Dienstag, 24. Juni 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Außenpolitik, Kalter Krieg

Zum Zeitalter des Massenkonsums gehören auch die außenpolitischen Rahmenbedingungen, und die gaben durchaus Anlass zur Sorge. Gewiss, der Kalte Krieg der Supermächte verhinderte einen "heißen" Krieg in Europa, doch bestand bis in die sechziger Jahre hinein die Gefahr einer militärischen Konfrontation der Supermächte mit ungewissem Ausgang, vielleicht sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen.
Es gibt hinsichtlich der Verwendung des Begriffs "Kalter Krieg" keine Einigkeit unter Historikern. Manche grenzen den Kalten Krieg im engeren Sinne von Phasen der Entspannungspolitik zwischen den Supermächten ab, andere sehen in der Entspannungspolitik lediglich eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. Auch der Beginn des Konfliktes ist umstritten. Letztlich existierten schon zu Zeiten der Anti-Hitler-Koalition gravierende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten, die lediglich durch den gemeinsamen Kampf überdeckt wurden. Nach dem Krieg blieben nur zwei globale Supermächte übrig. Großbritannien, die dritte Siegermacht, war hoch verschuldet und damit von den USA abhängig.
Der Dualismus der beiden verbleibenden Supermächte, die sich um Einflusssphären stritten, hätte möglicherweise allein schon ausgereicht, um einen Kalten Krieg zu provozieren. Hinzu kamen die ideologischen Gegensätze zwischen repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und sozialistischer Gesellschaftsordnung bzw. Diktatur Stalins andererseits.
Dennoch war der Kalte Krieg, jedenfalls in der Schärfe der Auseinandersetzung, die an den Rand eines Krieges führte, wohl nicht unvermeidbar. Vgl. hierzu die Darstellung von Wilfried Loth:
http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/kalter_krieg/l_01.htm.
Vielmehr unterstellten beide Seiten der jeweils anderen Seite aggressivere Absichten als tatsächlich existierten. Für die USA formulierte der Diplomat George Kennan bereits am 22. Februar 1946 in seinem berühmten "langen Telegramm" die Grundlinien der Eindämmungspolitik Text hier:
http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/coldwar/documents/episode-1/kennan.htm
. Er ging davon aus, dass die sowjetische Führung ein neurotisches, übersteigertes Sicherheitsbedürfnis habe, das sie letztlich zu einer expansionistischen Außenpolitik verleite. Umgekehrt war Stalin davon überzeugt, dass die kapitalistischen Mächte auf Dauer nicht in Frieden leben könnten und daher früher oder später auch die Sowjetunion angreifen würden.
 Diese Grundhaltungen führten zu einer Reihe von Konfrontationen, die mehr oder weniger nah an die Schwelle eines Krieges der Supermächte führten, aber auch immer wieder von Phasen der Entspannung abgelöst wurden. Zweimal stand Berlin im Zentrum des Konfliktes, einmal bei der Berlin-Blockade 1948/49 und zum zweiten Mal in der Berlin-Krise 1958-61. Das lag weniger an einem besonders ausgeprägten Interesse der sowjetischen Führung an Berlin als vielmehr daran, dass hier der Westen besonders verwundbar erschien, da Westberlin eine Enklave in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR darstellte. Beide Male wurde die Berlin-Frage als Druckmittel benutzt, um Konzessionen in anderen Bereichen zu erlangen. 1948/49 ging es Stalin wohl darum, die Gründung eines westdeutschen Teilstaates zu verhindern, die sich mit der Gründung der Trizone und der Währungsreform 1948 bereits andeutete. Die Alliierten gaben bekanntlich in dieser Frage nicht nach und versorgten Berlin mit einer Luftbrücke. Letztlich führte die Berlin-Blockade nur zu einer beschleunigten Integration des westlichen Bündnisses. Die NATO wurde im April 1949, die Bundesrepublik im Mai gegründet. Ende 50er Jahre benutzte Chruschtschow Berlin als Druckmittel, um die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verhindern. Der Bau der Berliner Mauer 1961 wurde vor allem von der DDR-Führung um Walter Ulbricht voran getrieben. Sie hatte letztlich wirtschaftliche Gründe, da durch die offene Grenze zu Westberlin der DDR viele wertvolle Arbeitskräfte verloren gingen. Im Oktober 1961 kam es im Zuge des Mauerbaus zu einer Konfrontation zwischen sowjetischen und amerikanischen Panzern am Checkpoint Charlie, die sich gefechtsbereit gegenüber standen. Eine bewaffnete Auseinandersetzung blieb aber aus.
