Alle Jahre wieder erheben sich um diese Jahreszeit Stimmen, die gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes protestieren, so z.B. Papst Benedikt an Weihnachten 2011 (http://www.welt.de/politik/ausland/article13783893/Papst-kritisiert-Kommerzialisierung-von-Weihnachten.html), oder der orthodoxe Patriarch Kyrill zum orthodoxen Weihnachtsfest 2014 (http://de.ria.ru/society/20140107/267606077.html), oder der Volkskundler Hartmut Heller (http://www.sueddeutsche.de/panorama/weihnachten-der-kommerz-zerstoert-die-vorfreude-1.670559). Diese Kritik, und das allein sollte schon stutzig machen, geht einher mit der Romantisierung der "guten alten Zeit", in der das Weihnachtsfest angeblich vorrangig der Besinnlichkeit oder der Religion diente. Unklar ist aber, wann diese Zeit war: vor einigen Jahrzehnten oder im vorletzten Jahrhundert? Sicher, man kann diese Kritik als bloßen Kulturpessimismus abtun, aber sie ist deswegen interessant, weil sie die Frage nach dem Beginn der modernen Konsumgesellschaft aufwirft. So betont beispielsweise Sophie Jackson in ihrem Buch über das mittelalterliche Weihnachtsfest (The Medieval Christmas, New York: The History Press 2013), dass im Mittelalter das Weihnachtsfest ganz ähnlich gefeiert wurde wie heute: man tauschte Geschenke aus, sang Weihnachtslieder, aß ein besonderes Festessen, dekorierte das Haus etc. Heißt das in der Konsequenz, dass das kommerzialisierte Weihnachtsfest und mit ihm die moderne Konsumgesellschaft bereits im Mittelalter angelegt war?
Die Frage verweist natürlich auf die Rolle der Geschenke zu Weihnachten. Hierauf wird zurückzukommen sein. Aber zunächst lässt sich die Frage stellen, wie kommerziell bedeutsam unser Weihnachtsfest überhaupt ist. Sicher, manche Waren (v.a. Spielwaren) werden hauptsächlich zur Weihnachtszeit gekauft. Aber der Anteil des Weihnachtsgeschäfts (definiert als Anteil des Umsatzes in den Monaten November und Dezember am Jahresumsatz) liegt für den gesamten Einzelhandel bei ca. 18 % (https://www.destatis.de/DE/Startseite.html?nsc=true&https=1). Das ist nur wenig mehr als ein Sechstel (16,7 %), der Anteil, der bei einer Gleichverteilung der Umsätze im Jahresverlauf zu erwarten wäre. Insofern wirken Behauptungen, das Weihnachtsfest sei der Motor der Konsumgesellschaft (oder ähnliches) doch ein wenig übertrieben.
Die historisch interessantere Frage ist aber die nach der Entwicklung des Weihnachtsfestes. Unbestritten ist, dass der Austausch von Geschenken bereits im Mittelalter dazu gehörte, wenn auch eher zum Nikolausfest am 6. Dezember. Allerdings ist die Frage, um was für Geschenke es sich handelte und ob sie einen so zentralen Stellenwert inne hatten wie heute. In der Tat argumentiert z.B. William Waits, Geschenke (in den USA) seien vor 1880 selbst gemacht gewesen und nicht gekauft. Andere Historiker datieren den Wandel etwas eher, beispielsweise auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (Stephen Nissenbaum). Sicher ist dagegen, dass es schon Mitte der 19. Jahrhunderts eine Kritik am angeblich zu kommerziellen Charakter von Weihnachten gab. Häufig wird behauptet, Geschenke vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, oder sogar noch später, hätten sich im Wesentlichen auf Naturalien beschränkt, aber das ist wenig plausibel, da die (vorindustrielle) Spielwarenproduktion im 18. Jahrhundert einen großen Aufschwung nahm. Es wäre verwunderlich, wenn diese Spielwaren nicht auch als Weihnachtsgeschenke verwendet worden wären.
Eine interessante Quelle, die Aufschluss über Weihnachten vor der Geburt der modernen Konsumgesellschaft im 18. Jahrhundert gibt, ist ein Buch von Johannes Praetorius mit dem Titel "Saturnalia" oder "Weihnachts-Fratzen" von 1663 (https://books.google.de/books?id=UOVOAAAAcAAJ&printsec=frontcover&dq=johannes+praetorius+saturnalia&hl=de&sa=X&ei=caGMVM6YE4T7UqLCgZgK&ved=0CDAQ6AEwAA#v=onepage&q&f=false). Dort kritisiert der Autor die 50 populärsten Weihnachts-Irrtümer seiner Zeit, u.a. die Auffassung, die Ruten zu Weihnachten seien Spielwaren und Geschenke für Kinder. Hier wird einerseits deutlich, dass das Schenken von Spielsachen nichts Außergewöhnliches war. Andererseits jedoch beschäftigt sich der größte Teil des Buches mit anderen Fragen, nämlich v.a. mit populärem Aberglauben. Durch viele verschiedene Rituale versuchten die Mitteleuropäer der damaligen Zeit, an Weihnachten etwas über die Zukunft, sei es die nähere oder die fernere, herauszufinden. Dieser Aspekt ist bei uns fast völlig verloren gegangen, mit Ausnahme des Bleigießens zu Silvester.
So gesehen spricht vieles für die Hypothese, dass das moderne Weihnachten ein säkulares Fest ist, in dem der Konsum (durch den Austausch von Geschenken oder durch aufwendiges Festessen) im Vordergrund steht. Aber der Konsum tritt weniger an die Stelle der Religion als an die des Aberglaubens. Weihnachten hatte lange Zeit auch eine "dunkle" Seite, die heute weitgehend vergessen ist. Der Weihnachtsmann (oder Nikolaus oder Christkind oder Haus-Christ) brachte nicht nur Geschenke, sondern auch Ruten und bestrafte die unartigen Kinder. Und in manchen Familien wurden mit Hilfe von Salzhäufchen versucht herauszufinden, welches Familienmitglied im nächsten Jahr sterben würde. Diese Seite wurde seit der Aufklärung bekämpft, und das Ergebnis war eine weit gehende Reduktion des Festes auf den Austausch von Geschenken. Wer das bedauert, sollte sich bewusst sein, dass das traditionelle Weihnachten einer ganz anderen, mit Magie erfüllten Lebenswelt angehörte, die heute kaum zu reproduzieren ist. Eine interessante Untersuchung zur Sicht der Konmsumenten auf Weihnachten findet sich übrigens hier: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cb.40/abstract;jsessionid=06FF18C1563AE6C1C02D3B31F58A53ED.f02t04.