Jahre später abgewählt. In leicht veränderter Form wurden seine Pläne aber 2003 unter der Regierung Fillon durchgesetzt. 2006 betraf der Protest geplante Arbeitsmarktreformen. Geplant war, die Jugendarbeitslosigkeit dadurch zu verringern, dass junge Menschen (bis 26) innerhalb der ersten zwei Jahre ihrer Beschäftigung ohne Angabe von Gründen wieder gekündigt werden konnten (also eine Verlängerung der Probezeit). Das sollte Unternehmen ermuntern, mehr junge Menschen wenigstens vorübergehend einzustellen, rief aber den Protest von Jugendlichen und Studenten hervor, dem sich daraufhin die Gewerkschaften anschlossen. Die Proteste dauerten ungefähr zwei Monate (Februar-April) und endeten wiederum mit der Rücknahme der umstrittenen Reformmaßnahme durch die Regierung.

Wie der Überblick zeigt, waren die großen Streikbewegungen an nationalen Themen orientiert. Die Streiks in Deutschland und Großbritannien 1984 fanden zwar gleichzeitig statt, hatten aber ganz unterschiedliche Zielsetzungen. Die Proteste in Frankreich 1995 blieben eine französische Angelegenheit. Ansätze zu einem "Euro-Streik" gab es anlässlich einer Werksschließung von Renault in Belgien im März 1997, als Arbeiter in Belgien, Frankreich und Spanien gemeinsam gegen die Pläne streikten und demonstrierten. Aber dies blieb doch Episode.

Neue Soziale Bewegungen

Weitaus internationaler waren da von Beginn an die neuen sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren. Sie umfassten sehr unterschiedliche Bewegungen. Am häufigsten genannt werden die Frauen-, die Friedens-, die Umwelt- und die Anti-AKW-Bewegung. Daneben existierten zahlreiche andere,  z.B. die Dritte Welt- bzw. Eine Welt-Bewegung, die Tierrechtsbewegung, Bewegungen für Minderheitenrechte (Homosexuelle, Behinderte etc.), die Hausbesetzer, die Antifa etc. Die Umweltbewegung wird gesondert behandelt, hier soll kurz auf die Frauen- und Friedensbewegung  sowie die so genannten "Globalisierungsgegner" eingegangen werden.

Die "neue" Frauenbewegung entstand in Westeuropa am Ende der 60er Jahre. Teilweise war sie ein Kind der 68er-Bewegung, in der die Frauenfrage allerdings gerade keinen Schwerpunkt bildete. Aus der Kritik an den patriarchalischen Verhältnissen in der 68er-Bewegung wie in der Gesellschaft im Allgemeinen erwuchsen neue Aktionen und Organisationen, die die Belange von Frauen in den Mittelpunkt stellten. Im Gegensatz zur älteren Frauenbewegung (des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) beschränkte sich die neue Frauenbewegung nicht auf die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung (z.B. im Wahlrecht, im Bildungszugang oder im Berufsleben), sondern thematisierte unter dem Schlagwort "Das Private ist politisch" die Diskriminierung von Frauen  in allen gesellschaftlichen Sphären, auch in der Familie, der Sexualität usw. Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung blieb zentral, wo sie noch nicht erreicht war. Aber daneben ging es um andere Themen, z.B. Schwangerschaftsabbruch, Eherecht, Verhütung, Kinderbetreuung, Gewalt gegen Frauen, Pornographie, Unterrepräsentation von Frauen in öffentlichen Ämtern und gesellschaftlichen Führungspositionen, gleiche Bezahlung etc. Zu den ersten öffentlichkeitswirksamen Aktionen gehörten in Frankreich die Kranzniederlegung am Arc de Triomphe für die Frau des unbekannten Soldaten am 26. August 1970, in England eine Demonstration für Frauenrechte in London am 8. März 1971 oder die öffentlichen Bekenntnisse von Frauen in Frankreich und Deutschland 1971 zum Schwangerschaftsabbruch ("Wir haben abgetrieben" bzw. "manifeste des 343"), was damals in beiden Ländern eine Straftat darstellte (veröffentlicht im "Nouvel Observateur am 5. April 1971 und im "Stern" am 6. Juni 1971).

