Donnerstag, 25. Juni 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Außenpolitik, europäische Einigung

Die Außenbeziehungen der westeuropäischen Staaten sind und waren sehr komplex. Allgemeine Urteile lassen sich schwer fällen, da jedes Land eigene Traditionen hat und die EU bisher keine gemeinsame Außenpolitik macht, so dass letztlich jedes Land eigene Akzente setzen kann. Die meisten westeuropäischen Länder gehören der NATO an, aber manche (wie etwa Norwegen oder die Schweiz) sind auch neutral. Die wichtigsten außenpolitischen Veränderungen, die Westeuropa seit 1970 betrafen, waren die europäische Einigung und die Auflösung des Ostblocks.

Während die 50er und 60er Jahre noch vom "Kalten Krieg" gekennzeichnet waren, der Europa und die Welt mehrmals an den Rand eines Atomkriegs brachte (insbesondere in der Kuba-Krise 1962), entspannte sich das Verhältnis zwischen West und Ost um 1970. In der Bundesrepublik regierte seit 1969 die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt, der mit der so genannten "Ostpolitik" mehrere bilaterale Verträge mit Warschauer Pakt-Staaten schloss, 1970 mit der UdSSR und mit Polen, 1972 mit der DDR und 1973 mit Tschechien. Hinzu trat das 1971 geschlossene Viermächteabkommen über Berlin. Erst mit diesen Verträgen war die Nachkriegsordnung auf ein sicheres Fundament gestellt, die Bundesrepublik verzichtete auf alle Gebietsansprüche und akzeptierte die nach dem Krieg entstandenen Grenzen. Auch das Verhältnis zwischen den Supermächten verbesserte sich, 1969 begannen die Rüstungskontrollverhandlungen SALT (Strategic Arms Limitation Talks) und START (Strategic Arms Reduction Talks, ab 1982), die, nach zum Teil langwierigen Verhandlungen, zu mehreren Abkommen führten: SALT I 1972 (Begrenzung der Zahl der Interkontinentalraketen, Verbot der Raketenabwehrsysteme), SALT II 1979 (Begrenzung der Zahl der strategischen Atomwaffen, einschließlich Bomber und Sprengköpfe; aber nicht vom US-Senat ratifiziert), START 1991 (Reduktion der strategischen Atomwaffen auf 1600 Trägersysteme mit 6000 Sprengköpfen). 1987 wurde der INF-Vertrag geschlossen, der die "doppelte Nullösung" für Mittelstreckenraketen in Europa brachte, und noch 2002 schlossen die USA und Russland (als Nachfolger der Sowjetunion) ein Abkommen, das die Zahl der strategischen Atomwaffen weiter reduzierte (auf 2200 Sprengköpfe).

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze kam es 1979 zu neuen Spannungen zwischen den Supermächten. Anlass war die sowjetische Invasion in Afghanistan, die zu einer neuen Eiszeit führte (wechselseitiger Boykott der Olympischen Spiele 1980 und 1984). Der sowjetischen Invasion wurden andere Motive unterstellt als sie wohl existierten, z.B. ein Zugang zu den ölreichen Gebieten des Mittleren Ostens. Ebenfalls 1979, aber nicht als Reaktion auf die Vorgänge in Afghanistan, fasste die NATO den so genannten "Doppelbeschluss", der die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Marschflugkörper (Cruise Missiles) in Europa vorsah, aber auch ein Gesprächsangebot an die Sowjetunion enthielt (daher Doppelbeschluss). Die Raketen wurden Anfang der 80er Jahre gegen den massiven Widerstand der westeuropäischen Friedensbewegung stationiert, aber nach dem INF-Vertrag 1987 wieder abgezogen bzw. vernichtet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte in der Sowjetunion bereits der Wandel eingesetzt, der mit dem Namen Michail Gorbatschow und den Begriffen "Glasnost" (Offenheit, Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) verbunden ist. Gorbatschow, der eine bis dahin eher unauffällige Parteikarriere gemacht hatte, wurde 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Sein Reformprogramm begann aber erst Anfang 1986 mit der Einführung von Meinungsfreiheit ("Glasnost") bzw. 1987 mit Wirtschaftsreformen ("Perestroika"). Sein Ziel war keineswegs die Abschaffung des Sozialismus, sondern dessen Verbesserung. Der Hintergrund ist in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion und anderer RGW-Staaten seit den späten 70er Jahren zu suchen. Viele hatten westliche Kredite aufgenommen, die sie nur schwer wieder zurückzahlen konnten. Polen war 1981 praktisch zahlungsunfähig. Als Gorbatschow in mehreren Äußerungen 1988 andeutete, dass die sozialistischen Länder ihren Weg frei wählen könnten, die Sowjetunion also im Fall von Reformen anders als noch 1968 nicht militärisch intervenieren würde, war die Voraussetzung für die demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa von 1989-91 geschaffen. Die meisten blieben friedlich, nur in Rumänien und in Jugoslawien kam es zu Gewalt. Das Tempo des Übergangs hing zum Teil von der regierenden kommunistischen Partei ab. In Polen und Ungarn suchten die Herrschenden frühzeitig den Dialog mit der Opposition, in Tschechien, Bulgarien oder der DDR hielten sie lange Zeit an ihrem Führungsanspruch fest und wurden in friedlichen Revolutionen im Herbst 1989 entmachtet. Die Sowjetunion selbst löste sich nach einem gescheiterten Putsch im August 1991 auf.

