Donnerstag, 3. September 2015

Gesunde Ernährung

Gesunde Ernährung ist wieder aktuell im Fokus der Aufmerksamkeit, und das hat einen einfachen Grund: In den USA werden die Ernährungsrichtlinien (http://health.gov/dietaryguidelines/2015-scientific-report/pdfs/scientific-report-of-the-2015-dietary-guidelines-advisory-committee.pdf) überarbeitet. Sie erscheinen alle fünf Jahre, und die diesjährige Ausgabe ist in gewisser Weise revolutionär, denn sie lässt stillschweigend frühere Empfehlungen fallen, die lange als wegweisend galten. Zum Beispiel wird es keine Empfehlung mehr hinsichtlich des u.a. in Eiern vorkommenden Cholesterins mehr geben. Auch soll keine Obergrenze für den Konsum von Fett im allgemeinen mehr angegeben werden (http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=2338262). Die Bedeutung von Salz, das gleichfalls für Bluthochdruck und damit zusammenhängende Krankheiten verantwortlich gemacht wird, ist ebenfalls umstritten (http://www.washingtonpost.com/news/wonkblog/wp/2015/04/06/more-scientists-doubt-salt-is-as-bad-for-you-as-the-government-says/). Allerdings empfehlen die Richtlinien weiterhin, weniger Fleisch und Zucker zu sich zu nehmen, mehr Obst und Gemüse, und weniger gesättigte Fettsäuren. Die Empfehlungen haben in den USA hohe Wellen geschlagen, so dass mittlerweile auch methodische Fragen über das Zustandekommen der Richtlinien diskutiert werden.

Die Rücknahme von Empfehlungen, die teilweise seit Jahrzehnten propagiert wurden, wirft kein gutes Licht auf die Ernährungswissenschaft. Sicher, Wissenschaft lebt davon, dass Irrtümer korrigiert werden, aber offenbar standen viele frühere Empfehlungen auf recht dünner empirischer Grundlage. Es bleibt zu hoffen, dass sich das ändert. Das Problem besteht, anders als Detlef Briesen in seinem ansonsten lesenswerten Buch über "Das gesunde Leben" (Frankfurt 2010, S. 11f.) behauptet, nicht darin, dass Wissen und Handeln auseinander klaffen, sondern es ist eben auch ein genuines Problem der Verlässlichkeit von Expertenwissen. Aus (konsum)historischer Sicht ist zu fragen, ob es sich dabei um ein modernes Phänomen der "Wissensgesellschaft" handelt, die eben durch die ständige Produktion von Wissen auch Unsicherheit mitproduziert, da unter Experten häufig in wichtigen Fragen kein Konsens herrscht. So könnte es scheinen, doch ist die Diskussion über positive und negative Folgen von Nahrungs- und Genussmitteln ist doch schon sehr viel älter. In gewisser Weise erinnert die Diskussion an den Streit der medizinischen Experten des 17. und 18. Jahrhunderts über die neuen Genussmittel Kaffee, Tee, Tabak und Schokolade. Auch hier gab es Verfechter ihrer Wirksamkeit gegen bestimmte Leiden als auch Warnungen vor ihren gesundheitsschädlichen Wirkungen (etwa dass häufiges Rauchen das Hirn einräuchere und austrockne, oder dass Kaffee Impotenz, Hämorrhoiden und hysterische Nervenzustände verursache). Der Schriftsteller Georg Carl Claudius konstatierte 1784 nüchtern, dass die Ansichten über Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Kaffeekonsums sich einander widersprächen ("Über seinen Nutzen sowohl als über seine Schädlichkeit sind die Aerzte nicht übereinstimmend", Leipziger Taschenbuch für Frauenzimmer 1784, S. 131). Ganz ähnlich klang ein Artikel in der "Washington Post" von 1984, der (am Beispiel von Fischöl) beklagte, es sei eine Schande, dass wir Konsumenten immer gerade dazu gedrängt werden, etwas in großen Mengen zu essen, das wir uns gerade unter großen Leiden abgewöhnt hatten (Washington Post 1984).

Die Schlussfolgerung daraus kann aber nicht sein, dass wissenschaftliche Empfehlungen generell sinnlos sind und daher ignoriert werden können. Damit würde man es sich zu einfach machen. In Zukunft sollten sich aber Ernährungsempfehlungen insofern an der antiken Diätetik orientieren, als sie nicht allein auf die Aufnahme bestimmter Stoffe (Zucker, Salz, Fett etc.) abstellen, sondern zum einen die gesamte Lebensweise in den Blick nehmen und zum anderen nach Personengruppen differenzieren. Was für den einen schädlich ist, kann für den anderen gesund sein. Die antike Diätetik verwendet hierfür den Begriff des "rechten Maßes", das aber individuell durchaus unterschiedlich sein konnte. Zur Diätetik gehörten neben Essen und Trinken auch Licht und Luft, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Stoffwechsel und Gemütsbewegungen.