Ein Kollege aus der Soziologie machte mich neulich darauf aufmerksam, dass in der Verbraucherpolitik "nudging" gerade sehr in Mode sei. Für diejenigen, die es noch nicht kennen: es kommt aus dem Englischen, wo das Verb "nudge" so viel bedeutet wie stoßen oder schubsen. Es geht zurück auf Veröffentlichungen des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard Thaler und des amerikanischen Juristen Cass Sunstein. Worum geht es? Im Kern ist "nudging" ein Versuch, das Verhalten von Konsumenten ohne explizite Ge- und Verbote oder finanzielle Anreize (Prämien etc.) zu steuern. Die Rede ist von einem "libertären Paternalismus": Paternalismus, weil versucht wird, das Konsumverhalten zu beeinflussen (z.B. in Richtung auf gesündere Lebensweise oder umweltfreundliches Verhalten); libertär, weil der Einzelne die Möglichkeit hat, ohne große Mühe dieser Steuerung zu entgehen. Nudges sind demzufolge "transparente Gestaltungselemente von Entscheidungssituationen und Verhaltenskontexten, gewählt in Kenntnis der menschlichen Verhaltenstendenzen und Heuristiken" (Lucia Reisch, Nudging in der Verbraucherpolitik, Baden-Baden 2015, S. 19). Attraktiv ist dieser Ansatz für die Politik aus zwei Gründen: zum einen sind Verbote häufig unpopulär, zum anderen kostet "nudging" in der Regel nichts oder nicht sehr viel.
Beispiele für "nudging", die von Thaler und Sunstein genannt werden, sind etwa die Anordnung von Speisen in einer Schulcafeteria (um die Schüler zur Wahl gesünderen Essens anzuhalten), die eingravierte Fliege im Pissoir (um das Spritzen zu minimieren) oder die automatische Voreinstellung bei Kopierern und Druckern, dass beidseitig gedruckt wird, wenn die Einstellung nicht verändert wird (zur Papierersparnis). Die Beispiele zeigen jedoch, dass es mit der viel beschworenen Transparenz nicht weit her ist: dem Benutzer eines Pissoirs wird nicht erläutert, warum dort das Bild einer Fliege eingraviert ist, und den Schülern nicht erklärt, warum ihre Lieblingsspeisen versteckt werden. Das resultiert aus dem der Verhaltensökomomik zugrunde liegenden Menschenbild, das auf dem psychologischen Behaviorismus beruht, und den Menschen als eine Art Maschine ansieht, die auf bestimmte Reize auf eine bestimmte, vorhersehbare Art reagiert und damit manipulierbar ist (Reiz-Reaktions-Ketten). In der Psychologie gilt dieser Ansatz übrigens seit den 60er Jahren als überholt.
Aus historischer Sicht ist zweierlei anzumerken: erstens, viele der von den Autoren genannten Beispiele sind im Grunde alter Wein in neuen Schläuchen. Die Anordnung von Waren zur subtilen Beeinflussung des Konsumenten ist bereits seit Jahrzehnten in den Supermärkten (in Europa nach 1945, in den USA schon vorher) und zuvor schon in den Warenhäusern benutzt worden. Auch die Forderung nach mehr Transparenz für den Verbraucher ist nicht neu, sondern hat ihre Quelle in der Verbraucherschutzbewegung, die seit den 50er Jahren in Deutschland aktiv war (Verbraucherzentralen, Stiftung Warentest u.ä.). Andere "nudges" wie grafische Warnhinweise auf Zigarettenpackungen greifen eher auf werbepsychologische Erkenntnisse zurück (Bilder wirken besser als Worte).
Zweitens: Aus historischer Sicht besteht eigentlich keine Notwendigkeit, gegenüber den traditionellen Verfahren der Konsumregulierung skeptisch zu sein. Es lassen sich viele Beispiele dafür finden, dass Konsumpolitik es vermocht hat, den Konsum in gewünschter Weise zu beeinflussen. So sorgte die Erhöhung der Branntweinsteuer 1887 tatsächlich für einen Rückgang des Branntweinkonsums. Auch die so genannten "Abwrackprämie" (offiziell Umweltprämie genannt) von 2009 war zumindest ein wirtschaftspolitischer Erfolg (1,9 Mio. Anträge), umweltpolitisch ist sie eher umstritten. Auch Verbote entfalten Wirkung. Neuere Studien argumentieren, dass selbst die spätmittelalterlichen Kleiderordnungen und Luxusgesetze nicht nur auf dem Papier standen, wie die Forschung lange angenommen hat, sondern tatsächlich durchgesetzt wurden (Catherine Kovesi Killerby, Sumptuary Law in Italy, Oxford 2002). Sicher, in anderen Bereichen wie z.B. gesunde Ernährung war die Politik weniger erfolgreich. Dennoch: Die Beliebtheit des "nudging" lässt sich nicht einfach auf ein Versagen traditioneller Instrumentarien zurückführen. Vielmehr spiegelt sich hier die in einem anderen Blog-Beitrag ("Ende des Laissez-Faire", 10.11.15) bereits beschriebene Tendenz zu einem neuen Staatsinterventionismus im Bereich des Konsums.