Die Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa war ein wichtiger Einschnitt in der europäischen Geschichte. Sie verstärkte durch die Auflösung des RGW die bereits vorhandenen Globalisierungsprozesse. Die Einführung der Demokratie verlief in den meisten Staaten (außer Weißrussland, Jugoslawien, der Ukraine oder Russland) erstaunlich problemlos. Dafür mussten alle ehemals sozialistischen Staaten ihr Wirtschaftssystem komplett umstellen und gingen durch eine Transformationskrise in den frühen 90er Jahren, die aber bald von einem Aufschwung abgelöst wurde, der vor allem von ausländischen Direktinvestitionen getragen war. Insofern gehören die mittel- und osteuropäischen Staaten zu den Gewinnern der Globalisierung. Trotz dieser Erfolge bleiben als Schattenseite die teils drastischen Einschnitte in den Sozialsystemen in der Transformationsphase.

Ausländische Direktinvestitionen in Mrd. US $, aus: Helga Schultz, Transformation 1

Auch darf nicht übersehen werden, dass nach 1990 der konventionelle Krieg nach Europa zurückkehrte, was bis dahin angesichts der Konfrontation der Atommächte für kaum vorstellbar galt. Zwischen 1991 und 1999 wurden im zerfallenden Jugoslawien mehrere primär ethnisch motivierte Kriege geführt (Zehntagekrieg in Slowenien 1991, Kroatienkrieg 1991-95, Bosnienkrieg 1992-95, Kosovokrieg 1998/99), in die auch die NATO nach langem Zögern eingriff. Auslöser für die zum Teil äußerst brutal geführten Kriege (ethnische Säuberungen, Massaker von Srebrenica im Juli 1995) waren ungelöste Minderheitenprobleme: der Serben in Kroatien, der Serben und Kroaten in Bosnien sowie der Albaner im zu Serbien gehörenden Kosovo.

Für mehr Stabilität in Mittel- und Osteuropa sollte die NATO-Osterweiterung sorgen, die 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn) bzw. 2004 (Slowenien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien) erfolgte. Heute, im Kontext der Ukraine-Krise, wird die NATO-Osterweiterung manchmal als Bruch der Zusagen gewertet, die westliche Politiker der Sowjetunion im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit 1990 gaben. In der Tat gab es wohl mündliche Aussagen in diese Richtung, sie wurden aber nie schriftlich fixiert (Sarotte).

Auch die Europäische Union (EU) nahm nach 1990 mehrere mittel- und osteuropäische Staaten auf (siehe Karte).


