Hinzu kommt, dass die 50er und 60er Jahre in Europa eine besondere Epoche der Umweltgeschichte waren. Zwar waren Umweltbelastungen im politischen Diskurs noch kaum ein Thema, und die moderne Umweltbewegung entsteht (in Europa) erst in den 70er Jahren. Aber die Grundlage hierfür schufen die teils massiven Umweltbelastungen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Besonders die 50er Jahre gelten in der Umweltgeschichte als Einschnitt: Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister spricht vom "1950er-Syndrom". Insbesondere der Energieverbrauch, aber auch der Verbrauch von Ressourcen im Allgemeinen, stieg in dieser Zeit massiv an. Nicht zuletzt die durchgreifende Modernisierung der Landwirtschaft sorgte dafür, dass sich die Landschaft in Westeuropa nach Meinung mancher Umwelthistoriker seit 1950 stärker veränderte als in den tausend Jahren zuvor.
Pfister führt diese Zäsur auf das Vorhandensein billiger fossiler Brennstoffe (Kohle und zunehmend Öl) in dieser Zeit vor dem ersten Ölpreisschock zurück. Energie war sicher ein wichtiger Faktor, aber er war nicht allein entscheidend. Vielmehr waren die Umweltprobleme die logische Folge des Wirtschaftswachstums und Massenkonsums in einer Zeit, in der man sich über ökologische Folgeprobleme noch nicht allzu viele Gedanken machte. Das soll im Folgenden an ein paar Beispielen demonstriert werden.
Hinsichtlich der Luftverschmutzung ist es wichtig zu wissen, dass der Wirtschaftsaufschwung der 50er und 60er Jahre energietechnisch auf fossilen Brennstoffen beruhte. Vor allem die 50er Jahre sahen noch einmal eine Renaissance der Kohle, auch wenn die Höchstwerte der Kohlenförderung in Großbritannien nicht mehr erreicht wurden.
Um 1960 wurde die Kohle mehr und mehr vom Öl als Primärenergieträger abgelöst. Der Ruhrbergbau geriet nach rascher Expansion nach dem Krieg ca. 1957/58 in eine schwere Strukturkrise ("Zechensterben"), die im Prinzip bis heute anhält. In der Tat war Öl bis zu den Ölpreisschocks der 70er Jahre ein billiger Rohstoff. Investitionen in verbrauchsparende Innovationen rentierten sich unter diesen Verhältnissen kaum.
Quelle: chartsbin.com
Die Kohlenfeuerung führte in Großbritannien zu einer der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, nämlich dem großen Smog von London im Dezember 1952. London war zwar eine Industriestadt, aber die Hauptursache für den Smog war der Hausbrand. Erst das Luftreinhaltegesetz von 1956 (Clean Air Act) sorgte durch das Verbot der Kohlefeuerung in bestimmten Zonen für eine Umstellung auf Öl (oder Elektrizität). Im Dezember 1952 war die Londoner Luft so schlecht, dass man teilweise die Hand kaum vor den Augen sehen konnte. Es wird geschätzt, dass der Smog (aufgrund des hohen SO2-Gehaltes) ca. 4.000 Todesopfer forderte.
Hier eine interessante Website zum Weiterlesen vom britischen Wetteramt:
http://www.metoffice.gov.uk/education/teens/case-studies/great-smog
Die Luftqualität in den Ballungsräumen verbesserte sich seit den 60er Jahren stetig. Das lag nicht nur an der Umstellung von Kohle auf Öl, sondern auch daran, dass die Industrie mehr und mehr von den Stadtzentren in die Randgebiete verlagert wurde. Wirksame Begrenzungen der Emissionen gab es freilich kaum, vielmehr setzte man bis in die 80er Jahre auf eine Politik der hohen Schornsteine. So sollten die Schadstoffe besser verteilt werden. Es dauerte lange, bis sich das Prinzip der Vermeidung (statt Verteilung) von schädlichen Emissionen durchsetzen sollte.
Eine weitere Entwicklung in den 50er und 60er Jahren, die gravierende ökologische Konsequenzen hatte, war die Modernisierung der Landwirtschaft. Die Flächenerträge stiegen sprunghaft an, und selbst ein Industrielnd wie Großbritannien wurde von einem Importeur von Agrarerzeugnissen zu einem Exporteur. Möglich war das durch verschiedene Entwicklungen: die Flurbereinigung, die Mechanisierung der Landwirtschaft v.a. durch den Einsatz von Traktoren, die massenhafte Anwendung von Kunstdünger und Pestiziden. Die positive Wirkung von Kunstdünger war zwar schon im 19. Jahrhundert bekannt. Lange Zeit war es aber kostengünstiger, natürlichen Dünger aus Übersee zu importieren (v.a. Guano aus Peru).Erst die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens (1909) zur Ammoniaksynthese löste das Problem, wie der in der Luft vorhandene Stickstoff dem Kunstdünger beigegeben werden kann.