 



Die neue Frauenbewegung war von Anfang an international. Die Themen glichen sich in den meisten westlichen Ländern. Ihre Inspiration bezog sie aus den USA, wo die neue Frauenbewegung bereits in den 60er Jahren begonnen hatte. Einer ihrer zentralen Texte, Betty Friedans "Feminine Mystique" von 1963 wurde in viele Sprachen übersetzt (deutsch: Der Weiblichkeitswahn, 1966). Eine französische Ausgabe erschien 1964, eine italienische und eine dänische in demselben Jahr, eine spanische 1965, eine finnische 1967, eine niederländische 1971 usw.

Die Wirkung der Frauenbewegung lässt sich weniger an konkreten Gesetzesänderungen messen, obwohl auch diese erfolgten (z.B. Änderung des Scheidungsrechts oder Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs), sondern sie bestand vielmehr in der Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Dass beispielsweise heutzutage sogar die CDU im Bundestag für ein Gesetz zur Quotierung von Vorständen großer Unternehmen stimmt (März 2015), ist sicher ein Verdienst der Frauenbewegung. Seit einigen Jahren wird die Frauenbewegung allerdings von einer neuen Debatte erfasst, nämlich der über den Umgang mit ethnischen Minderheiten. Insbesondere in Frankreich machten Feministinnen wie Samira Bellil und Fadela Amara auf die Unterdrückung von muslimischen Frauen in den französischen Vorstädten aufmerksam. Die Bewegung "ni putes ni soumises" (Weder Huren noch Sklavinnen) machte 2003 mit dem "Marsch der Frauen aus den Vorstädten" auf sich aufmerksam. Sie fand großes Medienecho, zog allerdings auch Kritik auf sich, die ihr eine islamfeindliche Haltung vorwarfen. Die Herausforderung für die Frauenbewegung, nicht nur in Frankreich, besteht darin, die spezifische Situation von Frauen mit Migrationshintergrund zu thematisieren, ohne sich für ausländerfeindliche Strömungen instrumentalisieren zu lassen.


Eine weitere neue soziale Bewegung, die vor allem die 80er Jahre prägte, war die Friedensbewegung. Ähnlich wie die Frauenbewegung kann die Friedensbewegung auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits in den 50er Jahren kam es in der Bundesrepublik zu Protesten gegen die Wiederbewaffnung oder die Kampagne "Kampf dem Atomtod" (gegen Atomwaffen). Die britische "Campaign for Nuclear Disarmament" führte 1958 die bis heute international abgehaltenen Ostermärsche ein. Trotz dieser Vorläufer erreichte die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre eine neue Qualität aufgrund der hohen Teilnehmerzahlen, die in die Hunderttausende gingen (die genauen Zahlen sind, wie immer, umstritten).

Anlass für die Proteste war der so genannte "NATO-Doppelbeschluss" von 1979, der die Stationierung von amerikanischen Marschflugkörpern (Cruise Missiles) und Mittelstreckenraketen (Pershing II). Kritiker befürchteten, diese neuen, zielgenaueren Raketen würden nicht nur eine neue Runde des Wettrüstens einläuten, sondern den USA die Fähigkeit zum atomaren Erstschlag verleihen und somit einen Atomkrieg in den Bereich des Möglichen rücken. Große Demonstrationen fanden in vielen westeuropäischen Städten statt, z.B. in Bonn, Amsterdam, Den Haag, Brüssel, Kopenhagen, Rom, Madrid oder London zwischen 1981 und 1983.  Einige dieser Demonstrationen gehörten zu den größten in der Geschichte ihres jeweiligen Landes. Hinzu kamen vielfältige andere Aktionsformen, beispielsweise Sitzblockaden oder Menschenketten an Atomwaffen-Standorten (z.B. Mutlangen, Greenham Common, Comiso). Schwächer war die Bewegung in Frankreich, das nicht militärisch in die NATO integriert war und über eigene Atomwaffen verfügte. In Spanien protestierte sie vor allem gegen die beabsichtigte militärische Integration in die NATO.

Zwar wurden immer wieder weitergehende Forderungen artikuliert, z.B. nach dem Verbot der Neutronenbombe oder der Bildung von atomwaffenfreien Zonen, aber im Kern war die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre eine klassische Ein-Punkt-Bewegung. Ihr Ziel erreichte sie zwar nicht direkt, aber 1987 einigten sich die USA und die Sowjetunion auf die so genannte "doppelte Nulllösung", also den Abzug von US-amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen aus Europa. Damit, und mit dem Beginn der sowjetischen "Perestroika", war die Kriegsfurcht der Europäer beendet. Zu einem Wiederaufleben der Friedensbewegung kam es 1990/91 im Zuge des Zweiten Golfkrieges und 2003 mit der US-geführten Invasion in den Irak. Für Kontroversen innerhalb der Friedensorganisationen sorgte dagegen der Jugoslawienkrieg der 90er Jahre.