Der einzige bekannte Fall, in dem tatsächlich sowjetische Einheiten gegen US-amerikanische kämpften, war der Korea-Krieg von 1950-53, an dem allerdings offiziell die Sowjetunion nicht beteiligt war, wohl aber das mit ihr verbündete China. Der Überfall Nordkoreas auf den Süden im Januar 1950 schien die schlimmsten Befürchtungen der Westmächte über den sowjetischen Expansionswillen zu bestätigen. Dennoch weigerte sich Präsident Truman, die Atombombe einzusetzen. Der Krieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, der im Wesentlichen die alten Grenzen bestätigte.
Die letzte große Konfrontation war die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Sowjetunion nach der kubanischen Revolution Kurz- und Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren wollte, die auch die USA hätten erreichen können. Das Ziel war hier zum einen die Verteidigung der kubanischen Revolution und die Förderung ähnlicher Bewegungen in Lateinamerika durch die Demonstration von Stärke. Zum anderen wollte Chruschtschow in diesem Bereich ein Gleichgewicht herstellen, hatten die USA doch schon seit langem Mittelstreckenraketen in Europa stationiert, die die Sowjetunion treffen konnten. Auch hier konnte eine bewaffnete Konfrontation letztlich vermieden werden. Für den Verzicht auf die geplante Stationierung der Raketen auf Kuba sagte die amerikanische Regierung im Gegenzug zu, auf eine Invasion Kubas zu verzichten und die in der Türkei stationierten Raketen abzuziehen.
Diese Konfrontationen wurden aber immer wieder durch mehr oder weniger lange Phasen der Entspannungspolitik unterbrochen. Nach der Kuba-Krise und besonders ab Ende der 60er Jahre zeigte sich das besonders deutlich, als eine Reihe von Abkommen geschlossen wurden: das Atomteststoppabkommen 1963, der Atomwaffensperrvertrag 1968, das Rüstungsbegrenzungsabkommen SALT I (SALT=Strategic Arms Limitation Talks) 1972. Die von der sozial-liberalen Bundesregierung ausgehandelten "Ostverträge" mit den Staaten des Warschauer Paktes (Sowjetunion, Polen, DDR, CSSR, 1970-73) entschärften zusätzlich das Krisenpotential in der Mitte Europas. Die Bedeutung der Entspannungspolitik für das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion bleibt umstritten. Sicher hat sie aber dazu beigetragen, unbeabsichtigte Eskalationen zu einem großen Krieg zu vermeiden.
Entspannungspolitik gab es jedoch nicht erst seit den 60er Jahren. Selbst in den 50ern kam es zu ersten Ansätzen, beispielsweise nach dem Tod Stalins 1953. Im Grunde versuchte schon Nikita Chruschtschow, den Wettstreit der Systeme auf den wirtschaftlichen Bereich, und dabei insbesondere auf das Feld des Konsums, zu verlagern. Das 1958 formulierte Ziel war in der Tat, den Westen in puncto Lebensstandard zu überholen. Bis heute diskutieren Historiker darüber, ob dies ernst gemeint war, aber wahrscheinlich schon. Allerdings erwartete Chruschtschow (ganz im Sinne der marxistischen Ideologie) eine baldige Wirtschaftskrise im Westen. Sein ungebrochener Optimismus zeigte sich unter anderem in der "Küchendebatte" 1959, die am Rande einer amerikanischen Ausstellung in Moskau mit Vizepräsident Richard Nixon stattfand. Es handelte sich aber nicht um eine vorbereitete Debatte, sondern eher um einen ad hoc geführten Schlagabtausch:







Chruschtschow argumentierte, die Sowjetunion sei viel jünger als die USA und werde das amerikanische Niveau in 7 Jahren erreicht haben. Wenn die Amerikaner weiter den Kapitalismus behalten wollte, so sei das ihre Sache, aber die Sowjets würden den Amerikanern zuwinken, wenn sie sie überholten. Die Unterhaltung zwischen zwischen Nixon und Chruschtschow wurde auf einem frühen Videorekorder festgehalten. Hier ist übrigens ein Bild der amerikanischen Modellküche (aus dem "typisch amerikanischen Haus" auf der Ausstellung):


Letztlich verlor die Sowjetunion den Kalten Krieg auf genau dem Feld, auf das sie ihn selbst verlagert hatte. Schon der Mauerbau 1961 war ein Eingeständnis des Scheiterns.

