Donnerstag, 28. Mai 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Soziale Bewegungen

Ein Kennzeichen der 70er Jahre war das Aufkommen so genannter "neuer" sozialer Bewegungen. Der Begriff erscheint erst ab Ende der 70er Jahre. Gemeint ist damit eine Sammelbezeichnung für soziale Bewegungen, die sich von den "alten" sozialen Bewegungen (gemeint ist damit meist die Arbeiterbewegung) in mehrfacher Hinsicht unterschieden. Zum einen konzentrierten sie sich nicht mehr primär auf materielle Gewinne, sondern auf einen Zugewinn an Lebensqualität oder auf Identitätsfragen. Auch der erneute Zulauf für regionalistische Bewegungen seit den 70ern folgt diesem Muster. Zum anderen favorisierten die neuen sozialen Bewegungen wenigstens teilweise andere Organisations- und Protestformen. Neben die klassischen Streiks und Demonstrationen traten Aktionen zivilen Ungehorsams wie Blockaden oder Bauplatzbesetzungen. Diese Aktionsformen waren der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entlehnt. Klassische Beispiele für die neuen sozialen Bewegungen sind die (neue) Frauenbewegung, die Umweltbewegung, die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensbewegung.

In gewisser Weise ist es aber irreführend, die Zeit seit 1970 als Zeitalter der neuen sozialen Bewegungen zu bezeichnen. Schließlich waren die "alten" sozialen Bewegungen noch lange nicht am Ende. Im Gegenteil fielen einige der größten Streiks und Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte in die 80er und 90er Jahre. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher erstens auf die "alten" und zweitens auf die "neuen" sozialen Bewegungen. Drittens soll der politische Terrorismus in Westeuropa behandelt werden, der in den 70er und 80er Jahren gleichfalls verstärkt auftrat.

Streiks

Betrachtet man die Häufigkeit und Intensität von Streiks, gemessen in ausgefallenen Arbeitstagen, so stechen zwei Elemente hervor. Zum einen in zeitlicher Hinsicht: die Hochzeit der Streikaktivitäten lag in den 80er und 90er Jahren, nicht in den als krisenhaft empfundenen 70ern. Zum anderen in der Aufschlüsselung nach Ländern: klarer Spitzenreiter ist Frankreich. Alle anderen Länder (es sind nur die größeren westeuropäischen Länder dargestellt) haben ab und zu größere Streiks zu verzeichnen, aber Frankreich in der Zeit zwischen Mitte der 80er und Mitte der 90er Jahre ist konkurrenzlos. Das liegt u.a. daran, dass es in Frankreich eine Tradition der politischen Massenstreiks gibt, d.h. Streiks werden benutzt, um politische Forderungen durchzusetzen, was in Deutschland verboten ist.

Quelle: ILO

Quelle: ILO
Betrachtet man einzelne Streiks näher, so stechen mehrere große Auseinandersetzungen hervor. Zu nennen wäre hier vor allem der britische Bergarbeiter-Streik von 1984/85. Ohne die Kenntnis dieser massiven Streikbewegung, eine der größten in der britischen Geschichte, ist die Geschichte und Kultur Großbritanniens in dieser Zeit nicht zu verstehen. Die Ursache der Konfrontation lag in der beabsichtigten Schließung von staatlichen Kohlebergwerken in Nordengland durch die konservative britische Regierung unter Margaret Thatcher. Dagegen mobilisierte die National Union of Mineworkers (NUM) unter ihrem Vorsitzenden Arthur Scargill. Beide Seiten zeigten sich unnachgiebig, so dass der Streik fast genau ein Jahr dauerte (März 1984-März 1985), dann aber mit einer völligen Niederlage der Bergleute endete. In diesem Zeitraum kam es immer wieder zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und streikenden Bergleuten, vor allem dann, wenn Streikbrecher unter Polizeischutz in die Minen gebracht wurden. Der Streik war in gewisser Weise ein Resultat der Deindustrialisierung Westeuropas. Der Kohlebergbau wurde überall zurückgefahren, in Deutschland z.B. im Ruhrgebiet. Ähnliche Streikbewegungen gab es in Deutschland in Duisburg-Rheinhausen 1987/88 anlässlich der geplanten Schließung eines Stahlwerks und 1993 bei der Schließung eines Kalibergwerks in Bischofferode (Thüringen). Keine dieser Arbeitskämpfe nahm aber solche Ausmaße an wie der britische Bergarbeiter-Streik. Seine Heftigkeit erklärt sich daraus, dass beide Seiten nicht auf Konsens orientiert, sondern primär ideologisch motiviert waren: Thatcher war eine Vorreiterin der neoliberalen Ideologie und wollte den bis dahin starken Einfluss der Gewerkschaften beschneiden. Scargill seinerseits war überzeugter Marxist und sympathisierte mit den sozialistischen Regimes in Mittel- und Osteuropa. Die Niederlage der Gewerkschaften schwächte die britische Gewerkschaftsbewegung nachhaltig.