Die Friedensbewegung der 80er Jahre war international, auch wenn die Akzentuierung von Land zu Land unterschiedlich sein mochte (z.B. spielten Atom-U-Boote in Großbritannien eine stärkere Rolle als in Deutschland). Sie hatte eine europäische Ausrichtung mit teilweise anti-amerikanischen Untertönen, obwohl sich auch in den USA unter Reagan eine starke Friedensbewegung bemerkbar machte. Die Anhänger der Friedensbewegung (wie der neuen sozialen Bewegungen allgemein) gehörten überwiegend den Mittelschichten an. Arbeiter fanden sich eher selten darunter. Die meisten waren jung oder mittleren Alters, besaßen ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, neigten politisch eher nach links, kamen teilweise auch aus kirchlichen Kreisen.

Eine letzte, hier zu erwähnende soziale Bewegung ist die der so genannten Globalisierungsgegner oder besser Globalisierungskritiker. Diese Bezeichnungen sind etwas irreführend, denn die Bewegung richtet sich nicht gegen die Globalisierung an sich, sondern gegen die Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen und insbesondere gegen die Macht der multinationalen Konzerne. Als Bibel der Bewegung gilt das 2000 erschienene Buch von Naomi Klein "No Logo". Darin werden die Verlagerung der Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländer und die dort herrschenden Produktionsbedingungen kritisiert. Zudem wird der Verlust kultureller Vielfalt durch die Dominanz multi-nationaler Konzerne sowie der Verlust an Öffentlichkeit durch die Privatisierung des öffentlichen Raums (in shopping malls) beklagt.

Die Aktionsformen der Bewegung bestanden in Demonstrationen am Rande von internationalen Gipfeltreffen (der Welthandelsorganisation WTO oder der G8 bzw. G7), die von Ausschreitungen militanter Demonstranten, aber auch von Polizeigewalt begleitet waren. Sie begannen in Seattle am Rande eines WTO-Treffens 1999 und erreichten Europa im Juli 2001 mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen am Rande des G8-Gipfels in Genua mit Hunderten Verletzten und einem Toten. In den Medien dominiert die Berichterstattung über die gewaltsamen Aktionen. Dabei wird übersehen, dass die überwiegende Mehrheit der Demonstranten friedlich bleibt. Seit 2001 gibt es als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum ein Weltsozialforum, in dem sich "Globalisierungskritiker" aus aller Welt zum Gedankenaustausch treffen. Das Spektrum ist sehr heterogen, von Gewerkschaften über Umweltgruppen und kirchlichen Initiativen bis hin zu kubanischen Regierungsorganisationen. Ob sich hier wirklich, wie manche meinen, eine transnationale Zivilgesellschaft bildet, ist allerdings umstritten. Eine Studie über das globalisierungskritische Netzwerk "attac" kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass nationale Unterschiede dort keineswegs verschwinden (Strobel 2011).

Politischer Terrorismus

Terrorismus war in den 70er Jahren keinesfalls neu. Politisch motivierte Attentate auf prominente Persönlichkeiten oder symbolisch aufgeladene Bauwerke hatte es im 19. Jahrhundert immer wieder gegeben. Insofern ist eher das relative Verschwinden des politischen Terrorismus in Westeuropa in den 50er und 60er Jahren bemerkenswert. Der heute so prominente islamistische Terrorismus war noch kein Thema. Die terroristischen Bewegungen der 70er und 80er Jahre waren vor allem die linksterroristischen Gruppen "Rote Armee Fraktion" (Deutschland, 1970-93), die "Brigate Rosse" (Italien, 1970-88) und die "Action Directe" (Frankreich, 1979-87). Hinzu kamen die separatistischen Terrorgruppen ETA (Baskenland, 1959-2011) und die IRA (irisch-republikanische Armee, Irland/Großbritannien, bis 2005). Die separatistischen Gruppen haben eine längere Vorgeschichte, die in dem Unabhängigkeitsstreben der Basen von Spanien und der Iren von Großbritannien besteht. Insofern war der Terrorismus nicht völlig neu, aber er verstärkte sich doch. Zudem verwendeten auch die separatistischen Gruppen in den 70er Jahren zunehmend linke rhetorische Formeln, so dass zeitweise eine terroristische Internationale zu drohen schien.

