Dienstag, 3. Juni 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Jugend und Jugendkulturen

Die Vorlesung behandelte die Entstehung von (kommerziellen) Jugendkulturen in den 1950er und 60er Jahren. Jugend ist keine überhistorische Kategorie, sondern hat eine eigene Geschichte. Insbesondere ist die Anerkennung von Jugend als eigene Lebensphase ein historisch gesehen relativ neues Phänomen, das erst mit der Jugendbewegung um 1900 einsetzte. Frühere Gesellschaften kannten zumeist nur Kinder und Erwachsene, aber nicht Jugendliche oder Heranwachsende als eigene Stufe der Entwicklung. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen vollzog sich früher und schneller. Schuld an der Entstehung einer oft als problematisch wahrgenommenen, bisweilen aber auch glorifizierten, Jugendphase war die Verlängerung der Ausbildungszeiten und der spätere Eintritt ins Erwachsenenalter in den modernen westeuropäischen Gesellschaften.
Der Anfang der deutschen Jugendbewegung wird meist auf die Gründung des "Wandervogels" an einem Berliner Gymnasium 1901 datiert. Die an sich recht einfache Idee war, den Schulunterricht durch Exkursionen und Ausflüge zu bereichern. Gleichzeitig sollte das Gemeinschaftsgefühl der Schüler gestärkt werden. Der "Wandervogel" war ursprünglich eine bürgerliche Jugendbewegung, doch die 1905 (in Österreich bereits 1895) gegründete, der SPD nahe stehende Organisation "Naturfreunde" verfolgte ähnliche Ziele für die Arbeiterjugend. Ähnliche Gedanken, allerdings mit einer charakteristischen Betonung der militärischen Komponente, lagen den 1908 in Großbritannien gegründeten "Boy Scouts" (Pfadfindern) zugrunde. Ihr Gründer war der britische Kavallerie-Offizier Robert Baden-Powell (1857-1941).
Weitergeführt wurden diese Ideen von der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik, die sich politisch zunehmend nach rechts wendete, und von der 1926 gegründeten Hitler-Jugend. Kennzeichnend für die Bündische Jugend war das Ideal eines klassenübergreifenden Jugendbundes mit einem eigenen Ehrenkodex. Auch in der Pfadfinderbewegung und der Hitler-Jugend sollte die gemeinsame Kleidung soziale Unterschiede verdecken.
Somit war die Jugend als eigene Lebensphase bereits fest etabliert, als in den 50er Jahren der "Teenager" entdeckt wurde. Anders als der Hitler-Junge oder der bündische Jugendliche war er nicht Teil einer festen Gemeinschaft (allenfalls einer Clique), sondern wurde schon Ende der 50er Jahre als Konsument entdeckt. Marktforscher stellten fest, dass Teenager bei bestimmten Produkten (Schallplatten und Radios, Kosmetik und Kleidung) einen großen Teil der Nachfrage stellten. In der Tat begannen sich Jugendliche in Kleidung und kulturellen Präferenzen (Musikgeschmack, Freizeitbeschäftigung, Kleidung) deutlich von ihren Eltern zu unterscheiden. Tendenziell war der "Teenager" zudem ein klassenübergreifendes Phänomen.
Bevor der jugendliche Konsument entdeckt wurde, dominierten Abwehrreaktionen auf die neue jugendliche Subkultur. Insbesondere das Problem des "Halbstarken" (nach dem gleichnamigen Film von 1956) beherrschte die öffentliche Diskussion. Der Jugendliche wurde hierin als Delinquent oder Rowdy wahrgenommen. Der typische Halbstarke trug Jeans, rauchte, fuhr Motorrad und war gewaltbereit. Halbstarkenkrawalle gab es in mehreren deutschen, amerikanischen und europäischen Großstädten, häufig im Anschluss an Rockkonzerte oder Kinovorführungen. Nach heutigen Maßstäben allerdings war der Sachschaden meist gering, die Gewalt eskalierte oft erst nach dem übermäßig harten Eingreifen der Polizei, wie bei den Schwabinger Krawallen 1962, an denen unter anderen der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader beteiligt war.
Ähnliche Phänomene gab es, wie erwähnt, in anderen Ländern. "Halbstarke" wurden in Frankreich "blousons noirs" genannt, in England gab es die "Teddy Boys". Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen dieser Zeit dürfte zu diesen Gruppen gehört haben, aber in der öffentlichen Diskussion waren sie v.a. Mitte bis Ende der 50er Jahre sehr präsent

