Bisweilen wird behauptet, die Arbeitsgesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sei durch die Konsumgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdrängt oder ersetzt worden. Konsum habe die zentrale identitätsstiftende Stellung eingenommen, die früher die Erwerbsarbeit (oder der Beruf) inne gehabt hätten. So schrieb Wolfgang König in seiner Geschichte der Konsumgesellschaft:
"Im 19. und 20. Jahrhundert fand ein epochaler Wandel in der Menschheitsgeschichte statt: von der Paupertas zur Cupiditas, dem Entbehren zum Begehren, vom Mangel zum Überfluss, von Armut zu Wohlstand, von der Arbeit zur Freizeit, von der Produktion zum Konsum." Dieser Wandel werde durch Begriffe wie Wohlstandsgesellschaft, Überflussgesellschaft, Freizeitgesellschaft oder eben Konsumgesellschaft beschrieben.
In eine ähnliche Kerbe schlug Andreas Wirsching in eine Aufsatz 2011 mit dem Titel From Work to consumption.
Wirsching geht es dabei allerdings weniger um eine strukturgeschichtliche Veränderung, sondern eher um geistesgeschichtliche Entwicklungen. So zeichnet er die wachsende Akzeptanz der Konsumgesellschaft bei westdeutschen Intellektuellen seit dem Zweiten Weltkrieg nach. Dann aber behauptet er, Arbeit sei seit Jahrhunderten in den westlichen Gesellschaften der entscheidende Bestimmungsfaktor individueller Identität gewesen, vor allem durch den Stolz auf bestimmte produktive Fähigkeiten. Erst im 20. Jahrhundert habe sich das geändert: Durch die fordistische Massenproduktion seien die Fähigkeiten der Arbeiter entwertet worden, und gleichzeitig stiegen ihre Löhne (und damit die Kaufkraft) sowie die Freizeit stark an. Die Arbeiter hätten angefangen sich als Konsumenten zu begreifen und der Konsum hätte nicht vollständig, aber doch tendenziell die Arbeit als primäre Determinante der individuellen Identität verdrängt.
Dieser Ansicht hat Peter Paul Bänziger in einem teils polemischen Artikel in den "Zeithistorischen Forschungen" widersprochen. Er argumentiert, dass sich die institutionelle und diskursive Regulierung von Arbeit sich nur langsam durchsetzte, die Rede von einer Arbeitsgesellschaft im 19. Jahrhundert mithin nicht unproblematisch sei. Zudem seien Strukturen der Konsumgesellschaft älter als das "Wirtschaftswunder" und ließen sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. Daraus schließt er, dass Arbeits- und Konsumgesellschaft sich parallel etabliert hätten, also nicht die eine die andere ablöste.
Wer hat nun Recht, und was lässt sich aus dieser Kontroverse (wenn es denn eine ist) lernen? Zunächst: Bänziger spricht von Strukturen der Arbeits- oder Konsumgesellschaft, Wirsching von Arbeit und Konsum als Bestimmungsfaktoren individueller Identität. Das ist ganz offensichtlich nicht dasselbe. Bänziger hat Recht, wenn er schreibt, dass zumindest bestimmte Elemente der Konsumgesellschaft älter sind als 1945, und umgekehrt die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts (oder davor) nicht ohne weiteres pauschal als Arbeitsgesellschaften klassifiziert werden können. Die Realität ist komplizierter, auch wenn Wolfgang König und andere zurecht auf den Anstieg der Freizeit im 20. Jahrhundert verweisen. Andeas Wirsching macht es sich hier etwas zu einfach, wenn er pauschal für alle Gesellschaften vor 1900 die primäre Bedeutung der Arbeit für die Identitätsbildung postuliert. Ob sich die Arbeitsgesellschaft, wie Bänziger behauptet, erst im 20. Jahrhundert herausbildete, ist schwer zu beurteilen, da er keine Definition von Arbeitsgesellschaft anbietet.
Ist also in dieser Hinsicht der Kritik von Bänziger an einer allzu einfachen Abfolge von Gesellschaftsmodellen zuzustimmen, so muss doch auf der anderen Seite bemerkt werden, dass der Punkt keineswegs neu ist. Der Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum wurde bereits mehrfach thematisiert und differenziert erörtert, übrigens auch von Wolfgang König. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die These von Jan de Vries bemerkenswert, der den Aufstieg der Konsumgesellschaft im 18. Jahrhundert mit der "industrious revolution" (Revolution des Fleißes) erklärt hat. Der gestiegene Konsum von nicht unbedingt notwendigen Gütern (Genussmitteln, Möbeln u.a.) ist nach dieser These nicht auf steigende Reallöhne zurückzuführen, sondern auf die Ausweitung der Heimarbeit. Durch die Mehrarbeit von Frauen und Kindern stieg das Familieneinkommen. Die These ist nicht unumstritten, aber sie zeigt doch, dass Konsum und Produktion aufeinander verweisen.
Was ist nun mit der spezifischeren Behauptung, der Konsum habe die Arbeit als wichtigsten Faktor individueller Identität angelöst? Hier hat man für vergangene Zeiten ganz offensichtlich ein Quellenproblem. Meine Vermutung ist, dass es hier große Unterschiede gibt. Wirsching hat für das 19. Jahrhundert offenbar eher qualifizierte Handwerker oder Facharbeiter im Blick, aber was ist mit der großen Masse ungelernter Arbeiter oder Bauern? Wie ist es mit Frauen, die in Heimarbeit tätig waren? Hier wissen wir noch viel zu wenig.
Was die heutige Zeit angeht, so haben wir immerhin Umfrageergebnisse. Glaubt man dem World Values Survey, so geht die Bedeutung der Arbeit für die Menschen keineswegs zurück. In Deutschland erklären heute (2010-14) ca. 80 % der Befragten, die Arbeit sei ihnen "sehr wichtig" oder "ziemlich wichtig" im Leben. Diese Werte haben sich gegenüber dem Zeitraum 1989-93 nicht verändert. Zwischenzeitlich (2005-09) war der Anteil der Befragten, die die Arbeit sehr wichtig fanden, sogar etwas angestiegen.
Abschließend noch eine methodische Bemerkung. Forschungskontroversen sind gut und wichtig, denn sie helfen, Standpunkte zu klären und wichtige Themen in den Mittelpunkt zu rücken. Aber es wäre doch zu wünschen, dass die Debatte auf einem höheren Niveau geführt wird. Hier ist noch viel Luft nach oben. Die bisherige Dominanz pauschaler Behauptungen oder das Operieren mit undefinierten Begriffen sind ebenso wenig hilfreich wie der Mangel an empirischen Belegen oder die verzerrte Darstellung des Forschungsstandes.😒