Montag, 18. Mai 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Krise des Sozialstaats

Seit den 70er Jahren ist immer häufiger von einer Krise des Sozialstaats die Rede. Auch in diesem Bereich gab es um 1970 einen Epochenwechsel. Während in den 50er und 60er Jahren die sozialen Sicherungssysteme, wenn auch in unterschiedlicher Form, in Westeuropa ausgebaut wurden, gibt es seit den 70er Jahren vermehrt Versuche, ihr Wachstum zu begrenzen oder gar das erreichte Niveau zurückzufahren. Wie weiter unten gezeigt wird, lässt sich zwar nicht von einem allgemeinen Sozialabbau sprechen, da auf der einen Seite Leistungen gekürzt und auf der anderen Seite neue eingeführt wurden, so dass die Sozialleistungsquote keineswegs zurückging. Andererseits war aber das Zeitalter des raschen Wachstums ebenfalls vorüber und der Rechtfertigungsbedarf für neue Ausgaben stieg.

Im Kern war und ist die Krise des Sozialstaats eine Finanzierungskrise. Natürlich werden in der Literatur auch andere Probleme angeführt, aber eine allgemeine Akzeptanzkrise ist zumindest in Europa, anders als in den USA, nicht zu erkennen. Die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik führte zwar auch dazu, von den Bürgern mehr Eigenverantwortung zu verlangen, aber eine soziale Bewegung, die gegen den Sozialstaat gerichtet ist, spielte in Europa keine Rolle.

Die Finanzierungskrise des Sozialstaats hat verschiedene Ursachen. Die einfachste ist zu erkennen, wenn man sich das Wachstum der Sozialleistungen in den 50er und 60er Jahren vor Augen führt. Trotz des beispiellosen Wirtschaftsbooms dieser Zeit wuchsen die Sozialausgaben immer stärker als die Wirtschaftsleistung (gemessen als Bruttoinlandsprodukt). Folglich wäre es auch ohne die Krisenerscheinungen der 70er Jahre schwierig gewesen, dieses Wachstumstempo durchzuhalten.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
 Das Diagramm zeigt die Entwicklung der Sozialleistungsquote, d.h. des Anteils der Sozialleistungen am BIP in der Bundesrepublik Deutschland von 1960 bis 2010. Bis Mitte der 70er Jahre wuchs diese Quote stark an, danach blieb sie konstant oder wuchs jedenfalls nur leicht.

Die Finanzierungskrise des Sozialstaats hat weitere, spezifische Ursachen. Das Auslaufen des Nachkriegsbooms engte die finanziellen Spielräume der öffentlichen Haushalte ein. Gleichzeitig entstand seit etwa Mitte der 70er Jahre mit der Massenarbeitslosigkeit ein neues Phänomen, das die Sozialkassen belastete. Die Ausgaben für Rente und Gesundheit stiegen aus mehreren Gründen: durch die steigende Lebenserwartung, die bessere medizinische Versorgung und den demographischen Wandel.

Indirekt ist die Krise des Sozialstaats auch eine Folge der Globalisierung. Zwar ist es nicht immer einfach, bei diesem Thema Rhetorik und tatsächliche Sachzwänge auseinanderzuhalten. In manchen Fällen wird "die Globalisierung" auch als Rechtfertigung verwendet, um ohnehin geplante Einschnitte durchzusetzen. Dennoch lässt sich die Behauptung, es handle sich bei der Globalisierung nur um einen Mythos, wohl nicht aufrecht erhalten. Dass das Niveau der sozialstaatlichen Sicherung aber in Westeuropa vergleichsweise hoch ist, verdeutlicht das folgende Diagramm.

Sozialausgaben in % des BIP in ausgewählten OECD-Ländern (2007); Quelle:  OECD
Deutschland befindet sich hier in einer Gruppe mit anderen europäischen Ländern, deren Sozialausgaben ähnlich hoch sind, wie Italien, Frankreich, Österreich, Dänemark, Schweden oder Belgien (um die 25 %). Niedriger, um die 20 %, sind sie in anderen europäischen Ländern wie Griechenland, Schweiz, Großbritannien, Polen, Tschechien oder Spanien. Nochmal deutlich niedriger, nämlich um die 15 %, sind sie in den USA und Australien; am niedrigsten in den Schwellenländern wie Mexiko, Südkorea, Türkei und Chile, wo sie nur zwischen 5 und 10 % betragen. Solche Unterschiede müssen volkswirtschaftlich kein Problem sein, da sie durch Produktivitätsunterschiede aufgefangen werden können. Aber dass die Sozialsysteme in Europa unter Druck geraten, wenn die globale Konkurrenz wächst, ist nicht überraschend.

