Mittwoch, 2. Juli 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Wertewandel und Säkularisierung

Die Vorlesung beschäftigte sich mit den kulturellen Folgen des Durchbruchs zum Massenkonsum, genauer mit den Veränderungen der Werte und Einstellungen der Westeuropäer seit den 50er und 60er Jahren. Prinzipiell ist das ein Bereich, der historischer Forschung nur begrenzt zugänglich ist, weil es häufig an aussagekräftigen Quellen mangelt. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zwar viele Umfragedaten. Diese stellen jedoch den Historiker vor besondere Probleme: Häufig sind Umfragen in einem Land nur begrenzt mit ähnlichen Untersuchungen in einem anderen Land zu vergleichen, das Abstraktionsniveau ist oft recht hoch und die Aussagen werden entsprechend allgemein gehalten. Schließlich stellt sich die Frage, ob das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger mit den in den Umfragen angegebenen Werthaltungen übereinstimmt.

Die Vorlesung konzentrierte sich auf drei recht gut erforschte Bereiche: die "stille Revolution" von materialistischen zu postmaterialistischen Werten nach Ronald Inglehart; die so genannte "sexuelle Revolution" der 60er Jahre; und schließlich die Säkularisierung bzw. den Rückgang der Religiosität.

Die Wertewandel-Theorie des amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart ist bekannt geworden mit seinem Buch "The Silent Revolution" (die stille Revolution) von 1977, aber die Grundgedanken formulierte er bereits zu Beginn der 70er Jahre als Antwort auf die Studentenproteste Ende der 60er ("1968"). Wie viele andere Beobachter versuchte er eine Erklärung dafür zu finden, dass gerade nicht die Armen, sondern die materiell relativ gut gestellten Mittelschichtskinder revoltierten, die in der Zeit des Wirtschaftsbooms aufgewachsen waren.Seine Erklärung war, dass es einen Generationskonflikt zwischen der Elterngeneration und der jüngeren Generation gab, der letztlich darauf beruhte, dass die Älteren in einer ganz anderen Gesellschaft aufgewachsen waren als die Jüngeren und noch Not und Entbehrung in Kriegszeiten bzw. Weltwirtschaftskrise kennengelernt hatten. Daher bevorzugten sie Werte wie materiellen Wohlstand und Sicherheit vor inneren und äußeren Bedrohungen, die Inglehart etwas irreführend als "materialistische" Werte bezeichnete. Diese waren der jüngeren Generation dagegen weniger wichtig, nicht weil sie materiellen Wohlstand abgelehnt hätten, sondern eher weil sie ihn als selbstverständlich ansahen und die wirklichen Probleme der Gesellschaft anderswo verorteten (etwa im Vietnam-Krieg). Sie neigten somit zu "postmaterialistischen" Werten wie Autonomie, Selbstbestimmung, aber auch Mitbestimmung, Redefreiheit, internationale Solidarität usw.
Ingleharts Hypothese liegen zwei (nicht unumstrittene) Annahmen zugrunde: erstens geht er davon aus, dass Wertorientierungen im Lauf der Sozialisation erworben werden und dann im weiteren Lebenslauf stabil bleiben, sich also nicht mit zunehmendem Alter oder je nach politischer Großwetterlage ändern. Zweitens geht er im Anschluss an den Psychologen Abraham Maslow von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus (so genannte Maslow´sche Bedürfnispyramide), wonach die grundlegenden Bedürfnisse zuerst befriedigt werden, bevor sich die Menschen den Bedürfnissen der nächst höheren Stufe zuwenden. Das erklärt nach Inglehart, warum gerade die im Zeitalter des Massenkonsums (und des Sozialstaates) aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen materielle Werte und (soziale) Sicherheit weniger schätzten als ihre Eltern: Sie wandten sich schlicht der Befriedigung von anderen, in der Pyramide auf höheren Stufen liegenden Bedürfnissen zu.


Im Laufe der Jahre hat Inglehart seine Theorie immer wieder modifiziert und den Wertewandel zu einem universellem Wandlungsprozess aller modernen Gesellschaften erklärt. Darin muss man ihm nicht unbedingt folgen. Die empirischen Befunde sind ohnehin nicht eindeutig. So meinen manche Forscher eine Stagnation des Wertewandels oder gar eine Trendumkehr in den 90er Jahren beobachtet zu haben. Zudem gibt es, wie bereits angedeutet, eine Fülle methodischer Kritikpunkte an Ingleharts Arbeiten. Bei aller Kritik scheint jedoch die These vom Wertewandel in der Form, in der sie ursprünglich präsentiert wurde, einen wesentlichen Punkt zu erfassen, nämlich einen Generationenkonflikt, der sich Ende der 60er Jahre bemerkbar machte und der auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurück ging, da sich die westeuropäischen Gesellschaften im Zeitalter des Massenkonsums außerordentlich rasch wandelten. Alle Aussagen, die darüber hinaus gehen, sind mit Vorsicht zu betrachten.
Zum Weiterlesen über die Wertewandel-Diskussion: https://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/81790/Krupp_14_BauerKaase.pdf

