Donnerstag, 10. Januar 2019

Von der Arbeitsgesellschaft zur Konsumgesellschaft?

Bisweilen wird behauptet, die Arbeitsgesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sei durch die Konsumgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdrängt oder ersetzt worden. Konsum habe die zentrale identitätsstiftende Stellung eingenommen, die früher die Erwerbsarbeit (oder der Beruf) inne gehabt hätten. So schrieb Wolfgang König in seiner Geschichte der Konsumgesellschaft:

"Im 19. und 20. Jahrhundert fand ein epochaler Wandel in der Menschheitsgeschichte statt: von der Paupertas zur Cupiditas, dem Entbehren zum Begehren, vom Mangel zum Überfluss, von Armut zu Wohlstand, von der Arbeit zur Freizeit, von der Produktion zum Konsum." Dieser Wandel werde durch Begriffe wie Wohlstandsgesellschaft, Überflussgesellschaft, Freizeitgesellschaft oder eben Konsumgesellschaft beschrieben.

In eine ähnliche Kerbe schlug Andreas Wirsching in eine Aufsatz 2011 mit dem Titel From Work to consumption.
 
 Wirsching geht es dabei allerdings weniger um eine strukturgeschichtliche Veränderung, sondern eher um geistesgeschichtliche Entwicklungen. So zeichnet er die wachsende Akzeptanz der Konsumgesellschaft bei westdeutschen Intellektuellen seit dem Zweiten Weltkrieg nach. Dann aber behauptet er, Arbeit sei seit Jahrhunderten in den westlichen Gesellschaften der entscheidende Bestimmungsfaktor individueller Identität gewesen, vor allem durch den Stolz auf bestimmte produktive Fähigkeiten. Erst im 20. Jahrhundert habe sich das geändert: Durch die fordistische Massenproduktion seien die Fähigkeiten der Arbeiter entwertet worden, und gleichzeitig stiegen ihre Löhne (und damit die Kaufkraft) sowie die Freizeit stark an. Die Arbeiter hätten angefangen sich als Konsumenten zu begreifen und der Konsum hätte nicht vollständig, aber doch tendenziell die Arbeit als primäre Determinante der individuellen Identität verdrängt.

Dieser Ansicht hat Peter Paul Bänziger in einem teils polemischen Artikel in den "Zeithistorischen Forschungen" widersprochen. Er argumentiert, dass sich die institutionelle und diskursive Regulierung von Arbeit sich nur langsam durchsetzte, die Rede von einer Arbeitsgesellschaft im 19. Jahrhundert mithin nicht unproblematisch sei. Zudem seien Strukturen der Konsumgesellschaft älter als das "Wirtschaftswunder" und ließen sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. Daraus schließt er, dass Arbeits- und Konsumgesellschaft sich parallel etabliert hätten, also nicht die eine die andere ablöste.

Wer hat nun Recht, und was lässt sich aus dieser Kontroverse (wenn es denn eine ist) lernen? Zunächst: Bänziger spricht von Strukturen der Arbeits- oder Konsumgesellschaft, Wirsching von Arbeit und Konsum als Bestimmungsfaktoren individueller Identität. Das ist ganz offensichtlich nicht dasselbe. Bänziger hat Recht, wenn er schreibt, dass zumindest bestimmte Elemente der Konsumgesellschaft älter sind als 1945, und umgekehrt die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts (oder davor) nicht ohne weiteres pauschal als Arbeitsgesellschaften klassifiziert werden können. Die Realität ist komplizierter, auch wenn Wolfgang König und andere zurecht auf den Anstieg der Freizeit im 20. Jahrhundert verweisen. Andeas Wirsching macht es sich hier etwas zu einfach, wenn er pauschal für alle Gesellschaften vor 1900 die primäre Bedeutung der Arbeit für die Identitätsbildung postuliert. Ob sich die Arbeitsgesellschaft, wie Bänziger behauptet, erst im 20. Jahrhundert herausbildete, ist schwer zu beurteilen, da er keine Definition von Arbeitsgesellschaft anbietet.