Man sieht schon an dem unterschiedlichen Niveau der Sozialleistungen, dass hier immer noch nationale Unterschiede stark ins Gewicht fallen. Auch die Europäische Union hat sich bei der Harmonisierung von Sozialstandards bisher weitgehend zurückgehalten. Das führt dazu, dass sowohl die Systeme als auch das Leistungsniveau auch innerhalb von Europa sehr unterschiedlich sind. Traditionell unterscheidet man zwei Systeme, das deutsche "Bismarck"-  und das englische "Beveridge"-Modell. Das erste Modell beruht auf Sozialversicherungen, die als Pflichtversicherungen angelegt sind. Die Finanzierung erfolgt überwiegend aus den eingezahlten Beiträgen, im Gegenzug sind die Leistungen an die Höhe der Beiträge gekoppelt. Das englische Modell ist dagegen umfassender angelegt. Es wird aus Steuern finanziert, jeder (nicht nur Beitragszahler) ist anspruchsberechtigt, und die Auszahlung erfolgt nach einheitlichen Pauschalen. Im Moment gibt es zwar eine gewisse Annäherung zwischen den Modellen, aber immer noch große nationale Unterschiede.

Eine Studie von Anfang der 90er Jahre (Heise 1998) verdeutlichte die großen Unterschiede im Leistungsniveau innerhalb von Europa: 1992 betrug das Nettorentenniveau zwischen 37 % (Großbritannien) und 102 % (Griechenland), das Niveau des Arbeitslosengeldes zwischen 40-50 % (Griechenland) und 90 % (Dänemark). Die Unterschiede, auch hinsichtlich des Renteneintrittsalters, sind nach wie vor groß (zwischen 61 und 66 Jahren). Einheitlich ist dagegen die Tendenz, wie die folgende Grafik verdeutlicht. Unabhängig vom Ausgangsniveau gibt es in vielen Ländern Überlegungen, das Renteneintrittsalter zu erhöhen (und damit Kosten zu sparen).

Quelle: www.bundesregierung.de

Die Kostensenkung bei der Rentenversicherung steht somit nicht nur in Deutschland im Mittelpunkt. Auch in Schweden wurde 1999 eine Rentenreform durchgeführt, die die Beiträge auf 18,5 % des Einkommens deckelte und gleichzeitig eine kapitalgedeckte Komponente einführte. Solche von den US-amerikanischen Pensionsfonds inspirierten kapitalgedeckten Modelle werden derzeit überall diskutiert und z.T. schon eingeführt (in Deutschland die so genannte "Riester-Rente"). Ob sie sich wirklich dauerhaft als tragfähig erweisen, ist noch offen.

Gleichzeitig mit den Bemühungen um eine Kostensenkung wurden jedoch in den letzten Jahrzehnten auch neue Leistungen eingeführt, in der Bundesrepublik etwa die Pflegeversicherung (1995), das Erziehungsgeld (1986-2006), das 2007 vom Elterngeld abgelöst wurde, oder das umstrittene Betreuungsgeld (2013). Daher sinkt das Niveau der Sozialausgaben nicht, es findet vielmehr eine Umschichtung statt, von der Renten- und Arbeitslosenversicherung (wo die Arbeitslosenhilfe faktisch gestrichen wurde) zur Pflegeversicherung und zur Förderung der Kinderbetreuung.



Einsparungsmöglichkeiten ohne wesentliche Verschlechterung der Leistungen gäbe es, anders als bei der Rente, in der Krankenversicherung. So zeigt sich im europäischen Vergleich ein großer Unterschied in den Medikamentenpreisen: Niederländer zahlen für so genannte Generika nur ein Sechstel des Schweizer Preises und nur ein Viertel des dänischen Preises für patentabgelaufene Originalpräparate (Stand 2012, Binz 2013).

Die Zunahme der Arbeitslosigkeit seit den 70er Jahren war ein  internationales Phänomen, das nicht auf Westeuropa beschränkt blieb, sondern auch die USA oder Japan betraf. Dabei stieg die Arbeitslosigkeit nicht langsam und gleichmäßig, sondern in Schüben, etwa Mitte der 70er und Anfang bis Mitte der 80er Jahre.