Ein deutlicher Wandel zeigte sich in den 60er Jahren in den Einstellungen zur Sexualität. Zwar ist es immer schwierig, Angaben über das tatsächliche Sexualverhalten zu machen, aber sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in den damals durchgeführten Umfragen zeigte sich eine deutlich liberalere Einstellung zur Sexualität. Vor allem wurde die bisher dominante Meinung, Sexualität nur in Verbindung mit der Ehe moralisch zu akzeptieren, deutlich abgeschwächt. Nach einer Umfrage in Italien 1969 (eines der Länder mit einer eher konservativen Sexualmoral) stimmten nur 13 % der verheirateten Frauen unter 40 der Aussage zu, Sexualität sei nur innerhalb der Ehe richtig, während ihre Mütter der Aussage zu 67 % zustimmten. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Meinungsumschwung aber erst im Laufe der 60er Jahre erfolgte.
Es ist jedoch weitaus schwieriger, Ursachen für diesen Einstellungswandel zu finden. Die oftmals behauptete Verbindung zur Einführung der so genannten "Antibabypille" ab 1960 (in den USA, in Europa etwas später) ist nicht eindeutig zu belegen. Es war immer nur eine Minderheit, die mit Hilfe der "Pille" verhütete, und Empfängnisverhütung war an sich natürlich nicht neu. Dass es nicht nur darum ging, zeigt auch die liberalere Einstellung zu Homosexualität, die sich durchzusetzen begann: In der Bundesrepublik wurde der § 175 des Strafgesetzbuches, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, 1969 und 1973 dahin gehend reformiert, dass nur noch homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen verboten waren.
Letztlich war die sexuelle Liberalisierung wohl ein Teil des bereits diskutierten Wertewandels. Auch hier ließen sich (in den 60er Jahren) deutliche Unterschiede zwischen den Generationen nachweisen. Diese Liberalisierung wurde von einer teils bereits existierenden, teils neu entstehenden Sex-Industrie (v.a. Anbieter von Pornographie) ausgenutzt, so dass seit Mitte der 60er Jahre von einer regelrechten "Sex-Welle" die Rede war. Schon zeitgenössische Beobachter kritisierten die damit einher gehende Kommerzialisierung der Sexualität. Für die "Neue Linke" war die Enttabuisierung der Sexualität Teil einer umfassenden Emanzipation, aber im Zeitalter des Massenkonsums triumphierte die Pornographie. Sie hatte es natürlich schon lange vorher gegeben, aber pornographische Bilder und Schriften wurden nunmehr öffentlich gezeigt und verkauft, während sie vorher nur im Untergrund erhältlich waren. Dänemark legalisierte den Verkauf von pornographischen Schriften an Erwachsene 1967, von Bilderzeugnissen 1969. Andere Länder folgten nach. Die so genannte "Sexwelle" war ein Phänomen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Der Umsatz von pornographischen Erzeugnissen in der BRD stieg nach Schätzungen von 0,5 Mrd. DM auf 1,1 Mrd. DM 1979.

Besondere Probleme mit dem Wertewandel hatte die Katholische Kirche, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen wichtige Erscheinungen der Moderne wie Liberalismus, Sozialismus oder Religionsfreiheit gewandt hatte (Enzyklika "Syllabus Errorum", 1864). Zwar hatte es auch in der Katholischen Kirche zu Beginn der 60er Jahre einen Reformprozess gegeben, der eine Versöhnung von Kirche und moderner Welt anzukündigen schien (2. Vatikanisches Konzil, 1962-65), doch der Papst Paul VI. machte mit seiner Enzyklika "Humanae Vitae" (1968) alle Hoffnungen zunichte, die Kirche könne sich mit den neuen Methoden der Empfängnisverhütung arrangieren. Vielmehr bekräftigte der Papst, dass aus Sicht der Katholischen Kirche Ehe und Sexualität untrennbar seien. Damit stellte er sich, wie gezeigt, gegen die Auffassung einer deutlichen Mehrheit der jüngeren Gläubigen in Westeuropa, selbst in den mehrheitlich katholischen Staaten.