Einer der größten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte fand gleichzeitig statt, nämlich April bis Juli 1984. Es war der Streik der Metallarbeiter und Drucker für die Einführung der 35-Stunden-Woche. War der britische Bergarbeiter-Streik seiner Natur nach defensiv angelegt, so verhielt es sich hier anders. Die bundesdeutschen Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, handelten aus einer Position der Stärke und wollten offensiv Verbesserungen durchsetzen. Die Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) gehört zu den klassischen Forderungen der Arbeiterbewegung. Der Streik bewies, dass die "alte" Arbeiterbewegung keineswegs tot war und endete mit einem Kompromiss, nämlich der  Einführung der 38,5-Stunden-Woche, allerdings mit flexiblen Ausnahmeregeln.

In Frankreich fanden große Streiks 1995 und 2006 statt. In beiden Fällen richtete sich die Streikbewegung gegen geplante Reformmaßnahmen der Regierung. 1995 war es  der "Plan Juppé", benannt nach dem damaligen konservativen Premierminister, der eine Reihe von Reformen in den Sozialsystemen vorsah. Besonders umstritten war die Erhöhung der Anwartschaftszeiten in der Rentenversicherung der staatlich Beschäftigten. Der Streik im November und Dezember 1995 wurde daher primär von den Beschäftigten des öffentlichen Sektors getragen, war aber dennoch der größte Streik in Frankreich seit dem berühmten Mai 1968. Juppé sah sich gezwungen, seinen Plan zurückzuziehen und wurde zwei Jahre später abgewählt. In leicht veränderter Form wurden seine Pläne aber 2003 unter der Regierung Fillon durchgesetzt. 2006 betraf der Protest geplante Arbeitsmarktreformen. Geplant war, die Jugendarbeitslosigkeit dadurch zu verringern, dass junge Menschen (bis 26) innerhalb der ersten zwei Jahre ihrer Beschäftigung ohne Angabe von Gründen wieder gekündigt werden konnten (also eine Verlängerung der Probezeit). Das sollte Unternehmen ermuntern, mehr junge Menschen wenigstens vorübergehend einzustellen, rief aber den Protest von Jugendlichen und Studenten hervor, dem sich daraufhin die Gewerkschaften anschlossen. Die Proteste dauerten ungefähr zwei Monate (Februar-April) und endeten wiederum mit der Rücknahme der umstrittenen Reformmaßnahme durch die Regierung.

Wie der Überblick zeigt, waren die großen Streikbewegungen an nationalen Themen orientiert. Die Streiks in Deutschland und Großbritannien 1984 fanden zwar gleichzeitig statt, hatten aber ganz unterschiedliche Zielsetzungen. Die Proteste in Frankreich 1995 blieben eine französische Angelegenheit. Ansätze zu einem "Euro-Streik" gab es anlässlich einer Werksschließung von Renault in Belgien im März 1997, als Arbeiter in Belgien, Frankreich und Spanien gemeinsam gegen die Pläne streikten und demonstrierten. Aber dies blieb doch Episode.

