In letzter Zeit haben Untersuchungen eine gewisse Konjunktur, die sich mit moralischem Konsum beschäftigen, d.h. entweder mit moralisch konnotierten Produkten (Jute-Tasche) oder mit der Fair Trade-Bewegung der letzten ca. 40 Jahre. Im Mai hatten die Gesellschaft für Technikgeschichte und das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine Tagung über "Moralische Produkte" veranstaltet (Tagungsbericht). Und in Kiel fand im September ein interdisziplinärer Workshop mit dem Titel "Alle Macht dem Verbraucher?" statt, in dem es ebenfalls um Konsumentenboykotts und die Fair Trade-Bewegung (neben anderen Themen) ging.
Dieses Interesse rührt sicherlich zum einen daher, dass die Zeitgeschichte der 70er und frühen 80er Jahre durch die Öffnung der Archive (nach Ablauf der allgemeinen 30-Jahres-Sperrfrist) in den Fokus gerückt ist. Zum anderen gibt es aber auch die weiter gehende These von der "Moralisierung der Märkte", vertreten von dem prominenten Soziologen Nico Stehr in dem gleichnamigen Buch von 2007. Stehr argumentiert darin, die Konsumenten würden durch zunehmenden Wohlstand und zunehmendes Wissen immer mächtiger und würden dadurch einen starken Druck auf die Produzenten ausüben, sich an moralische Standards zu halten. Das bedeutet nach Stehr zwar keinen Bruch mit dem Kapitalismus, wohl aber eine Kulturalisierung der Ökonomie im Sinne einer Kopplung von kulturellen Orientierungen und am Markt gehandelten Gütern.
Als Historiker gibt es genügend Gründe für Skepsis gegenüber solchen weit reichenden Thesen. Zwar ist die Zunahme von Wohlstand und Wissen in Westeuropa seit den 50er Jahren gut belegt, so dass es plausibel erscheinen mag, dass Konsumenten heute mehr denn je in der Lage sind, informierte Entscheidungen zu treffen und es sich leisten können, moralische Kriterien in Anschlag zu bringen. Dagegen spricht aber, dass es in der Konsumgeschichte (zumindest in der Neuzeit) keine Periode gab, in der der Konsum nicht in irgendeiner Form moralisch aufgeladen worden wäre. Die Konsumkritik ist im Prinzip so alt wie der Konsum selbst. Im 18. Jahrhundert war es die Kritik an "Luxus" und Mode, die moralisierend wirkten. Im 19. Jahrhundert versuchte die Konsumvereinsbewegung, der kapitalistischen Ökonomie eine moralisch bessere Alternative entgegen zu setzen. Um 1900 war die Kritik an den Warenhäusern sehr verbreitet, in den 50er Jahren geriet die Werbung in den Fokus der Kritiker (z.B. Vance Packard). Die Beispiele ließen sich vermehren.
Eines scheint allerdings bemerkenswert an den "Fair Trade"-Initiativen, nämlich dass hier die Vorstellung vom "gerechten" oder "fairen" Preis wieder aufersteht. Diese Vorstellung wurde lange Zeit mit der "moralischen Ökonomie" der Unterschichten (E.P. Thompson) um 1800 verbunden, die als Gegenmodell zur liberalen Ökonomie fungierte. In den Konsumentenprotesten um 1800, so Thompson, versuchten die Unterschichten einen ihnen gerecht erscheinenden Preis durchzusetzen, indem sie unter Androhung oder Ausübung von Gewalt Händler zwangen, ihre Waren billiger zu verkaufen. Spätestens um 1850, so die Erkenntnisse der Protestforschung, spielten aber diese Vorstellungen eigentlich keine Rolle mehr, und dass Preise auf Märkten durch Angebot und Nachfrage gebildet wurden, war allgemein akzeptiert (ausgenommen natürlich die sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften des 20. Jahrhunderts). Auch in der Zwangsbewirtschaftung des Ersten Weltkriegs sprach man weniger von einem "gerechten" als vielmehr von einem "angemessenen" Preis.
Dass seit den 1970er Jahren durch die Dependenztheorie die Lehre vom "gerechten Preis" ihre Wiederauferstehung feierte, ist schon bemerkenswert. Leider wird der nahe liegende Vergleich zur "moralischen Ökonomie" um 1800 von den meisten Autoren nicht gezogen. Der Unterschied besteht offensichtlich darin, dass in den Konsumentenprotesten um 1800 der "gerechte" Preis ein niedrigerer als der Marktpreis war, während sich die Anstrengungen der "Fair Trade"-Initiativen darauf richten, einen höheren als den Marktpreis durchzusetzen. Interessant wäre es, einmal der Frage nachzugehen, ob und in welcher Form sich Vorstellungen eines "gerechten Preises" auch in der Zwischenzeit (von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) hielten.