Die linksterroristischen Gruppen in Deutschland und Italien waren radikalisierte Ausläufer der 68er-Bewegung und knüpften teilweise an deren Programmatik an. Ihre Anschläge richteten sich gegen hochgestellte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, aber auch gegen US-Militärbasen. Zu einer dramatischen Zuspitzung führte der Terror der RAF im Herbst 1977 mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht werden sollte, was die Bundesregierung aber verweigerte. Palästinensische Terroristen entführten gleichzeitig eine Lufthansa-Maschine und erklärten sich mit den Forderungen der RAF solidarisch. Das Flugzeug wurde am 18. Oktober von deutschen Sicherheitskräften befreit und drei inhaftierte Terroristen (Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe) begingen Selbstmord. Schleyer wurde von der RAF erschossen.

Eine ähnliche Zuspitzung, wenn auch nicht ganz so dramatisch, erlebte Italien mit der Entführung des christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro vom 16. März bis zum 9. Mai 1978. Er sollte ebenfalls gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht werden. Auch die italienische Regierung lehnte dies ab, und Moro wurde erschossen. In Italien wurde die Lage allerdings zusätzlich dramatisiert durch die zwar nicht offiziell legitimierte, aber von Teilen des Sicherheitsapparates zusammen mit Rechtsextremisten verfolgte "Strategie der Spannung". Sie bestand darin, dass Terroranschläge verübt wurden, die den linken "Brigate Rosse" in die Schuhe geschoben werden sollten. Damit sollte nicht nur der Linksterrorismus, sondern die Linken generell diskreditiert werden. Trauriger Höhepunkt war der von Neofaschisten verübte Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980, der 85 Menschenleben forderte.

Wie weit die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen terroristischen Gruppen ging, ist nicht genau bekannt. Internationale Kontakte hatte die RAF durchaus. So hielten sich RAF-Terroristen zu Ausbildungszwecken im Jemen auf, und ehemalige Mitglieder fanden in der DDR einen Rückzugsraum, in dem sie vor Strafverfolgung geschützt waren. Zu einem gemeinsamen Anschlag von RAF und Action Directe kam es im August 1985 (auf die Rhein-Main-Air Base). Kontakte soll es auch zu den Brigate Rosse gegeben haben, aber zu gemeinsamen Aktionen kam es wohl nicht. Insofern blieb der Terrorismus trotz aller internationalistischen Rhetorik überwiegend im nationalen Rahmen.

Das gilt auch für die IRA, die seit Beginn der 70er Jahre immer wieder spektakuläre Anschläge verübte, z.B. 1979, als sie 18 britische Soldaten und  Lord Mountbatton, den Onkel von Königin Elizabeth II., tötete, oder 1996, als eine 1.500 kg-Bombe in der Innenstadt von Manchester explodierte und große Flächen verwüstete (dort steht jetzt ein großes Einkaufszentrum). Die ETA operierte zwar in Spanien und Frankreich, die meisten Anschläge wurden jedoch in Spanien verübt. Auch hier gab es eine Häufung von Anschlägen, die sich teilweise gegen Sicherheitskräfte oder Politiker, teilweise jedoch auch gegen die Zivilbevölkerung richteten, am Ende der 70er Jahre. Von einer Globalisierung des Terrorismus lässt sich erst später sprechen, mit dem Aufkommen des islamistischen Terrorismus und insbesondere mit dem Attentat vom 11. September 2001.

Die Terrorismus-Hysterie der späten 70er Jahre war überzogen. Im Herbst 1977 wähnten sich manche Beobachter in einer Staatskrise. Dabei zeigte sich je länger, desto deutlicher, dass die Terroristen zwar einzelne Repräsentanten des ihnen verhassten Systems ermorden konnten, aber damit an den Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft nichts änderten. Insofern war der politische Terrorismus gescheitert. Das einzige greifbare Ergebnis war der Ausbau des Sicherheitsapparates. Zur Bekämpfung der RAF führte der damalige Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, die so genannte "Rasterfahndung" ein, die auf der Auswertung gesammelter elektronischer Daten basierte.