Dienstag, 17. Juni 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Politik und Parteien

Die Vorlesung beschäftigte sich mit der Entwicklung der westeuropäischen Parteiensysteme in den 50er und 60er Jahren. Wie veränderten sich die politischen Parteien (und mit ihnen die Politik) im Zeitalter des Massenkonsums? Welche länderübergreifenden Trends lassen sich identifizieren? Zwei Vorbemerkungen müssen voraus geschickt werden. Zum einen ist es hier (schon aus Platzgründen) nicht möglich, auf jedes Land gesondert einzugehen. Es ist aber dennoch wichtig zu wissen, dass prinzipiell jedes Land sein eigenes Wahl- und Parteiensystem hatte, das historisch gewachsen war und bestimmte Eigenheiten aufwies. Wie im Folgenden ausgeführt wird, lassen sich zwar durchaus allgemeine Entwicklungen diagnostizieren, aber diese fanden immer vor dem je verschiedenen institutionellen Hintergrund des jeweiligen Landes ihre spezifische Ausprägung. Am Ende soll daher kurz auf die Parteiensysteme einzelner Länder eingegangen werden. Die zweite Vorbemerkung betrifft die an sich banale, aber wichtige Tatsache, dass längst nicht alle Westeuropäer in den 50er und 60er Jahren das Glück hatten, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben. Vielmehr fanden sich an der südeuropäischen Peripherie auch noch Diktaturen, die aus der Zwischenkriegszeit stammten: Spanien unter Franco (bis 1975) und Portugal unter Salazar (und seinem Nachfolger Caetano bis zur Nelkenrevolution 1974). Hinzu kam in Griechenland ein Militärputsch (Putsch der "Obristen") im Jahr 1967, der ebenfalls eine wenn auch kurze Phase der Militärdiktatur (bis 1974) einleitete. In diesen autoritären Staaten stellte sich die Frage nach Parteiensystemen zunächst nicht, da keine legalen Oppositionsparteien existierten. Insofern war der wichtigste Unterschied zwischen den politischen Systemen Westeuropas der zwischen Demokratie und Diktatur -  und nicht der zwischen verschiedenen Parteiensystemen.
Als Ausgangspunkt dient der Ansatz des zeitgenössischen deutschen Politikwissenschaftlers Otto Kirchheimer (1905-65), der 1965 in einem bis heute häufig zitierten Aufsatz den "Wandel des westeuropäischen Parteiensystems" beschrieb. Kirchheimer war Mitglied der SPD und während des Nationalsozialismus erst nach Frankreich und später in die USA emigriert. Es darf angenommen werden, dass vor allem die Erfahrungen in den USA seinen Aufsatz zum Parteiensystem beeinflussten. Im Wesentlichen unterscheidet Kirchheimer hierin drei Arten von Parteien: erstens die traditionellen, im 19. Jahrhundert vorherrschenden Klientel- oder Honoratiorenparteien, die kaum mehr waren als ad hoc gebildete Wahlvereinigungen; zweitens die Massenintegrationsparteien, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkamen. Beispiele waren die sozialistischen und katholischen Parteien. Sie zielten auf eine möglichst hohe Mitgliederzahl und versuchten, ihre Mitglieder und Wähler auf der Grundlage einer gemeinsamen Ideologie oder Weltanschauung zu mobilisieren. Ihre Wählerschaft blieb aber auf bestimmte Gruppen (oder Schichten) beschränkt, die sich mit der Ideologie identifizieren konnten, während andere Wählerschichten nicht angesprochen wurden. Für seine Gegenwart meinte Kirchheimer schließlich die Entstehung von Allerweltsparteien (catch all-party, Volkspartei) beobachten zu können, die sich aus dem Massenintegrationsparteien heraus entwickelten und nunmehr versuchten, alle oder doch fast alle Wähler anzusprechen. Das hatte mehrere wichtige Konsequenzen für die Selbstdarstellung der Parteien, ihre Programme, die Wahlkämpfe wie für den gesamten Stil der politischen Auseinandersetzung. Denn die trennenden Ideologien wurden auch programmatisch abgewertet und rückten in den Hintergrund. Die Politik wurde pragmatischer, die Parteien einander ähnlicher, dadurch aber auch tendenziell beliebig und austauschbar. Gerade deswegen stieg die Bedeutung des politischen Personals. Thematisch bevorzugten die Allerweltsparteien Inhalte, die keine ideologischen Gräben aufwarfen und mit denen sich mehr oder weniger alle Bürger identifizieren konnten, wie z.B. Bildung oder wissenschaftlicher Fortschritt.