Ist also in dieser Hinsicht der Kritik von Bänziger an einer allzu einfachen Abfolge von Gesellschaftsmodellen zuzustimmen, so muss doch auf der anderen Seite bemerkt werden, dass der Punkt keineswegs neu ist. Der Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum wurde bereits mehrfach thematisiert und differenziert erörtert, übrigens auch von Wolfgang König. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die These von Jan de Vries bemerkenswert, der den Aufstieg der Konsumgesellschaft im 18. Jahrhundert mit der "industrious revolution" (Revolution des Fleißes) erklärt hat. Der gestiegene Konsum von nicht unbedingt notwendigen Gütern (Genussmitteln, Möbeln u.a.) ist nach dieser These nicht auf steigende Reallöhne zurückzuführen, sondern auf die Ausweitung der Heimarbeit. Durch die Mehrarbeit von Frauen und Kindern stieg das Familieneinkommen. Die These ist nicht unumstritten, aber sie zeigt doch, dass Konsum und Produktion aufeinander verweisen.

Was ist nun mit der spezifischeren Behauptung, der Konsum habe die Arbeit als wichtigsten Faktor individueller Identität angelöst? Hier hat man für vergangene Zeiten ganz offensichtlich ein Quellenproblem. Meine Vermutung ist, dass es hier große Unterschiede gibt. Wirsching hat für das 19. Jahrhundert offenbar eher qualifizierte Handwerker oder Facharbeiter im Blick, aber was ist mit der großen Masse ungelernter Arbeiter oder Bauern? Wie ist es mit Frauen, die in Heimarbeit tätig waren? Hier wissen wir noch viel zu wenig.

Was die heutige Zeit angeht, so haben wir immerhin Umfrageergebnisse. Glaubt man dem World Values Survey, so geht die Bedeutung der Arbeit für die Menschen keineswegs zurück. In Deutschland erklären heute (2010-14) ca. 80 % der Befragten, die Arbeit sei ihnen "sehr wichtig" oder "ziemlich wichtig" im Leben. Diese Werte haben sich gegenüber dem Zeitraum 1989-93 nicht verändert. Zwischenzeitlich (2005-09) war der Anteil der Befragten, die die Arbeit sehr wichtig fanden, sogar etwas angestiegen.

Abschließend noch eine methodische Bemerkung. Forschungskontroversen sind gut und wichtig, denn sie helfen, Standpunkte zu klären und wichtige Themen in den Mittelpunkt zu rücken. Aber es wäre doch zu wünschen, dass die Debatte auf einem höheren Niveau geführt wird. Hier ist noch viel Luft nach oben. Die bisherige Dominanz pauschaler Behauptungen oder das Operieren mit undefinierten Begriffen sind ebenso wenig hilfreich wie der Mangel an empirischen Belegen oder die verzerrte Darstellung des Forschungsstandes.😒



Freitag, 21. Dezember 2018

Weihnachtsgeschenke

Jedes Jahr zur Weihnachtszeit beschäftigen sich viele, wenn nicht die meisten, mit der Frage des richtigen Weihnachtsgeschenks. Daher hier ein kurzer Beitrag zur Geschichte der Weihnachtsgeschenke.


Weihnachten in Norwegen 1957: Es gibt eine Mundharmonika, eine Taschenlampe, Malutensilien und Bücher (Quelle: Wikimedia Commons / Riksarkivet, Oslo)