Neue Soziale Bewegungen

Weitaus internationaler waren da von Beginn an die neuen sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren. Sie umfassten sehr unterschiedliche Bewegungen. Am häufigsten genannt werden die Frauen-, die Friedens-, die Umwelt- und die Anti-AKW-Bewegung. Daneben existierten zahlreiche andere,  z.B. die Dritte Welt- bzw. Eine Welt-Bewegung, die Tierrechtsbewegung, Bewegungen für Minderheitenrechte (Homosexuelle, Behinderte etc.), die Hausbesetzer, die Antifa etc. Die Umweltbewegung wird gesondert behandelt, hier soll kurz auf die Frauen- und Friedensbewegung  sowie die so genannten "Globalisierungsgegner" eingegangen werden.

Die "neue" Frauenbewegung entstand in Westeuropa am Ende der 60er Jahre. Teilweise war sie ein Kind der 68er-Bewegung, in der die Frauenfrage allerdings gerade keinen Schwerpunkt bildete. Aus der Kritik an den patriarchalischen Verhältnissen in der 68er-Bewegung wie in der Gesellschaft im Allgemeinen erwuchsen neue Aktionen und Organisationen, die die Belange von Frauen in den Mittelpunkt stellten. Im Gegensatz zur älteren Frauenbewegung (des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) beschränkte sich die neue Frauenbewegung nicht auf die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung (z.B. im Wahlrecht, im Bildungszugang oder im Berufsleben), sondern thematisierte unter dem Schlagwort "Das Private ist politisch" die Diskriminierung von Frauen  in allen gesellschaftlichen Sphären, auch in der Familie, der Sexualität usw. Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung blieb zentral, wo sie noch nicht erreicht war. Aber daneben ging es um andere Themen, z.B. Schwangerschaftsabbruch, Eherecht, Verhütung, Kinderbetreuung, Gewalt gegen Frauen, Pornographie, Unterrepräsentation von Frauen in öffentlichen Ämtern und gesellschaftlichen Führungspositionen, gleiche Bezahlung etc. Zu den ersten öffentlichkeitswirksamen Aktionen gehörten in Frankreich die Kranzniederlegung am Arc de Triomphe für die Frau des unbekannten Soldaten am 26. August 1970, in England eine Demonstration für Frauenrechte in London am 8. März 1971 oder die öffentlichen Bekenntnisse von Frauen in Frankreich und Deutschland 1971 zum Schwangerschaftsabbruch ("Wir haben abgetrieben" bzw. "manifeste des 343"), was damals in beiden Ländern eine Straftat darstellte (veröffentlicht im "Nouvel Observateur am 5. April 1971 und im "Stern" am 6. Juni 1971).

 



Die neue Frauenbewegung war von Anfang an international. Die Themen glichen sich in den meisten westlichen Ländern. Ihre Inspiration bezog sie aus den USA, wo die neue Frauenbewegung bereits in den 60er Jahren begonnen hatte. Einer ihrer zentralen Texte, Betty Friedans "Feminine Mystique" von 1963 wurde in viele Sprachen übersetzt (deutsch: Der Weiblichkeitswahn, 1966). Eine französische Ausgabe erschien 1964, eine italienische und eine dänische in demselben Jahr, eine spanische 1965, eine finnische 1967, eine niederländische 1971 usw.