Die Bedeutung von Kirchheimers Thesen liegt weniger darin, dass sie wirklich die Realität adäquat beschreiben würden. Vielmehr war er einer der ersten, die erkannt hatten, dass die Parteien sich zunehmend wie Unternehmen an einem Markt orientierten und versuchten, dem Bürger mit Hilfe von zunehmend professioneller Werbung etwas zu verkaufen. Kurz gesagt, das Parteiensystem wurde in dieser Zeit von der Logik des Massenkonsums erfasst, und unterschied sich dadurch wesentlich von den ideologisch geprägten Grabenkämpfen der Zwischenkriegszeit (vor allem, aber nicht nur in Deutschland).
Kirchheimers Thesen gelten heute als widerlegt. Zum einen kam es im Zuge der 68er-Bewegung jedenfalls kurzfristig zu einer Re-Ideologisierung der Politik. Die von ihm diagnostizierte Entideologisierung der Parteien ist somit keine Einbahnstraße. Zum anderen aber verloren die Allerweltsparteien seit den 70ern zunehmend an Bindekraft. Was Kirchheimer nicht vorausgesehen hat, war der Aufstieg von kleineren Parteien, die entlang neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien entstanden: ökologische Parteien wie die Grünen, rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien (Republikaner, Front National etc.) oder regionalistische Parteien.
Betrachtet man, unabhängig von Kirchheimers Thesen, die Parteienlandschaften Westeuropas in den 50er und 60er Jahren, so fällt ein Aspekt sofort ins Auge: die Stärke der bürgerlichen (christdemokratischen oder konservativen) und die relative Schwäche der linken Parteien. Außerhalb von Skandinavien traf man kaum auf sozialistische oder sozialdemokratische Regierungschefs. In Deutschland war die SPD zwar seit 1966 an der Regierung beteiligt, jedoch zunächst als Juniorpartner in einer großen Koalition. Erst 1969 stellte sie den Bundeskanzler. In Großbritannien wurde die Labour Party 1951 aus der Regierung abgewählt und konnte erst 1964 zurückkehren (bis 1970). In Frankreich regierte mit Vincent Auriol zwischen 1947 und 1954 ein sozialistischer Ministerpräsident, danach aber regierten die Gaullisten und anderen Bürgerlichen bis zum Wahlsieg Mitterands 1981. In Italien gab es die erste von einem Sozialisten geführte Regierung (unter Bettino Craxi) der Nachkriegszeit erst 1983. Offenbar war das "Zeitalter des Massenkonsums" für die Linke nicht eben günstig. Die wirtschaftlichen Erfolge wurden eher den Konservativen und Christdemokraten zugeschrieben. Die Sozialisten hatten ihre Probleme mit der modernen Welt des Massenkonsums und wirkten z.T. altbacken, etwa in ihrer Abneigung gegen die moderne Werbung.
Die große Ausnahme bildete, wie erwähnt, Skandinavien. In Schweden regierten die Sozialdemokraten ununterbrochen von 1946 bis 1976, bis 1968 unter Ministerpräsident Tage Erlander. Den Schlüssel zu diesem Erfolg bildete die schon vor dem Krieg erfolgte Öffnung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für andere Bevölkerungsschichten, vor allem Bauern, und der Ausbau des Sozialstaates.
Stimmenanteile der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Schweden seit 1921

In Frankreich wurde die 4. Republik 1958 per Referendum abgeschafft und durch die 5. Republik ersetzt. Der französische Staatspräsident wird seitdem direkt vom Volk gewählt und setzt die Regierung ein. Eine französische Besonderheit waren die (unter verschiedenen Namen existierenden) gaullistischen Parteien, die vom Charisma des Generals Charles de Gaulle lebten. De Gaulle setzte auf eine autoritäre Innenpolitik und eine nationalistische Außenpolitik und betonte besonders gegenüber den USA, aber auch gegenüber den anderen europäischen Staaten, die französische Souveränität.