Quelle: www.europarl.europa.eu


 Insgesamt ist die Geschichte der EU und ihrer Vorgänger (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, Europäische Gemeinschaft, EG) eine Geschichte der zunehmenden Integration und Erweiterung, allerdings nicht ohne Rückschläge. In den 50er Jahren scheiterte das Projekt einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG), in den 60er Jahren scheiterte eine Aufnahme Großbritanniens am hartnäckigen Widerstand der damaligen französischen Regierung, und in den 80er Jahren kämpfte die britische Regierung letztlich erfolgreich für eine Ermäßigung ihrer Beiträge ("Britenrabatt" 1984). Den Kern der EG bzw. EU machten die sechs Gründungsmitglieder der EWG (1957) aus: Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder. 1973 traten Dänemark, Großbritannien und Irland bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien und 1995 Österreich, Schweden und Finnland. In Westeuropa fehlten damit außer einigen Zwergstaaten nur die Schweiz, Norwegen und Island.

Parallel zur geographischen Ausweitung erhielt die EU immer neue Kompetenzen und musste angesichts der zunehmenden Mitgliederzahl auch die Prozeduren zur Entscheidungsfindung reformieren. Ursprünglich war im entscheidenden Gremium, dem Rat (in dem je ein Vertreter jedes Landes saß) Einstimmigkeit vorgesehen. Schon in den späten 80er Jahren, als es darum ging, den europäischen Binnenmarkt zu schaffen (Vertrag von Maastricht 1992), wurden zunehmend qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eingeführt. Parallel stiegen die Befugnisse des 1979 erstmals direkt gewählten Europäischen Parlaments. Seit 2009 (Vertrag von Lissabon) ist im Rat eine doppelte Mehrheit nötig (55 % der Staaten, die zusammen 65 % der Bevölkerung repräsentieren).

Die EWG war lange Zeit wenig mehr als eine Freihandelszone mit einem Ausgleich für die Landwirtschaft ("Gemeinsame Agrarpolitik" seit 1962), der den Strukturwandel in diesem Bereich abfedern sollte. Die Abschaffung der Zölle wurde nach 1957 schrittweise verwirklicht. Einen neuen Integrationsschub gab es erst mit dem 1992 verwirklichten EU-Binnenmarkt, der über eine Freihandelszone hinaus ging und die vier Freiheiten (der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen und der Arbeitskräfte) umfasste. Im Kern ging es um die Abschaffung so genannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, was die Harmonisierung vieler Vorschriften oder die gegenseitige Anerkennung (was in einem EG-Land erlaubt ist, darf in einem anderen nicht verboten sein) mit sich brachte. Dennoch blieb der EU-Haushalt lange Zeit von den Agrarausgaben dominiert. Erst nach und nach wuchs der Anteil der so genannten Strukturfonds, die vor allem strukturschwache Regionen in Europa fördern sollten.


Nicht alle Länder der EU wollten alle Integrationsschritte mitgehen. Daher kam es seit den 90er Jahren zunehmend zu einer differenzierten Integration: So wurden zwar im Schengener Abkommen die Grenzkontrollen zwischen den beteiligten Ländern, nicht aber an den EU-Außengrenzen, abgeschafft, aber nicht alle EU-Staaten traten diesem Abkommen bei (z.B. Großbritannien und Irland), dafür umfasst der Schengen-Raum auch Nichtmitglieder der EU (Norwegen, Schweiz, Island). Die Einführung des Euro (als Verrechnungseinheit 1999, als Bargeld 2002) beschränkte sich ebenfalls auf zuerst 11, mittlerweile 19 der 28 EU-Staaten. In Westeuropa fehlen allerdings nur Großbritannien und Dänemark.

Insgesamt war die EU bis zur Eurokrise eine Erfolgsgeschichte. Die Mischung aus wirtschaftlicher Integration, von der wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland profitierten, und Strukturbeihilfen für schwächere Länder machte sie für viele Länder attraktiv. In der Eurokrise zeigte sich jedoch, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ein Strukturfehler ist. Das bedeutet nicht unbedingt, dass der Euro gescheitert ist, aber es gibt sicher Nachbesserungsbedarf. Trotz aller Probleme ist die europäische Integration eine insgesamt vernünftige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die europäischen Unternehmen profitieren von dem größeren Binnenmarkt und schwächere Regionen bekommen die Chance, durch Investitionen in Bildung oder Infrastruktur ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Zu verkennen ist aber auch nicht, dass das gemeinsame europäische Bewusstsein immer noch recht schwach ausgeprägt ist und viele Länder (arme wie reiche) primär wegen der wirtschaftlichen Vorteile EU-Mitglieder sind.






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