Die Wirkung der Frauenbewegung lässt sich weniger an konkreten Gesetzesänderungen messen, obwohl auch diese erfolgten (z.B. Änderung des Scheidungsrechts oder Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs), sondern sie bestand vielmehr in der Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Dass beispielsweise heutzutage sogar die CDU im Bundestag für ein Gesetz zur Quotierung von Vorständen großer Unternehmen stimmt (März 2015), ist sicher ein Verdienst der Frauenbewegung. Seit einigen Jahren wird die Frauenbewegung allerdings von einer neuen Debatte erfasst, nämlich der über den Umgang mit ethnischen Minderheiten. Insbesondere in Frankreich machten Feministinnen wie Samira Bellil und Fadela Amara auf die Unterdrückung von muslimischen Frauen in den französischen Vorstädten aufmerksam. Die Bewegung "ni putes ni soumises" (Weder Huren noch Sklavinnen) machte 2003 mit dem "Marsch der Frauen aus den Vorstädten" auf sich aufmerksam. Sie fand großes Medienecho, zog allerdings auch Kritik auf sich, die ihr eine islamfeindliche Haltung vorwarfen. Die Herausforderung für die Frauenbewegung, nicht nur in Frankreich, besteht darin, die spezifische Situation von Frauen mit Migrationshintergrund zu thematisieren, ohne sich für ausländerfeindliche Strömungen instrumentalisieren zu lassen.


Eine weitere neue soziale Bewegung, die vor allem die 80er Jahre prägte, war die Friedensbewegung. Ähnlich wie die Frauenbewegung kann die Friedensbewegung auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits in den 50er Jahren kam es in der Bundesrepublik zu Protesten gegen die Wiederbewaffnung oder die Kampagne "Kampf dem Atomtod" (gegen Atomwaffen). Die britische "Campaign for Nuclear Disarmament" führte 1958 die bis heute international abgehaltenen Ostermärsche ein. Trotz dieser Vorläufer erreichte die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre eine neue Qualität aufgrund der hohen Teilnehmerzahlen, die in die Hunderttausende gingen (die genauen Zahlen sind, wie immer, umstritten).

Anlass für die Proteste war der so genannte "NATO-Doppelbeschluss" von 1979, der die Stationierung von amerikanischen Marschflugkörpern (Cruise Missiles) und Mittelstreckenraketen (Pershing II). Kritiker befürchteten, diese neuen, zielgenaueren Raketen würden nicht nur eine neue Runde des Wettrüstens einläuten, sondern den USA die Fähigkeit zum atomaren Erstschlag verleihen und somit einen Atomkrieg in den Bereich des Möglichen rücken. Große Demonstrationen fanden in vielen westeuropäischen Städten statt, z.B. in Bonn, Amsterdam, Den Haag, Brüssel, Kopenhagen, Rom, Madrid oder London zwischen 1981 und 1983.  Einige dieser Demonstrationen gehörten zu den größten in der Geschichte ihres jeweiligen Landes. Hinzu kamen vielfältige andere Aktionsformen, beispielsweise Sitzblockaden oder Menschenketten an Atomwaffen-Standorten (z.B. Mutlangen, Greenham Common, Comiso). Schwächer war die Bewegung in Frankreich, das nicht militärisch in die NATO integriert war und über eigene Atomwaffen verfügte. In Spanien protestierte sie vor allem gegen die beabsichtigte militärische Integration in die NATO.

Zwar wurden immer wieder weitergehende Forderungen artikuliert, z.B. nach dem Verbot der Neutronenbombe oder der Bildung von atomwaffenfreien Zonen, aber im Kern war die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre eine klassische Ein-Punkt-Bewegung. Ihr Ziel erreichte sie zwar nicht direkt, aber 1987 einigten sich die USA und die Sowjetunion auf die so genannte "doppelte Nulllösung", also den Abzug von US-amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen aus Europa. Damit, und mit dem Beginn der sowjetischen "Perestroika", war die Kriegsfurcht der Europäer beendet. Zu einem Wiederaufleben der Friedensbewegung kam es 1990/91 im Zuge des Zweiten Golfkrieges und 2003 mit der US-geführten Invasion in den Irak. Für Kontroversen innerhalb der Friedensorganisationen sorgte dagegen der Jugoslawienkrieg der 90er Jahre.