In Großbritannien existierten aufgrund des Mehrheitswahlrechts lange Zeit nur zwei Parteien von Bedeutung, die Konservativen (Tories) und die Labour Party (Arbeiterpartei). Die Labour Party machte zwar ähnlich wie die deutsche SPD bereits in den 50er und 60er Jahren z.B. unter Hugh Gaitskell (Parteichef 1955-63) eine Reformdiskussion durch. Eine dem 1959 von der SPD verabschiedeten "Godesberger Programm" vergleichbare Öffnung der Labour Party kam jedoch erst wesentlich später, letztlich erst mit "New Labour" unter Tony Blair in den 90ern.
Kennzeichnend für Italien schließlich war, neben der weit verbreiteten Korruption, der häufige Wechsel der Regierungen. Zwischen 1950 und 1970 gab es nicht weniger als 23 verschiedene Regierungen in Italien, alle übrigens geführt von den Christdemokraten. Um die Verwirrung nicht allzu groß zu machen, wurden die Regierungen jedoch meist von immer denselben Parteien und Personen gebildet, so dass in Wahrheit die parlamentarische Demokratie nicht so instabil war, wie es den Anschein hatte. Das italienische Parteiensystem brach erst Anfang der 90er Jahre im Zuge der Korruptionsermittlungen der italienischen Justiz zusammen.

Diese kleine Übersicht soll zeigen, dass in dieser Zeit und auch bis heute in den Parteiensystemen wesentliche nationale Besonderheiten existieren, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Dennoch hatte Kirchheimer in gewissem Sinne recht. Der Massenkonsum veränderte die Parteien genauso sehr wie sie ihn. Die wirtschaftlichen Erfolge und die Steigerung des Lebensstandards wurden stärker den bürgerlichen Parteien als den Sozialdemokraten zugeschrieben, von denen man eher eine gerechte Verteilung auf niedrigem Niveau, im Sinne der Rationierung der unmittelbaren Nachkriegszeit, erwartete, als den Aufbruch in die neue Welt des Massenkonsums. Die Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, mussten sich wandeln, um neue Schichten ansprechen zu können, und begannen, Methoden aus dem wirtschaftlichen Bereich, wie etwa professionelle Wahlwerbung, einzusetzen. Dass gerade die Entwicklung zu Allerweltsparteien zu einer nachlassenden Bindekraft der großen Parteien führte, darin liegt die Ironie der Geschichte.

Dienstag, 3. Juni 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Jugend und Jugendkulturen

Die Vorlesung behandelte die Entstehung von (kommerziellen) Jugendkulturen in den 1950er und 60er Jahren. Jugend ist keine überhistorische Kategorie, sondern hat eine eigene Geschichte. Insbesondere ist die Anerkennung von Jugend als eigene Lebensphase ein historisch gesehen relativ neues Phänomen, das erst mit der Jugendbewegung um 1900 einsetzte. Frühere Gesellschaften kannten zumeist nur Kinder und Erwachsene, aber nicht Jugendliche oder Heranwachsende als eigene Stufe der Entwicklung. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen vollzog sich früher und schneller. Schuld an der Entstehung einer oft als problematisch wahrgenommenen, bisweilen aber auch glorifizierten, Jugendphase war die Verlängerung der Ausbildungszeiten und der spätere Eintritt ins Erwachsenenalter in den modernen westeuropäischen Gesellschaften.
Der Anfang der deutschen Jugendbewegung wird meist auf die Gründung des "Wandervogels" an einem Berliner Gymnasium 1901 datiert. Die an sich recht einfache Idee war, den Schulunterricht durch Exkursionen und Ausflüge zu bereichern. Gleichzeitig sollte das Gemeinschaftsgefühl der Schüler gestärkt werden. Der "Wandervogel" war ursprünglich eine bürgerliche Jugendbewegung, doch die 1905 (in Österreich bereits 1895) gegründete, der SPD nahe stehende Organisation "Naturfreunde" verfolgte ähnliche Ziele für die Arbeiterjugend. Ähnliche Gedanken, allerdings mit einer charakteristischen Betonung der militärischen Komponente, lagen den 1908 in Großbritannien gegründeten "Boy Scouts" (Pfadfindern) zugrunde. Ihr Gründer war der britische Kavallerie-Offizier Robert Baden-Powell (1857-1941).