Wie ich bereits in einem früheren Blog-Beitrag schrieb, war der Austausch von Geschenken bereits im Mittelalter üblich. Eine Bescherung gab es aber erst seit dem 16. Jahrhundert, schreibt Alexander Tille in seiner "Geschichte der deutschen Weihnacht". Bis dahin tauschten Erwachsene Geschenke untereinander aus. Um 1400 schenkte man sich etwas "Angenehmes, Wohlschmeckendes und Süßduftendes". Im 16. Jahrhundert entsteht die Kinderbescherung aus den älteren Weihnachtsumzügen. Die Geschenke werden nicht auf einem Tisch ausgebreitet, sondern der heilige Martin, der heilige Nikolaus oder der heilige Christ bringen sie in einem Bündel zusammen mit der Christrute. Durch die Zurückdrängung der Weihnachtsumzüge im 17. und 18. Jahrhundert wird Weihnachten allmählich zum Familienfest.
Was war nun in den Bündeln? Ein Pfarrer aus Wolkenstein in Sachsen schrieb 1572, die Bündel enthielten zumeist fünf Arten von Geschenken: erstens Geld, zweitens Nahrungsmittel (Süßigkeiten, Obst, Nüsse), drittens Spielzeug (Puppen u.a.), viertens Bekleidung und fünftens Bücher und Schreibwaren. Das sind sozusagen die klassischen Weihnachtsgeschenke, die je nach Einkommen variiert wurden. Um 1860 erhielten die Kinder im Erzgebirge (damals eine besonders arme Gegend) ein Schreibheft und einige Äpfel.
Mit der aufkommenden Spielwarenindustrie im 18. Jahrhundert mehrte sich die Kritik an zu viel Spielzeug. So schrieb der Merseburger Domherr Julius Bernhard von Rohr 1726,  man solle den Kindern praktische Modelle schenken, die der Bildung des Kindes dienen, und nicht teures und unnützes Spielzeug.
Was sind heute die beliebtesten Weihnachtsgeschenke? Nach einer Umfrage der FOM Hochschule sind die wichtigsten Kategorien: Geschenkgutscheine (51 %), Kosmetik und Körperpflege (44 %), Bücher und Schreibwaren (42 %), Kultur (Konzert, Theater; 42 %), Uhren und Schmuck (40 %), Spielwaren (38 %), Bekleidung (36 %) und Bargeld (32 %). Die Geschenkgutscheine sind im Grunde nur ein modernes Äquivalent von Bargeld. Insofern gibt es eine bemerkenswerte Kontinuität in den Geschenken: Bargeld, Spielwaren, Bekleidung, Bücher und Schreibwaren sind nach wie vor beliebt. Abgenommen hat vor allem die Bedeutung der Nahrungsmittel (nur noch 13 %). Neu hingegen sind Uhren und Schmuck, Kosmetika und Körperpflegeprodukte sowie kulturelle Events. Darin spiegelt sich einerseits der gestiegene Wohlstand (Uhren und Schmuck), andererseits aber auch eine moderne Hinwendung zur Körperpflege, die im 16. Jahrhundert wohl undenkbar gewesen wäre. Was die Beliebtheit von Kultur angeht, so sind hier mehrere Einflussfaktoren ausschlaggebend. Zum einen war es im 16. Jahrhundert natürlich nicht möglich, Theaterkarten zu verschenken, da im Theater bar bezahlt wurde. Zum anderen waren die Eintrittspreise auch recht niedrig, so dass der Theaterbesuch nicht denselben Stellenwert hatte wie heute.

Montag, 10. Dezember 2018

Verbraucherpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Hier der Link zu einer Rezension über Verbraucherpolitik in der Bundesrepublik Deutschland (Kevin Rick):

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29167

Die Konsumgeschichte der Bundesrepublik hat Konjunktur. Nachdem bereits in den 1990er-Jahren erste Überblicksdarstellungen von Arne Andersen oder Wolfgang König erschienen waren, widmeten sich in den letzten Jahren mehrere lesenswerte Monographien (meist Dissertationen) einzelnen Aspekten des Konsums in der frühen oder auch späteren Bundesrepublik, zum Beispiel zu elektrischen Haushaltsgeräten, zu Verbraucherdiskursen oder zu Massenmotorisierung und Tourismus. Relativ wenige Arbeiten thematisierten jedoch den Verbraucherschutz in der Bundesrepublik, und sie beruhten in der Regel auf unzureichender Materialgrundlage. Diese Forschungslücke kann Kevin Rick mit seiner Marburger Dissertation füllen. Er nimmt zum ersten Mal auf der Grundlage von Archivmaterial die Entstehung des westdeutschen „Konsumtionsregimes“ in den Blick, also die Interaktion verschiedener Akteure aus Staat und Zivilgesellschaft bei der Entstehung von Organisationen des Verbraucherschutzes wie der „Stiftung Warentest“ oder der Verbraucherzentralen.

Zum Weiterlesen auf den Link klicken!

Radio

Hier ein Link zu einer interessanten Radio-Sendung über Konsum ("Wie käuflich sind wir?"), die morgen (am 11.12.) in MDR Sachsen ausgestrahlt wird:

https://www.mdr.de/sachsenradio/programm/sendungen/dienstags-direkt-wie-kaeflich-sind-wir100.html

Nachtrag:
Die Sendung ist auch als Podcast verfügbar:

https://www.mdr.de/sachsenradio/programm/sendungen/audio-905458_zc-bb2348be_zs-633b4691.html


Dienstag, 23. Januar 2018

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Globalisierung der Kultur (Literatur, Film, Musik)

Hier die Folien zur Vorlesung:


Anteil der Nummer eins-Hits in der jeweiligen Nationalsprache, 1960-2010


Musikpräferenzen von Jugendlichen (Niederlande, 1980er Jahre)


Dienstag, 16. Januar 2018

Dienstag, 9. Januar 2018

Vorlesung Zeitalter der Globalisierung: Einwanderung und Integration

Hier einige Folien zur Vorlesung:



Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in England einen Realschulabschluss (GCSE) erreichen, dargestellt als Abweichung vom Durchschnitt (0)

Migrationsströme, ca. 1950-80