Die Friedensbewegung der 80er Jahre war international, auch wenn die Akzentuierung von Land zu Land unterschiedlich sein mochte (z.B. spielten Atom-U-Boote in Großbritannien eine stärkere Rolle als in Deutschland). Sie hatte eine europäische Ausrichtung mit teilweise anti-amerikanischen Untertönen, obwohl sich auch in den USA unter Reagan eine starke Friedensbewegung bemerkbar machte. Die Anhänger der Friedensbewegung (wie der neuen sozialen Bewegungen allgemein) gehörten überwiegend den Mittelschichten an. Arbeiter fanden sich eher selten darunter. Die meisten waren jung oder mittleren Alters, besaßen ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, neigten politisch eher nach links, kamen teilweise auch aus kirchlichen Kreisen.

Eine letzte, hier zu erwähnende soziale Bewegung ist die der so genannten Globalisierungsgegner oder besser Globalisierungskritiker. Diese Bezeichnungen sind etwas irreführend, denn die Bewegung richtet sich nicht gegen die Globalisierung an sich, sondern gegen die Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen und insbesondere gegen die Macht der multinationalen Konzerne. Als Bibel der Bewegung gilt das 2000 erschienene Buch von Naomi Klein "No Logo". Darin werden die Verlagerung der Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländer und die dort herrschenden Produktionsbedingungen kritisiert. Zudem wird der Verlust kultureller Vielfalt durch die Dominanz multi-nationaler Konzerne sowie der Verlust an Öffentlichkeit durch die Privatisierung des öffentlichen Raums (in shopping malls) beklagt.

Die Aktionsformen der Bewegung bestanden in Demonstrationen am Rande von internationalen Gipfeltreffen (der Welthandelsorganisation WTO oder der G8 bzw. G7), die von Ausschreitungen militanter Demonstranten, aber auch von Polizeigewalt begleitet waren. Sie begannen in Seattle am Rande eines WTO-Treffens 1999 und erreichten Europa im Juli 2001 mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen am Rande des G8-Gipfels in Genua mit Hunderten Verletzten und einem Toten. In den Medien dominiert die Berichterstattung über die gewaltsamen Aktionen. Dabei wird übersehen, dass die überwiegende Mehrheit der Demonstranten friedlich bleibt. Seit 2001 gibt es als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum ein Weltsozialforum, in dem sich "Globalisierungskritiker" aus aller Welt zum Gedankenaustausch treffen. Das Spektrum ist sehr heterogen, von Gewerkschaften über Umweltgruppen und kirchlichen Initiativen bis hin zu kubanischen Regierungsorganisationen. Ob sich hier wirklich, wie manche meinen, eine transnationale Zivilgesellschaft bildet, ist allerdings umstritten. Eine Studie über das globalisierungskritische Netzwerk "attac" kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass nationale Unterschiede dort keineswegs verschwinden (Strobel 2011).

Politischer Terrorismus

Terrorismus war in den 70er Jahren keinesfalls neu. Politisch motivierte Attentate auf prominente Persönlichkeiten oder symbolisch aufgeladene Bauwerke hatte es im 19. Jahrhundert immer wieder gegeben. Insofern ist eher das relative Verschwinden des politischen Terrorismus in Westeuropa in den 50er und 60er Jahren bemerkenswert. Der heute so prominente islamistische Terrorismus war noch kein Thema. Die terroristischen Bewegungen der 70er und 80er Jahre waren vor allem die linksterroristischen Gruppen "Rote Armee Fraktion" (Deutschland, 1970-93), die "Brigate Rosse" (Italien, 1970-88) und die "Action Directe" (Frankreich, 1979-87). Hinzu kamen die separatistischen Terrorgruppen ETA (Baskenland, 1959-2011) und die IRA (irisch-republikanische Armee, Irland/Großbritannien, bis 2005). Die separatistischen Gruppen haben eine längere Vorgeschichte, die in dem Unabhängigkeitsstreben der Basen von Spanien und der Iren von Großbritannien besteht. Insofern war der Terrorismus nicht völlig neu, aber er verstärkte sich doch. Zudem verwendeten auch die separatistischen Gruppen in den 70er Jahren zunehmend linke rhetorische Formeln, so dass zeitweise eine terroristische Internationale zu drohen schien.

