Donnerstag, 12. März 2015

Der Aufstieg des Westens

Globalgeschichte ist seit mehreren Jahren sozusagen in Mode in der deutschen Geschichtswissenschaft, aber auch nicht nur dort. Manche Kollegen meinen zwar, sie habe ihren Zenit schon überschritten, aber das kann hier nicht diskutiert werden. Aus der Perspektive der Konsumgeschichte ist vielmehr interessant, dass (neben zahlreichen neueren Einzelstudien) auch die Debatte um die "Great Divergence" oder den Aufstieg des Westens (vor allem im Vergleich mit den asiatischen Zivilisationen) zunehmend auf den Konsum als Argument zurück greift. Niall Ferguson in seinem Buch "Der Westen und der Rest der Welt" (2011) erklärt die Konsumgesellschaft sogar zu einer von insgesamt sechs "Killerapplikationen", die den Unterschied zwischen dem Westen und dem Rest der Welt ausgemacht hätten. Seine Ausführungen zum Thema konzentrieren sich auf den Konsum von Kleidung und schildern die Verwestlichung bzw. Globalisierung der Kleidung seit der Industriellen Revolution. Entscheidend für sein Argument scheint zu sein, dass die Industrielle Revolution (seiner Meinung nach) in der Textilindustrie ihren Ursprung hatte. Das sieht bekanntlich auch Sven Beckert so (King Cotton, München 2014), der allerdings daraus ganz andere Schlüsse zieht, nämlich dass der westliche Wohlstand auf Ausbeutung, Gewalt und Sklaverei beruht.

Nun könnte man darüber streiten, wie wichtig die Textilindustrie für die Industrielle Revolution war, aber das ist nicht der Punkt. Im Allgemeinen lässt sich doch der These zustimmen, dass ein aufnahmefähiger Binnenmarkt eine wichtige Voraussetzung für die Industrielle Revolution in Großbritannien war. Problematischer ist die Unterstellung, es habe etwas Vergleichbares wie die nordwesteuropäische und US-amerikanische Konsumgesellschaft in anderen, nicht-westlichen Regionen nicht gegeben. Andere Autoren wie Kenneth Pomeranz (The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton 2000) oder Craig Clunas (Superfluous Things. Material Culture and Social Status in early modern China, Honolulu 2004) haben bekanntlich argumentiert, es habe in China im 17. und 18. Jahrhundert ähnliche Entwicklungen gegeben, ja das Zentrum des Welthandels sei China mit seinen Luxusgütern wie Porzellan oder Seidentextilien gewesen.

Dieser Behauptung geht in einer neueren Publikation Peer Vries nach, der Großbritannien und China im "langen" 18. Jahrhundert miteinander vergleicht (Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums : England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2013).  Zwar behandelt nur ein kleiner Teil seines Werks den Konsum, und die entscheidenden Unterschiede sieht Vries anderswo, etwa in der Organisation der Landwirtschaft, dem Charakter des Staates oder der Bedeutung der Lohnarbeit. Jedoch bezweifelt er explizit, dass China im 18. Jahrhundert ein so hohes Wohlstandsniveau hatte wie bisweilen behauptet wird (S. 433). Die Frage wird sich mangels zuverlässiger Statistiken nicht eindeutig klären lassen.

Letztlich ist die entscheidende Frage aber, wie man eine globale Konsumgeschichte schreiben kann, ohne der Versuchung zu erliegen, entweder den (modernen) Konsum als  rein westliche Errungenschaft darzustellen und damit nur eine neue Geschichte des Aufstiegs des Westens zu schreiben, oder zu unterstellen, die asiatischen Gesellschaften hätten dieselben Merkmale gehabt (die "wir hatten das auch"-Position). Es fehlt an systematischen und vor allem differenzierten Vergleichen, die die Spezifik des westlichen Konsummodells herausarbeiten, dabei aber gleichzeitig anerkennen, dass nicht-westliche Gesellschaften ebenfalls Konsum kannten und die europäischen Gesellschaften von ihnen vieles übernahmen (man denke z.B. an das Kaffeehaus). In vielen nicht-westlichen Kulturen vor 1800 existierten große Städte und ausgedehnte Handelsbeziehungen. Sollte es hier keinen Konsum gegeben haben?

Ein möglicher Unterschied zwischen europäischen und asiatischen Konsumkulturen der Frühen Neuzeit betrifft die Mode im weiteren Sinn, nicht nur Kleidermode. Marco Belfanti (Journal of Global History 2008) hat die Frage diskutiert, ob sie eine europäische Erfindung sei, und kommt zu dem Schluss, dass Mode nicht nur auf den Westen beschränkt war, sie nur dort aber ihre volle Ausprägung erfahren habe. Auch neuere Studien über Konsum in Japan kommen zu dem Schluss, dass es in Japan bereits im 17. Jahrhundert Mode (v.a. in der Kleidung) gab (Penelope Francks / Janet Hunter (eds.), The Historical Consumer, Basingstoke 2012, S. 313ff.; Eiko Ikegami, Bonds of Civility, Cambridge 2005, S. 245). Die Frage, worin die Spezifik der europäischen (und der von ihr abgeleiteten nordamerikanischen) Konsumkultur lag, und inwiefern sie zum Aufstieg des Westens im 19. Jahrhundert beitrug, bleibt damit weiter offen.



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