Weitergeführt wurden diese Ideen von der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik, die sich politisch zunehmend nach rechts wendete, und von der 1926 gegründeten Hitler-Jugend. Kennzeichnend für die Bündische Jugend war das Ideal eines klassenübergreifenden Jugendbundes mit einem eigenen Ehrenkodex. Auch in der Pfadfinderbewegung und der Hitler-Jugend sollte die gemeinsame Kleidung soziale Unterschiede verdecken.
Somit war die Jugend als eigene Lebensphase bereits fest etabliert, als in den 50er Jahren der "Teenager" entdeckt wurde. Anders als der Hitler-Junge oder der bündische Jugendliche war er nicht Teil einer festen Gemeinschaft (allenfalls einer Clique), sondern wurde schon Ende der 50er Jahre als Konsument entdeckt. Marktforscher stellten fest, dass Teenager bei bestimmten Produkten (Schallplatten und Radios, Kosmetik und Kleidung) einen großen Teil der Nachfrage stellten. In der Tat begannen sich Jugendliche in Kleidung und kulturellen Präferenzen (Musikgeschmack, Freizeitbeschäftigung, Kleidung) deutlich von ihren Eltern zu unterscheiden. Tendenziell war der "Teenager" zudem ein klassenübergreifendes Phänomen.
Bevor der jugendliche Konsument entdeckt wurde, dominierten Abwehrreaktionen auf die neue jugendliche Subkultur. Insbesondere das Problem des "Halbstarken" (nach dem gleichnamigen Film von 1956) beherrschte die öffentliche Diskussion. Der Jugendliche wurde hierin als Delinquent oder Rowdy wahrgenommen. Der typische Halbstarke trug Jeans, rauchte, fuhr Motorrad und war gewaltbereit. Halbstarkenkrawalle gab es in mehreren deutschen, amerikanischen und europäischen Großstädten, häufig im Anschluss an Rockkonzerte oder Kinovorführungen. Nach heutigen Maßstäben allerdings war der Sachschaden meist gering, die Gewalt eskalierte oft erst nach dem übermäßig harten Eingreifen der Polizei, wie bei den Schwabinger Krawallen 1962, an denen unter anderen der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader beteiligt war.
Ähnliche Phänomene gab es, wie erwähnt, in anderen Ländern. "Halbstarke" wurden in Frankreich "blousons noirs" genannt, in England gab es die "Teddy Boys". Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen dieser Zeit dürfte zu diesen Gruppen gehört haben, aber in der öffentlichen Diskussion waren sie v.a. Mitte bis Ende der 50er Jahre sehr präsent

Die Halbstarkenkrawalle waren unpolitisch, was sich von der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre ("68er") nicht behaupten lässt. Ideologisch waren sie inspiriert von den heterogenen Strömungen einer sich um 1960 herausbildenden "neuen Linken", aber kulturell standen die meisten von ihnen der sich im Lauf der 60er Jahre entstehenden Alternativkultur nahe. Diese hatte Mitte der 60er Jahre ihren Hauptsitz in London, wo neue Modetrends gemacht wurden (der Minirock) oder neueste Musiktrends ihren Ursprung hatten (auch wenn die Beatles ursprünglich aus Liverpool waren). Diese Alternativkultur war eigentlich keine reine Jugendkultur, sondern sie umfasste auch viele junge Erwachsene, aber sie hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung.
Die Ursachen der Proteste von "1968", die nicht auf dieses eine Jahr beschränkt blieben, sind komplex. War es nicht letztlich ein "Aufstand im Schlaraffenland" (Matthias Horx) nach 20 Jahren Wirtschaftswachstum? Einige Faktoren waren national spezifisch, andere überschritten nationale Grenzen, wieder andere waren situativer Natur. So sind an sich friedliche Proteste, die sich in ihren Formen an der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung orientierten, durch Polizeigewalt häufig erst radikalisiert worden, wie in Deutschland durch die Erschießung eines unbewaffneten Studenten bei einer Demonstration 1967.