Wie man in der Grafik erkennen kann, stieg der Düngemitteleinsatz bis in die 70er Jahre hinein an, stagnierte dann auf hohem Niveau und fiel später wieder ab. Ein Grund für die rückläufige Tendenz war die Erkenntnis, dass mehr Düngemittel nicht unbedingt förderlich für den Ertrag sind, sondern ab einer gewissen Grenze sogar kontraproduktiv sein können. Außerdem war der Düngemitteleinsatz in Europa (und besonders in Deutschland) höher als beispielsweise in den USA oder der UdSSR, was damit zusammen hängt, dass in den beiden letztgenannten Ländern die Betriebsflächen größer waren, so dass hier die Mechanisierung eine wichtigere Rolle spielte, während die Agrarpolitik in Europa lange Zeit am Idealbild des bäuerlichen Kleinbetriebes festhielt.
Das Problem an der Verwendung des Kunstdüngers ist, dass nur ca. die Hälfte davon tatsächlich dort verbleibt, wo er wirken soll, nämlich im Boden. Die andere Hälfte wird ausgewaschen und landet in Gewässern, in Flüssen, Seen und Meeren. Dort führt er zur Überdüngung und Eutrophierung. Im Extremfall kann in dem betroffenen Gewässer (v.a.in Seen, in denen kein Wasseraustausch stattfindet) alles Leben durch Sauerstoffmangel aussterben. In der Regel weist eine verstärkte Algenblüte auf Eutrophierung hin. Eine solche Algenblüte trat beispielsweise 1969 (und später immer wieder) in der nördlichen Adria auf.
Eutrophierung war aber nicht das einzige Problem. Die Mechanisierung führte zur Bodenverdichtung, welche tendenziell Bodenerosion begünstigte. Die Flurbereinigung führte zur Vernichtung von Lebensraum vieler Arten. Insektizide wie DDT reicherten sich in der Nahrungskette an und gefährdeten die Tierwelt sowie letztlich auch den Menschen, der am Ende der Nahrungskette steht. Diesen Zusammenhang decke Rachel Carson 1962 in ihrem Buch "The Silent Spring" (Der stumme Frühling) auf und bewirkte damit eine große Debatte über Insektizide. In den USA und den meisten Ländern Westeuropas (nicht aber Osteuropas und der "Dritten Welt") wurde die Verwendung von DDT in den 70er Jahren verboten.
Ein weiteres Umweltproblem, das erst mit dem modernen Massenkonsum entstand, war das des PKW-Verkehrs. Das Auto ist dabei nicht nur Verursacher von Luftverschmutzung, sondern Teil eines komplexen sozio-technischen Systems, das Infrastruktur wie Autobahnen, Straßen und Tankstellen umfasst, aber auch die Stadt- und Regionalplanung stark beeinflusst hat. Die "autogerechte Stadt" wurde seit Ende der 50er Jahre allen Ernstes zum stadtplanerischen Leitbild erhoben. Das Auto hat einen enormen Flächenverbrauch und die Produktion verschlingt große Ressourcen. Für die Luftverschmutzung in Ballungszentren ist mittlerweile das Auto, nicht die Industrie oder der Hausbrand, der bestimmende Faktor geworden. Für den Klimawandel spielt der CO2-Ausstoß durch PKW eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Vergleich verschiedener Verkehrsträger schneidet nur das Flugzeug schlechter ab als der PKW, wie die folgende Grafik illustriert.
Quelle: Umweltbundesamt
Man muss zusätzlich in Rechnung stellen, dass die Autos in den 50er und 60er Jahren wesentlich weniger umweltfreundlich waren als heute. So war 1923 in den USA verbleites Benzin auf den Markt gekommen, das half, das Klopfen des Motors zu verhindern. Verbleites Benzin verbreitete sich daraufhin schnell auch außerhalb der USA und vergiftete die Umwelt mit Blei. Erst als in den 70er Jahren erhöhte Bleiwerte im Blut vieler Menschen festgestellt wurden, setzte ein Umdenken ein. In den USA setzte sich bleifreies Benzin seit den späten 70er Jahren durch, in Westeuropa in den 80ern.
Eine moderne Umweltbewegung existierte in Westeuropa in dieser Zeit noch nicht. Allerdings hatte schon um 1900 ein traditioneller Natur- und Landschaftsschutz vor allem in Deutschland Einzug gehalten. Inspiriert war er von der Idee der schützenswerten "Naturdenkmäler" des Botanikers Hugo Conwentz. Hier spielten ästhetische Kriterien nicht selten eine wichtige Rolle. Der moderne Umweltschutz verdankt sich hingegen der Ökologie, einem Teilgebiet der Biologie, das die komplexen Zusammenhänge zwischen biologischen Arten und ihren Lebensräumen in den Blick nimmt. Solche Zusammenhänge wurden beispielsweise von Rachel Carson thematisiert, die zur Gründungsfigur der US-amerikanischen Umweltschutzbewegung wurde.