Diese Haltung verstärkte den Prozess der Säkularisierung in Westeuropa, der allerdings bereits zuvor eingesetzt hatte und auch nicht auf die katholischen Länder beschränkt war. Unter dem Begriff "Säkularisierung" werden heute in der Forschung unterschiedliche Phänomene gefasst: Manche Wissenschaftler verstehen darunter den Rückgang der Religiosität, andere eine funktionale Differenzierung (Trennung von Kirche und Staat), wieder andere eine Individualisierung (Religion wird zur Privatsache). Die beiden letzten Ansätze implizieren, dass die Religiosität nicht unbedingt abnimmt, sondern nur ihre Formen wandelt.
Die empirische Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Religiosität in Europa tatsächlich abgenommen hat, und zwar in einem längeren, relativ gleichmässigen Prozess. Ähnlich wie beim Wertewandel erfolgt hier der soziale Wandel über die Generationenfolge, d.h. jede Generation ist etwas weniger religiös als die vorhergehende. Das Niveau der Religiosität ist dabei durchaus unterschiedlich: Höher als im Durchschnitt ist es beispielsweise in Griechenland, Portugal, Irland oder Italien; niedriger in den skandinavischen Staaten (außer Finnland) und in Frankreich. Die Tendenz zur Abnahme der Religiosität ist aber in allen europäischen Ländern ungefähr gleich, in den stark religiösen sogar etwas stärker als anderswo.

aus: David Voas, The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe, in: European Sociological Review  25 (2009), S. 155-168

Allerdings setzt, wie die Grafik erkennen lässt, die Abnahme nicht zu demselben Zeitpunkt ein. In Deutschland und Italien nimmt die Religiosität seit ca. 1945 ab, in Frankreich erst seit ca. 1950 und in Großbritannien sogar erst seit 1960 (rechnet man Geburtsjahr + 20 Jahre für die Sozialisation). Auch wenn der Trend zur Säkularisierung bereits früher einsetzte, waren doch in vielen Ländern die 1950er und 60er Jahre durch einen besonders starken Rückgang der Religiosität gekennzeichnet. Der Durchbruch des Massenkonsums verstärkte also bereits vorhandene säkulare Tendenzen.

Dabei handelt es sich um einen europäischen Sonderweg (Hartmut Lehmann). Einen vergleichbaren Rückgang der Religiosität gibt es in außer-europäischen Gesellschaften kaum, auch nicht in "modernen" Gesellschaften wie den USA oder Japan. Tendenzen zur Säkularisierung lassen sich allerdings in China, Australien oder Kanada beobachten. Die Gründe sind wohl in dem besonderen Verhältnis der Europäer zu ihren Kirchen zu sehen, die im Zuge der Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts rechtlich oder de facto zu Amtskirchen wurden, dadurch besondere Vorteile genossen, sich aber auch durch das enge Bündnis mit konservativen Kräften angreifbar machten. 
Das Ergebnis des Säkularisierungsprozesses in Europa ist, jedenfalls bisher, nicht eine atheistische oder auch nur agnostische Bevölkerung, sondern eine diffuse Religiosität. Die meisten Menschen geben in Umfragen immer noch an, sie würden entweder an einen Gott oder an eine andere spirituelle Kraft glauben, aber dieser Glaube wird im Alltag immer weniger handlungsrelevant. Viele Menschen beschränken sich darauf, wichtige Übergangsriten wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung in kirchlichen Formen zu begehen, nehmen jedoch ansonsten kaum Teil am kirchlichen Leben. Nach David Voas handelt es sich bei dieser diffusen Religiosität lediglich um eine Durchgangsstation auf dem Weg zur vollständig säkularen Gesellschaft. Andere Forscher dagegen meinen, in den letzten Jahren eine "Rückkehr des Religiösen" (Detlef Pollack) diagnostizieren zu können.


Die Säkularisierung und der Wertewandel hatten verschiedene Konsequenzen. Eine davon war, dass die Ehe und die traditionelle Kleinfamilie nicht mehr als die einzigen akzeptierten Lebensformen galten. Vielmehr machte sich seit den 60er Jahren eine Pluralisierung  bemerkbar, die ihren Ausdruck auch in zunehmenden Scheidungsraten fand. Hier spielte natürlich auch die Liberalisierung des Scheidungsrechts eine wesentliche Rolle. In Italien wurde die Ehescheidung erst 1970 legalisiert, in anderen Ländern wie Deutschland (1975), Frankreich (1976) oder Großbritannien (1973) wurde das Scheidungsrecht in den 70er Jahren liberalisiert.

Das traditionelle Ehemodell, das in den 50er Jahren und auch in der ersten Hälfte der 60er noch dominiert hatte, wurde allmählich ergänzt durch andere Familien- und Lebensformen: die Ehe ohne Trauschein, die Patchwork-Familie, die Ein-Eltern-Familie oder der freiwillige Verzicht auf Ehe und Familie. Auch bei dieser Entwicklung ist der Zusammenhang zum gestiegenen Wohlstand unverkennbar. Die traditionelle Ehe war eben auch eine Versorgungsinstitution, deren Bedeutung mit dem zunehmenden Wohlstand und dem Ausbau des Sozialstaates abnahm.




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