Mittwoch, 1. Juli 2015

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Einwanderung und Integration

Die Zuwanderung der letzten ca. 50 Jahre hat die europäischen Gesellschaften sicher stärker verändert als viele andere Prozesse. Gleichzeitig handelt es sich hier um den vielleicht auffälligsten Teil der Globalisierung, der immer wieder politische Diskussionen bis hin zu Parteigründungen, gewalttätigen Ausschreitungen und sogar Terrorismus hervor ruft. Ziel der folgenden Ausführungen soll es daher sein, die Debatte zu versachlichen.

Migrationen hat es in der Geschichte immer gegeben, und dennoch waren die Migrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Neues, jedenfalls für Europa. Viele europäische Länder wie Deutschland und Italien waren lange Zeit eher Auswanderungs- als Einwanderungsländer gewesen. Die Arbeitsmigration in der klassischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war doch weitgehend eine inner-europäische Angelegenheit gewesen: Iren gingen nach England, Italiener nach Österreich oder Polen nach Deutschland. Ähnliche Migrationsmuster von der europäischen Peripherie zu den Zentren gab es zwar auch nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem von Süd- nach Nord- und Mitteleuropa (von Italien in die Schweiz, nach Deutschland oder Frankreich; von Irland nach England; von Finnland nach Schweden; von Jugoslawien nach Deutschland etc.), aber es waren doch schon seit den 50ern und verstärkt seit den 60ern auch außer-europäische Zuwanderer aus Asien, Afrika oder der Karibik nach Europa gekommen. Mit Ausnahme von Großbritannien und teilweise Frankreich waren die meisten Zuwanderer Arbeitsmigranten, die durch Anwerbeverträge ins Land geholt wurden, als Arbeitskräftemangel herrschte. Lange Zeit gingen sowohl die Einheimischen als auch die Immigranten davon aus, dass es sich hier nur um eine temporäre Migration handeln würde, und die Immigranten nach wenigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden (was viele auch taten). Das führte dazu, dass sich viele europäische Gesellschaften trotz faktisch bedeutender Zuwanderung nicht als Einwanderungsländer definierten. Großbritannien bildet insofern eine Ausnahme, als hier nach dem Zweiten Weltkrieg die postkoloniale Migration, d.h. die Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien, dominierte, die bis 1962 rechtlich problemlos möglich war.

Migrationsströme, ca. 1950-80


In den späten 60er und frühen 70er Jahren gingen mehrere europäische Staaten dazu über, die Einwanderung zu beschränken: Großbritannien schon 1962, 1968 und 1971, die Schweiz 1970, Schweden 1972, die Bundesrepublik 1973, Frankreich und die Benelux-Länder 1974. Dadurch änderte sich der Charakter der Zuwanderung. Nach 1970 kamen primär  Migranten aus EG-Staaten (die nach wie vor Freizügigkeit genossen), Flüchtlinge (die unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention standen) und Familienangehörige der bereits Eingewanderten nach Europa. In einigen Ländern, z.B. Italien und Frankreich, spielt auch die illegale Zuwanderung eine bedeutende Rolle. Anders als vor 1970 handelte es sich hier meist um Zuwanderung, die auf Dauer angelegt war.

Der Ausländeranteil wuchs in fast allen Ländern und lag 2004 meist zwischen 5 und 10 % der Bevölkerung (siehe Karte). Den höchsten Ausländeranteil in Westeuropa hat (außer Luxemburg) die Schweiz mit heute ca. 23 %. Hierbei ist aber zu beachten, dass nicht alle Einwanderer Ausländer sind. Das Staatsbürgerschaftsrecht variiert stark von Land zu Land sowie über den Zeitverlauf. Traditionell war es in Frankreich liberaler als in Deutschland, so dass dort viele Zuwanderer vor allem der zweiten Generation die französische Staatsangehörigkeit besitzen. Hinzu kommt, dass die illegale Einwanderung hier nicht erfasst ist.


Die Karte zeigt auch, dass in den meisten Ländern die Mehrheit der Ausländer aus Nicht-EU-Staaten stammt. Die Herkunft der Immigranten ist in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich. In Großbritannien dominieren asiatische Herkunftsländer wie Indien, Pakistan, Bangladesh sowie karibische (Jamaika) und schwarzafrikanische Länder. In Frankreich kamen die Einwanderer aus Nordafrika (Algerien, Marokko), aber auch aus Italien und Portugal. In Deutschland kamen viele Zuwanderer aus der Türkei, Jugoslawien und Italien, nach 1990 auch aus Osteuropa. Italien selber wurde erst in den 80er und 90er Jahren zum Einwanderungsland, als viele Menschen aus Afrika und Südosteuropa einwanderten.

Die Einwanderer konzentrieren sich überwiegend in den großen Städten und sind daher stärker sichtbar als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Konzentration in bestimmten Stadtvierteln zeigt beispielsweise ein Projekt, das Karten mit den häufigsten Nachnamen in Großbritannien (Stand 2007) dargestellt hat (die Abbildung zeigt London).