Letztlich drückte sich in den Protesten ein Wandel von "materialistischen" zu "postmaterialistischen" Werten (Ronald Inglehart) aus. Der schnelle soziale Wandel der zwei Nachkriegsjahrzehnte führte dazu, dass der Erfahrungshorizont der Heranwachsenden ein ganz anderer war als derjenige der Elterngeneration (auch wenn es sich bei den Protestierenden eher um eine Minderheit gehandelt haben dürfte). Die sozialen und materiellen Errungenschaften dieser Zeit wurden nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber doch relativiert, z.B. unter Verweis auf Missstände in Ländern der so genannten "Dritten Welt". Die Konsumgesellschaft wurde dagegen als "Warenfetisch" (Karl Marx) z.T. heftig kritisiert, da sie die Menschen zu sinnlosem Konsumieren animiere, anstatt sich um die wirklichen Probleme der Welt und zuhause zu kümmern. Die Argumente waren nicht unbedingt neu, sondern schon in den 50er Jahren von kritischen Intellektuellen wie Vance Packard in die Debatte gebracht worden.
Auch die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit spielte eine Rolle. Die Hochschulen waren auf den Ansturm der Studenten schlecht vorbereitet, und die Studenten forderten mehr Mitspracherechte in häufig sehr traditionellen, autoritären Strukturen.
Was die Studentenbewegungen in den einzelnen Ländern neben dem Kampf gegen autoritäre Strukturen inner- wie außerhalb der Universitäten verband, war der Protest gegen den Vietnam-Krieg. Er verlieh den Protesten eine transnationale Dimension, während die Bildungsssysteme (trotz der international zu beobachtenden Bildungsexpansion) große nationale Unterschiede aufwiesen. In Deutschland kam noch der Protest gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze hinzu. Auch spielte hier die Thematisierung der NS-Vergangenheit eine größere Rolle als anderswo.
Obwohl die Proteste durchaus allgemeinpolitische Themen ansprachen und einige Gruppen das Bündnis mit anderen Kräften wie Gewerkschaften suchten, sprang der Funke auf die Arbeiter nur in Frankreich und in Italien über. In Paris besetzten die Studenten im Mai 1968 die ehrwürdige Sorbonne und Arbeiter traten in "wilde" Streiks mit dem etwas diffusen Ziel der Selbstverwaltung. In Italien fanden Arbeitskämpfe erst im Herbst 1968 statt, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. In Großbritannien blieben die Proteste, die ihren Höhepunkt im Oktober 1968 erreichten, weitgehend friedlich. Die Proteste und Aktionen in Deutschland erreichten ihre Höhepunkte nach der Erschießung Benno Ohnesorgs im Juni 1967, mit dem internationalen Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968.
Die Bewertung von "68" ist bis heute umstritten. In ihren unmittelbaren Zielen ist die Protestbewegung weitgehend gescheitert, aber sie trug doch zu den bereits früher einsetzenden Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in Westeuropa bei. Für die Geschichte der Jugend ist zu konstatieren, dass der Versuch einiger Theoretiker der "neuen Linken" scheiterte, die Studenten zur neuen Avantgarde der sozialistischen Revolution zu machen, . Was dagegen blieb, war eine kommerzialisierte Jugendkultur, die sich sowohl nach außen gegenüber der dominanten Kultur als auch nach innen durch Differenzierung in verschiedene Subkulturen abgrenzte. Dass sich verschiedene Jugendkulturen vor allem über das Hören bestimmter Musik und das Tragen bestimmter Kleidung definieren (Punks, Gruftis, Hippies, Skinheads u.a.), ist für uns heute selbstverständlich, aber doch historisch gesehen eine recht junge, an den Durchbruch des Massenkonsums gebundene Erscheinung. Die meisten dieser Jugendkulturen sind unpolitisch, aber eine Politisierung sowohl von links wie auch von rechts ist keineswegs ausgeschlossen.