Arbeitslosenquoten in ausgewählten Ländern (Quelle: Eurostat)

Das Diagramm verdeutlicht die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in verschiedenen europäischen Ländern seit Anfang der 80er Jahre. In einigen Ländern lag die Quote schon in den 80er Jahren bei über 15 %, so etwa Irland und Spanien. Andere Länder, wie etwa Schweden, hatten erst in den 90er Jahren eine Quote von über 5 %. In den 90er Jahren und danach, bis zur Finanzkrise, machten sich deutliche Konvergenztendenzen bemerkbar. Die Arbeitslosigkeit stabilisierte sich in allen Ländern auf einem mittleren Niveau zwischen 5 und 10 %. Seit 2007 jedoch geht die Schere wieder auseinander. Vor allem in südeuropäischen Ländern wie in Spanien oder Griechenland (nicht abgebildet) stieg die Arbeitslosigkeit wieder stark an.

Dass die Massenarbeitslosigkeit zu einer neuen Armut führte, war schon den Zeitgenossen bewusst. Die Begrifflichkeiten schwanken jedoch stark. Manche sprechen von "Prekariat" (was auf die prekären, d.h. schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnisse zielt), andere von neuer Unterschicht ("Underclass") oder von der "Zwei-Drittel-Gesellschaft", in der zwei Drittel in Wohlstand leben und ein Drittel in Armut. Das scheint jedoch überzogen, auch wenn sich jede Diskussion des Armutsbegriffs mit Definitionsproblemen befassen muss.

Als arm gelten in den statistischen Untersuchungen diejenigen Personen (oder Haushalte), die weniger als 60 % des mittleren (nach Haushaltsgröße gewichteten) Einkommens zur Verfügung haben (so genannte relative Armut). Das ist zunächst eine willkürliche Setzung, die häufig Kritik provoziert mit den Hinweis, dass in anderen Ländern viele Menschen mit weitaus weniger Geld auskommen müssen. Nichtsdestotrotz ist der relative Armutsbegriff sinnvoll, wenn man ihn nicht missversteht. Die von relativer Armut Betroffenen müssen nicht unbedingt hungern, aber sie können aufgrund finanzieller Einschränkungen nicht oder nur eingeschränkt am sozialen Leben teilnehmen, weil sie sich bestimmte Ausgaben für Freizeitaktivitäten nicht leisten können. Neu ist diese Armut deswegen, weil sie sich von der traditionellen Armut unterscheidet, die vor allem ältere Menschen traf.

Quelle: OECD, DW
Das Diagramm zeigt, dass der Anteil der Armen in den OECD-Staaten sehr unterschiedlich war und ist. Deutschland gehört zu einer Gruppe von westeuropäischen Ländern wie die Niederlande oder Frankreich, wo die Armut vergleichsweise wenige Menschen betrifft (das sagt nichts über den Grad der Armut aus). Deutlich höher ist der Anteil der Armen in südeuropäischen Ländern wie Italien und Griechenland sowie in Japan und den USA. Insgesamt nahm die Armut zwischen 1995 und 2010 in den meisten OECD-Ländern zu, besonders deutlich in Schweden, wo sie vorher sehr gering ausgeprägt war.

Die Armut nimmt also zu. Ob und wann sie ein gefährliches Maß erreicht, lässt sich nicht sagen. Andere Gesellschaften wie die USA akzeptieren offenbar ein deutlich höheres Maß an Ungleichheit (und damit auch Armut) als die Europäer. Offen ist auch die Frage, ob sich die Armen zu einer eigenen Schicht verfestigen im Sinne einer neuen Unterklasse. Bisher ist das zumindest in Deutschland nicht der Fall. Das soziale Profil der Armen ist deutlich: es sind insgesamt überwiegend Arbeitslose, meist jüngere Menschen und häufig schlecht ausgebildete. Gerade für letztere besteht ein hohes Risiko, wenigstens einmal im Leben in Armut abzurutschen. Dennoch sollte Armut nicht auf ein reines Bildungsproblem reduziert werden. Ob es nach den Rentenkürzungen in Europa zukünftig wieder Altersarmut geben wird, ist gleichfalls noch offen.






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