Die Halbstarkenkrawalle waren unpolitisch, was sich von der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre ("68er") nicht behaupten lässt. Ideologisch waren sie inspiriert von den heterogenen Strömungen einer sich um 1960 herausbildenden "neuen Linken", aber kulturell standen die meisten von ihnen der sich im Lauf der 60er Jahre entstehenden Alternativkultur nahe. Diese hatte Mitte der 60er Jahre ihren Hauptsitz in London, wo neue Modetrends gemacht wurden (der Minirock) oder neueste Musiktrends ihren Ursprung hatten (auch wenn die Beatles ursprünglich aus Liverpool waren). Diese Alternativkultur war eigentlich keine reine Jugendkultur, sondern sie umfasste auch viele junge Erwachsene, aber sie hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung.
Die Ursachen der Proteste von "1968", die nicht auf dieses eine Jahr beschränkt blieben, sind komplex. War es nicht letztlich ein "Aufstand im Schlaraffenland" (Matthias Horx) nach 20 Jahren Wirtschaftswachstum? Einige Faktoren waren national spezifisch, andere überschritten nationale Grenzen, wieder andere waren situativer Natur. So sind an sich friedliche Proteste, die sich in ihren Formen an der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung orientierten, durch Polizeigewalt häufig erst radikalisiert worden, wie in Deutschland durch die Erschießung eines unbewaffneten Studenten bei einer Demonstration 1967.
Letztlich drückte sich in den Protesten ein Wandel von "materialistischen" zu "postmaterialistischen" Werten (Ronald Inglehart) aus. Der schnelle soziale Wandel der zwei Nachkriegsjahrzehnte führte dazu, dass der Erfahrungshorizont der Heranwachsenden ein ganz anderer war als derjenige der Elterngeneration (auch wenn es sich bei den Protestierenden eher um eine Minderheit gehandelt haben dürfte). Die sozialen und materiellen Errungenschaften dieser Zeit wurden nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber doch relativiert, z.B. unter Verweis auf Missstände in Ländern der so genannten "Dritten Welt". Die Konsumgesellschaft wurde dagegen als "Warenfetisch" (Karl Marx) z.T. heftig kritisiert, da sie die Menschen zu sinnlosem Konsumieren animiere, anstatt sich um die wirklichen Probleme der Welt und zuhause zu kümmern. Die Argumente waren nicht unbedingt neu, sondern schon in den 50er Jahren von kritischen Intellektuellen wie Vance Packard in die Debatte gebracht worden.
Auch die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit spielte eine Rolle. Die Hochschulen waren auf den Ansturm der Studenten schlecht vorbereitet, und die Studenten forderten mehr Mitspracherechte in häufig sehr traditionellen, autoritären Strukturen.
Was die Studentenbewegungen in den einzelnen Ländern neben dem Kampf gegen autoritäre Strukturen inner- wie außerhalb der Universitäten verband, war der Protest gegen den Vietnam-Krieg. Er verlieh den Protesten eine transnationale Dimension, während die Bildungsssysteme (trotz der international zu beobachtenden Bildungsexpansion) große nationale Unterschiede aufwiesen. In Deutschland kam noch der Protest gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze hinzu. Auch spielte hier die Thematisierung der NS-Vergangenheit eine größere Rolle als anderswo.
Obwohl die Proteste durchaus allgemeinpolitische Themen ansprachen und einige Gruppen das Bündnis mit anderen Kräften wie Gewerkschaften suchten, sprang der Funke auf die Arbeiter nur in Frankreich und in Italien über. In Paris besetzten die Studenten im Mai 1968 die ehrwürdige Sorbonne und Arbeiter traten in "wilde" Streiks mit dem etwas diffusen Ziel der Selbstverwaltung. In Italien fanden Arbeitskämpfe erst im Herbst 1968 statt, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. In Großbritannien blieben die Proteste, die ihren Höhepunkt im Oktober 1968 erreichten, weitgehend friedlich. Die Proteste und Aktionen in Deutschland erreichten ihre Höhepunkte nach der Erschießung Benno Ohnesorgs im Juni 1967, mit dem internationalen Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968.
Die Bewertung von "68" ist bis heute umstritten. In ihren unmittelbaren Zielen ist die Protestbewegung weitgehend gescheitert, aber sie trug doch zu den bereits früher einsetzenden Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in Westeuropa bei. Für die Geschichte der Jugend ist zu konstatieren, dass der Versuch einiger Theoretiker der "neuen Linken" scheiterte, die Studenten zur neuen Avantgarde der sozialistischen Revolution zu machen, . Was dagegen blieb, war eine kommerzialisierte Jugendkultur, die sich sowohl nach außen gegenüber der dominanten Kultur als auch nach innen durch Differenzierung in verschiedene Subkulturen abgrenzte. Dass sich verschiedene Jugendkulturen vor allem über das Hören bestimmter Musik und das Tragen bestimmter Kleidung definieren (Punks, Gruftis, Hippies, Skinheads u.a.), ist für uns heute selbstverständlich, aber doch historisch gesehen eine recht junge, an den Durchbruch des Massenkonsums gebundene Erscheinung. Die meisten dieser Jugendkulturen sind unpolitisch, aber eine Politisierung sowohl von links wie auch von rechts ist keineswegs ausgeschlossen.

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