Die Integration der Zuwanderer wird häufig in Medien und vor allem von rechtspopulistischen Parteien sehr negativ dargestellt. Da ist die Rede von islamischen "Parallelgesellschaften", von Arbeitslosigkeit, Extremismus und Gewalt. Die Realität ist komplexer. Die Situation der Einwanderer unterscheidet sich von Land zu Land und Gruppe zu Gruppe, ja selbst innerhalb einer Gruppe (beispielsweise Türken in Deutschland) existieren große Unterschiede. Richtig ist allerdings, dass die Arbeitslosigkeit unter Ausländern (oder auch unter den im Ausland geborenen) in der gesamten EU höher ist als die Arbeitslosigkeit unter Inländern, häufig doppelt so hoch. Das betrifft nicht nur, aber insbesondere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten.


Die höhere Arbeitslosigkeit unter Ausländern lässt sich zum Teil mit deren im Schnitt geringerer Bildung erklären. Viele der Arbeitsmigranten, die in den 60er Jahren angeworben wurden, hatten nur geringe Bildung und verrichteten ungelernte Arbeit. Menschen mit geringer Bildung sind aber überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommen andere Faktoren wie das Alter, die einen Teil der höheren Arbeitslosigkeit erklären. Es verbleibt aber ein gewisser ungeklärter Rest, der mit Diskriminierung oder dem Fehlen sozialer Netzwerke zusammenhängen könnte.

Auch in der Bildung schneidet die zweite Generation der Zuwanderer meist unterdurchschnittlich ab. Allerdings ist hier wiederum zu beachten, dass viele aus einem Elternhaus mit niedriger Bildung kommen, und diese (auch bei Inländern) in der Regel mehr Probleme im Bildungssystem haben als Kinder, deren Eltern bereits über höhere Bildung verfügen. Eine Studie schätzt, dass von den türkischen Einwanderern der zweiten Generation ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel Aufwärtsmobilität erleben, also einen höheren Bildungsabschluss und bessere Arbeit haben als ihre Eltern. Noch besser ist die Situation in Großbritannien, wo viele Einwanderergruppen die einheimische Bevölkerung im Bildungserfolg (abgeschlossene Sekundarschulbildung) entweder eingeholt oder bereits überholt haben.


Und was ist mit den viel beschworenen Parallelgesellschaften? Auch hier gilt es zu differenzieren. Die Mehrheit der Zuwanderer hat einen ethnisch gemischten Freundeskreis, nur eine Minderheit lebt in ethnisch homogenen Kreisen. Die Identifikation mit dem Zuwanderungsland ist tatsächlich generell eher schwach ausgeprägt, dafür identifizieren sich aber viele mit der Stadt, in der sie leben. Die Mehrheit der Zuwanderer aus islamisch geprägten Ländern ist religiöser als die meisten Europäer, aber der politische Islam ist wiederum nur für eine Minderheit attraktiv, insbesondere für diejenigen mit geringer Bildung. Islamistische Bewegungen rekrutieren zwar gezielt in den Einwanderervierteln der großen europäischen Städte, sie werden aber nicht von einer populären Welle getragen, sondern die Konversion zum radikalen Islam bringt fast immer einen Bruch mit Familie und Freundeskreis mit sich.

In das Zentrum der Diskussion rücken neuerdings wieder die Flüchtlinge bzw. Asylbewerber in Europa. In der Tat steigen die absoluten Asylbewerberzahlen in den letzten Jahren wieder an, nachdem sie zu Beginn der 90er Jahre einen ersten Höhepunkt erreicht hatten. Damals wurde das EU-Asylverfahren harmonisiert und unter anderem das Konzept des "sicheren Drittstaates" bzw. des "sicheren Herkunftslandes" eingeführt, das die Asylbewerberzahlen stark zurück gehen ließ, da viele Herkunfts- und Transitländer einfach zu sicheren Staaten erklärt wurden, und außerdem die Regel eingeführt wurde, dass Asylbewerber in dem EU-Staat Asyl beantragen mussten, den sie zuerst betraten hatten (Dubliner Übereinkommen 1990).

In absoluten Zahlen nimmt Deutschland die meisten Flüchtlinge auf, in relativen Zahlen jedoch Schweden und die Schweiz. Versuche, innerhalb der EU zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge zu kommen, sind bisher gescheitert. Die Zunahme der Flüchtlingszahl hängt zum Teil mit der gestiegenen Zahl an Konflikten zusammen (z.B. Syrien), zum Teil aber auch damit, dass andere Wege der Immigration mehr und mehr verschlossen wurden, so dass viele Menschen keine andere Chance sehen als das Asylverfahren. Dennoch ist die Zahl der Flüchtlinge gerechnet auf die gesamte Zahl der Ausländer gering: in der EU als Ganzes und in den großen Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland bewegt sich der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzahl der Aufenthaltstitel zwischen 1-5 %. Höher liegt er allerdings in Schweden, wo ca. jeder sechste bis siebte Ausländer ein Flüchtling ist.

Zu erwähnen ist schließlich noch, dass die Sicherung der EU-Außengrenze gegenüber Flüchtlingen nicht nur viel Geld kostet, sondern auch viele Flüchtlinge ihr Leben bei dem Versuch verlieren, nach Europa zu gelangen. Seit 2000 sollen es ca. 29.000 gewesen sein (laut Migrants Files). Die meisten ertranken bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.