Montag, 2. Juni 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Die "neue Frau"

Die Vorlesung fragt am Beispiel der "neuen Frau" nach dem Wandel der Geschlechterstereotypen und Geschlechterverhältnisse im Westeuropa der 1950er und 60er Jahre. Im 19. Jahrhundert war die Trennung der Geschlechter und die stereotype Zuordnung von Frauen auf die häusliche Sphäre verschärft worden. In der Konsumgesellschaft des 19. Jahrhunderts kam der Frau, jedenfalls in den oberen und z.T. in den mittleren Schichten, die Funktion zu, den Wohlstand des Mannes zu demonstrieren (Thorstein Veblen). Die Damenmode war daher fortwährend im Wandel begriffen, während die (bürgerlichen) Herren sich scheinbar daraus zurückzogen und einen schlichten dunklen Anzug trugen.
Die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts kämpfte für das Recht auf Bildung, auf Erwerbsarbeit und das Wahlrecht. Diese Forderungen wurden erst im 20. Jahrhundert verwirklicht: das Wahlrecht in Deutschland 1918, in Großbritannien 1928, in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien oder Belgien erst in den 1940er Jahren. Bis 1977 konnte in der Bundesrepublik Deutschland der Ehemann gegen die Erwerbsarbeit seiner Frau Einspruch einlegen, wenn dies seiner Meinung nach zu einer Beeinträchtigung ihrer häuslichen Pflichten führte.
Zwar war der Begriff "new woman" auch schon in den USA der Jahrhundertwende gebräuchlich, aber die eigentlichen Vorläufer waren die "flappers" der 20er Jahre, die eine neue Mode (kurze Haare, schlanke Figur, Verzicht auf Mieder) einführten und einen unabhängigen Lebensstil pflegten. Diese Bewegung dürfte sozial beschränkt gewesen sein.
Das wichtigste Medium zur Popularisierung des neuen Frauenbildes waren die Frauenzeitschriften. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg begannen sie, arbeitende Frauen darzustellen, und Feministinnen wie Eleanor Roosevelt schrieben Artikel für Zeitschriften wie "Woman´s Home Companion". In Westeuropa waren es Zeitschriften wie "Elle" in Frankreich (ab 1947) oder die "Brigitte" (nach einer Neugestaltung 1957), die das neue Frauenbild propagierten. Die "neue Frau" wurde darin durchweg als modern, selbstbewusst (aber dennoch in einer festen Partnerschaft lebend) und konsumorientiert porträtiert. Die "neue Frau" konsumierte, so die Botschaft, nun mehr für sich selber anstatt immer nur die Wünsche des Mannes zu erfüllen. Ein solcher Konsumfeminismus ("commodity feminism", Robert Goldman) war lukrativ. Viele Frauenzeitschriften bestanden im Wesentlichen nämlich aus Werbung: ungefähr zur Hälfte aus gekennzeichneter Werbung und zu einem weiteren Viertel aus redaktionellen Kaufempfehlungen, bei denen es sich um verdeckte Werbung gehandelt haben dürfte.
Die "neue Frau" war aber nicht nur ein Medienphänomen. Obwohl in den 50er Jahren in einigen Ländern wie Italien oder Irland die katholische Kirche einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatte und das Ideal der Mütterlichkeit stark betont wurde (Marina D´Amelia), nahm die Erwerbsarbeit von Frauen seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu. Zunehmend gingen vor allem auch verheiratete Frauen arbeiten, während nach den traditionellen Vorstellungen Frauen nur bis zur Heirat einer außer-häuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen durften.
Die ob-Werbung aus der "Brigitte" von 1957 demonstriert das neue Frauenbild. Die moderne Frau ist unabhängig (als Hausfrau, Mutter oder im Beruf) und genießt das Leben, während die Großmutter auf vieles verzichten musste:
Der Frauenbewegung der 70er Jahre war das Ideal der "neuen Frau" jedoch nicht mehr emanzipiert genug. Die Frauenzeitschriften gerieten zunehmend in die Kritik einer neuen Generation von Feministinnen, haben aber dennoch eine große Leserschaft. Die "neue Frau" ist heute aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden, könnte aber in der Praxis durchaus weiterleben. Dieses Frauenbild stellt eine in gewisser Weise durchaus angemessene Reaktion auf den Durchbruch des Massenkonsums dar: Frauen wurden zwar schon traditionell mit Konsum (und Männer mit Produktion) identifiziert, aber dennoch konnte die Frau als Konsumentin um ihrer selbst Willen neu entdeckt werden. Damit vereinigte sich eine Auflockerung, wenn auch nicht unbedingt Ablösung, der traditionellen Geschlechterrollen mit der Ausweitung des Konsums.