Die linksterroristischen Gruppen in Deutschland und Italien waren radikalisierte Ausläufer der 68er-Bewegung und knüpften teilweise an deren Programmatik an. Ihre Anschläge richteten sich gegen hochgestellte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, aber auch gegen US-Militärbasen. Zu einer dramatischen Zuspitzung führte der Terror der RAF im Herbst 1977 mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht werden sollte, was die Bundesregierung aber verweigerte. Palästinensische Terroristen entführten gleichzeitig eine Lufthansa-Maschine und erklärten sich mit den Forderungen der RAF solidarisch. Das Flugzeug wurde am 18. Oktober von deutschen Sicherheitskräften befreit und drei inhaftierte Terroristen (Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe) begingen Selbstmord. Schleyer wurde von der RAF erschossen.

Eine ähnliche Zuspitzung, wenn auch nicht ganz so dramatisch, erlebte Italien mit der Entführung des christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro vom 16. März bis zum 9. Mai 1978. Er sollte ebenfalls gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht werden. Auch die italienische Regierung lehnte dies ab, und Moro wurde erschossen. In Italien wurde die Lage allerdings zusätzlich dramatisiert durch die zwar nicht offiziell legitimierte, aber von Teilen des Sicherheitsapparates zusammen mit Rechtsextremisten verfolgte "Strategie der Spannung". Sie bestand darin, dass Terroranschläge verübt wurden, die den linken "Brigate Rosse" in die Schuhe geschoben werden sollten. Damit sollte nicht nur der Linksterrorismus, sondern die Linken generell diskreditiert werden. Trauriger Höhepunkt war der von Neofaschisten verübte Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980, der 85 Menschenleben forderte.

Wie weit die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen terroristischen Gruppen ging, ist nicht genau bekannt. Internationale Kontakte hatte die RAF durchaus. So hielten sich RAF-Terroristen zu Ausbildungszwecken im Jemen auf, und ehemalige Mitglieder fanden in der DDR einen Rückzugsraum, in dem sie vor Strafverfolgung geschützt waren. Zu einem gemeinsamen Anschlag von RAF und Action Directe kam es im August 1985 (auf die Rhein-Main-Air Base). Kontakte soll es auch zu den Brigate Rosse gegeben haben, aber zu gemeinsamen Aktionen kam es wohl nicht. Insofern blieb der Terrorismus trotz aller internationalistischen Rhetorik überwiegend im nationalen Rahmen.

Das gilt auch für die IRA, die seit Beginn der 70er Jahre immer wieder spektakuläre Anschläge verübte, z.B. 1979, als sie 18 britische Soldaten und  Lord Mountbatton, den Onkel von Königin Elizabeth II., tötete, oder 1996, als eine 1.500 kg-Bombe in der Innenstadt von Manchester explodierte und große Flächen verwüstete (dort steht jetzt ein großes Einkaufszentrum). Die ETA operierte zwar in Spanien und Frankreich, die meisten Anschläge wurden jedoch in Spanien verübt. Auch hier gab es eine Häufung von Anschlägen, die sich teilweise gegen Sicherheitskräfte oder Politiker, teilweise jedoch auch gegen die Zivilbevölkerung richteten, am Ende der 70er Jahre. Von einer Globalisierung des Terrorismus lässt sich erst später sprechen, mit dem Aufkommen des islamistischen Terrorismus und insbesondere mit dem Attentat vom 11. September 2001.

Die Terrorismus-Hysterie der späten 70er Jahre war überzogen. Im Herbst 1977 wähnten sich manche Beobachter in einer Staatskrise. Dabei zeigte sich je länger, desto deutlicher, dass die Terroristen zwar einzelne Repräsentanten des ihnen verhassten Systems ermorden konnten, aber damit an den Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft nichts änderten. Insofern war der politische Terrorismus gescheitert. Das einzige greifbare Ergebnis war der Ausbau des Sicherheitsapparates. Zur Bekämpfung der RAF führte der damalige Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, die so genannte "Rasterfahndung" ein, die auf der Auswertung gesammelter elektronischer Daten basierte.











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