Dienstag, 20. Mai 2014

Vorlesung Zeitalter des Massenkonsums: Soziale Schichtung, Klassen

Die Vorlesung befasste sich mit der Frage, wie sich die soziale Schichtung oder Klassenstruktur der westeuropäischen Gesellschaften in den 1950er und 60er Jahren veränderte. Hierzu wurden zunächst verschiedene Schichtungsmodelle vorgestellt. Die (marxistische) Einteilung Bürgertum - Arbeiterklasse (bzw. ursprünglich Bourgeoisie - Proletariat) definiert Klassen über deren Stellung im Produktionsprozess. Sie geht von einer zunehmenden Polarisierung zwischen einer immer kleineren Bourgeoisie und dem großen Proletariat aus, die letztlich in einer sozialen Revolution endet. Diese Voraussage hat sich so nicht bewahrheitet. Der Mittelstand oder die Mittelklassen haben sich besser behaupten können als Marx dachte. Nicht-marxistische Soziologen teilen die Sozialstruktur häufig in Ober-, Mittel- und Unterschicht ein, wobei traditionell die Arbeiterklasse in etwa der Unterschicht entspricht, während das Bürgertum in der oberen Mittelschicht und Oberschicht (Großbürgertum) anzusiedeln ist. Im Gegensatz zur marxistischen Polarisierungstheorie wird häufig das Bild der Zwiebel verwendet, in der es eine schmale Oberschicht, eine breite Mittelschicht und eine kleine Schicht von Armen gibt. Hier ein Bild aus den 60er Jahren für die BRD.


In der zeitgenössischen Diskussion und auch noch heute war häufig die Rede von einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky), die angeblich an Stelle der alten Klassengesellschaft getreten sei. Es gab zwar eine gewisse Tendenz der Angleichung der Einkommen, aber von einer Auflösung der Klassen oder Schichten zu sprechen geht doch zu weit. Die nächste Grafik zeigt den Anteil der oberen 10 % am gesamten Einkommen, der in der Tat in allen westeuropäischen Ländern und in den USA rückläufig war (aber nicht dramatisch zurück ging).


Ob sich in dieser Zeit die alten Klassen und Schichten auflösten, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Gegenthese zur "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" hat Ulrich Beck formuliert, der von einem "Fahrstuhleffekt" spricht. Wie in einem Fahrstuhl würden alle Schichten durch das Wirtschaftswachstum und den zunehmenden Wohlstand angehoben, ohne dass sich an der sozialen Ungleichheit an sich etwas ändern würde. Die soziale Ungleichheit wird, so Beck, also nur auf einer höheren Ebene reproduziert.
Richtig daran ist, dass soziale Ungleichheit nicht einfach verschwindet und auch nicht irrelevant wird. Selbst im Wahlverhalten lässt sich, wenn auch mit abnehmender Tendenz, bis heute der Einfluss der sozialen Schicht nachweisen. Dennoch ließen die Wandlungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialstruktur keineswegs unbeeinflusst. Im Ergebnis führten sie allerdings eher zu einer Pluralisierung als zu einer Nivellierung. Am stärksten davon betroffen war die (traditionelle) Arbeiterklasse. Sie war bis 1945 vergleichsweise homogen gewesen und wurde u.a. durch das Wohnen in Arbeitervierteln und eine enge Vereinskultur zusammen gehalten. Mit dem zunehmenden Wohlstand und der Sanierung der Städte verschwanden die alten Arbeiterquartiere. Zudem entstand schon Ende der 50er Jahre die Figur des "wohlhabenden Arbeiters" (affluent worker), die von britischen Soziologen untersucht wurde. Sie argumentierten, dass der wohlhabende Arbeiter nicht "verbürgerlichte", sich also nicht einfach den Werten, Sozialisations- und Konsummustern der Mittelklasse anglich, sondern einen eigenen Typ darstellte. Tendenziell spaltete sich damit die Arbeiterklasse in eine (abnehmende) traditionelle Schicht, die alten Mustern verhaftet blieb, und der neuen, wohlhabenden Arbeiterschicht, die stärker am Massenkonsum partizipierte. Am unteren Ende der Arbeiterklasse schließlich wurde die ethnische Segregation durch die zunehmende Einwanderung verschärft. Die wirtschaftlich stärksten Länder Westeuropas wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und die Schweiz zogen zunehmend Arbeitskräfte aus anderen Ländern an, zum Teil aus der europäischen Peripherie, zum Teil aus den ehemaligen Kolonien bzw. Nordafrika.
 

Ursprünglich gingen beide Seiten von der Annahme aus, diese Zuwanderung sei nur befristet. De facto aber blieben viele der Migranten in ihrer neuen Heimat, und der Ausländeranteil nahm zu. Traditionelle Auswanderungsländer wie Schweden oder Deutschland wurden nun zu Einwanderungsländern. Italien dagegen blieb bis in die 80er Jahre primär ein Auswanderungsland.

Der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung stieg stetig an. Er war zwar z.B. in Großbritannien mit ca. 6 % (1971) nicht sehr hoch, aber die Zuwanderung konzentrierte sich doch stark im Bereich der Arbeiterklasse, zumal der ungelernten Arbeitskräfte. Bereits in den späten 50er Jahren kam es zu fremdenfeindlichen Aussschreitungen in England. Allerdings dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich fremdenfeindliche und rechtspopulistische Parteien in den westeuropäischen Ländern etablieren konnten.


Somit differenzierte sich die Arbeiterklasse zunehmend aus. Trotz des einsetzenden Strukturwandels ging der Anteil der Arbeiter zunächst kaum zurück. Dafür stieg der Anteil der Angestellten auf Kosten der Selbständigen. Damit ist die wohl wichtigste Veränderung im Bereich des Mittelklasse benannt: die Verschiebung vom "alten Mittelstand" (kleine Selbständige, Handwerker, Ladenbesitzer) zum "neuen Mittelstand" (Angestellte).


Die Mittelklasse war immer recht heterogen, so dass es wohl wenig sinnvoll ist, von einer Auflösung der Mittelklasse zu sprechen. Allerings ist behauptet worden, das traditionelle Bürgertum wäre durch die zunehmende Verbreitung bürgerlicher Werte in allen Schichten weitgehend in einer großen Mittelklasse (oder Mittelschicht) aufgegangen und habe seine Eigentümlichkeit verloren. Dagegen argumentierte der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dass die alten Eliten sich gegen die Aufsteiger mit der Erfindung immer neuer Distinktionen sehr erfolgreich abzugrenzen verstanden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Sozialstruktur ausdifferenzierte, die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten geringer wurden, aber keineswegs einfach verschwanden. Im internationalen Vergleich, der hier allerdings auf zahlreiche methodische Probleme stößt, da die Kategorien von Land zu Land etwas unterschiedlich aufgefasst werden, hält sich die alte Unterscheidung zwischen den Erwerbsklassen (Arbeiter, Mittelstand, Bürgertum) in Frankreich und Großbritannien wohl länger als in der BR Deutschland.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen