Ein Gespenst geht um in Europa und der Welt: das Gespenst der Stagflation. Darunter versteht man das gleichzeitige Auftreten von wirtschaftlicher Stagnation und Inflation. Als klassischer Fall gelten die Ölpreisschocks der 70er Jahre und die dadurch auftretende Stagflation in vielen westlichen Ländern. Damals gingen viele Wissenschaftler/innen davon aus, dass es sich um ein neues Phänomen handelte. Traditionell tritt die Inflation eher in Zeiten guter wirtschaftlicher Konjunktur auf. Tatsächlich aber lassen sich ähnliche Fälle auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten beobachten, so etwa in Brasilien zwischen 1963 und 1966 (Salehi).
Eine Geschichte der Stagflation ist noch nicht geschrieben worden, aber es scheint doch so, als käme das Phänomen häufiger vor als bisher in der öffentlichen Diskussion bemerkt, auch in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. So bemerkte der sächsische Statistiker Ernst Engel Mitte des 19. Jahrhunderts, die Löhne in sächsischen Baumwollspinnereien seien 1855 noch genauso hoch wie 1839, aber die Lebensmittelpreise hätten sich in derselben Zeit verdoppelt. In der Tat zeigen vorhandene Preisreihen, dass vor allem die Getreidepreise gestiegen waren, besonders gegen Ende der 40er Jahre, als es bekanntlich zur Revolution von 1848/49 kam. Arbeitslosigkeit war zu dieser Zeit weniger ein Problem, vielmehr beklagten Zeitschriften der frühen Arbeiterbewegung, dass der Lohn selbst einer kompletten Familie (inklusive Kinderarbeit) nicht zum Leben reichte. Der steigende Getreidepreis hatte die Grundnahrungsmittel wie Brot stark verteuert, und die Arbeiter/innen mussten in dieser Zeit einen großen Teil ihres Lohns für Nahrungsmittel aufwenden.
In ähnlicher Weise ließe sich auch die Überlegung anstellen, ob es etwa in der Spätphase der DDR zu einer verdeckten Stagflation kam. Zwar waren offiziell die Preise festgelegt und wurden nicht verändert. Jedoch häuften sich in den achtziger Jahren die Fälle, in denen Waren aus den normalen Geschäften verschwanden und in den hochpreisigen "Delikat"-Läden wieder auftauchten. Die Versorgungskrisen nahmen in den achtziger Jahren wieder zu, und umfassten teilweise auch Grundnahrungsmittel. Insofern ist von einer verdeckten Inflation auszugehen, die ihre Ursache in den erhöhten Rohstoffpreisen hatte, die aber nicht an die Kund/innen weiter gegeben werden durften. Die wirtschaftliche Stagnation war offenbar ein weiteres Problem. Zwar sind verlässliche Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR auch über 30 Jahren nach der Einheit Mangelware, aber selbst nach den offiziellen Zahlen schwächte sich das Wachstum der DDR-Wirtschaft in den achtziger Jahren ab. Zudem ist der gesamte Produktionszuwachs in der ersten Hälfte des Jahrzehnts zur Verbesserung der Leistungsbilanz im Außenhandel eingesetzt worden (Cornelsen). Dadurch wurden auch die Investitionen vernachlässigt, so dass der Anlagebestand bekanntlich 1989 hochgradig verschlissen war. Die Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation der DDR dürften (neben den höheren Rohstoffpreisen) in der zunehmenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu suchen sein. Die DDR hatte, was ihre Westexporte betraf, ein ähnliches Profil wie ein asiatisches oder lateinamerikanisches Schwellenland, also vorwiegend Import von Investitionsgütern und Export von Fertigwaren wie Textilien oder Möbel (Stehn/Schmieding). Die ausbleibenden Investitionen in diese Industriezweige verschlechterten die Wettbewerbsbedingungen der DDR zusätzlich.
Von Interesse sind die politischen Implikationen. In allen hier erwähnten Fällen führte die Stagflation zumindest vorübergehend zu politischer Instabilität. In demokratischen politischen Systemen äußerte sich dies in Regierungswechseln, z.B. in Großbritannien 1979 und in den USA 1980. In diesen Fällen gewannen die Konservativen wie Ronald Reagan oder Margaret Thatcher, aber das war nicht zwangsläufig der Fall. In Brasilien putschte 1964 das Militär, in Deutschland kam es 1848/49 zu einer blutigen und in der DDR 1989 zu einer friedlichen Revolution. Sicher hatten die System- und Regierungswechsel vielschichtige Ursachen, aber die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung wurde eben auch von der Stagflation befeuert. Auch 2024 war ein schwieriges Jahr für Amtsinhaber, in den USA, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland oder Großbritannien.
Eine Patentlösung für Stagflationskrisen gibt es nicht. Wirtschaftswissenschaftler/innen betonen, dass in Zeiten der Stagflation die negative Korrelation zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nicht gilt, und zunächst die Inflationserwartungen gesenkt werden müssten, da sonst eine Lohn-Preis-Spirale entstehen kann. Die Stagflation der 70er Jahre wurde in den USA durch drastische Zinserhöhungen beendet, den sogenannten "Volcker-Schock". Dies führte zwar eine kurze und scharfe Rezession herbei, bereitete aber den Boden für den Wirtschaftsaufschwung der 80er Jahre. Abschreckend dagegen ist das Beispiel der DDR, in der nach offizieller Lesart derartige Krisen gar nicht vorkommen durften. Die Nichtanerkennung der Krise führte dazu, dass notwendige Anpassungsmaßnahmen wie die Streichung von Subventionen oder die Erhöhung von Preisen nicht in Angriff genommen wurden. Das Ergebnis war eine schleppende Wirtschaftsentwicklung und eine Fortdauer der Krise in den achtziger Jahren. Insofern scheinen kurze, einschneidende Maßnahmen erfolgversprechender als das lange Aussitzen. Allerdings hat die Strategie einen Haken: Die Früchte des Erfolgs erntet in demokratischen Systemen häufig erst die Nachfolgeregierung.
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